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Er wachte darüber auf, daß unter den Fenstern die eintönigen, brummelnden Stimmen zweier Erwachsener erklangen. Eine Weile noch lag er unbeweglich. Zunächst hatte er nicht gewußt, ob er noch träumte oder ob er schon wach sei. Aber das gleichmäßige Ticktack der Wanduhr, die gewohnte Alltäglichkeit der Möbel und Einrichtungsgegenstände des Zimmers überzeugten ihn, daß er aufgewacht war. Er lauschte noch ein bißchen auf das durchs Fenster hereintönende Gespräch und hörte, daß man ungarisch sprach, aber ungarisch verstand er nicht. Er hätte sich schon sehr anstrengen müssen, um allein aus der Art des Gespräches etwas zu begreifen.
Dann setzte er sich aufrecht und ließ seine Beine auf den Fußboden herunterbaumeln. Mit gespreizten Fingern fuhr er sich einige Male durch sein zerzaustes Haar und strich es nach hinten. Dann schaute er sich um. Die beiden Betten, in denen sein Vater und seine Mutter schliefen, waren bereits wieder gemacht. Seit er sich erinnern konnte, hing von diesen beiden Betten die abgeschabte, grüne Decke mit den Fransen am Rande herunter. Der Vater war draußen irgendwo bei den Schafen, die Mutter in der Küche. Er hörte sie nebenan schalten und walten.
So saß er lange untätig und unbeweglich. Obwohl er genug geschlafen hatte, fühlte er sich müde und abgespannt, wie fast jeden Morgen. Er war oft krank. Während man die anderen Kinder im Dorfe schon frühmorgens aus dem Bett jagte, durfte er immer schlafen, solange er wollte. Er durfte auch mit dem Anziehen trödeln. Auch jetzt griff er noch nicht nach seinen Kleidern. Er saß nur, leicht seufzend vor Müdigkeit, auf dem Bettrand und sah auf seine beiden Hände herunter, die auf seinen Knien lagen. Dann hob er beide Hände und bewegte die Finger in der Luft, als ob er jemandem drohen wollte. Dann mühte er sich, den Ringfinger seiner ausgespreizten Hand so hin und her und auf und ab zu bewegen, daß die anderen Finger unbeweglich blieben. Verträumt und verwundert blickte er auf seine gelenkigen Finger, – dann ließ er die Hand wieder auf die Knie fallen und stierte vor sich ins Leere. Und seufzte tief. Endlich nach langem Zögern hatte er sich entschlossen:
»Mutti!«
Sofort kam die Antwort von der Küche her:
»Ja, mein Kind, ich komme gleich.«
Im nächsten Augenblick trat auch schon die Mutter ein, eine große, schlanke Frau. Unter der weißen Haube lugte das in der Mitte gescheitelte, glatt gestrichene schwarze Haar hervor. Die Ärmel ihres Kleides waren bis zum Ellenbogen aufgekrempelt. An der Hüfte klingelten die Schlüssel. Kind und Mutter sahen sich mit zärtlich vertrautem Lächeln an.
»Wie fühlst du dich, Putzi? Wirst du dich nicht erkälten?«
»Es ist doch Sommer, Mutti.«
Sie gingen zusammen hinaus in die Küche. Da stand auf einem Stuhl schon das Waschbecken bereit, daneben lag die Seife, über der Stuhllehne hing das Handtuch. Der Junge zog sein Nachthemd über den Kopf, band es wie eine Schürze um seine Hüften und neigte sich folgsam und ergeben über die Schüssel. Er kniff die Augen fest zusammen, damit keine Seife hereinkomme. Fleißig schrubbte die mütterliche Hand sein Gesicht, seinen Hals und seine Schultern. Die seifigen Finger überfielen auch seine Ohren und bohrten sich umständlich in alle Windungen der Muschel. Dazwischen fragte die Mutter:
»Wie geht es dir, Putzi?«
»Wie immer.«
»Bist du noch müde?«
»Ja.«
»Gestern warst du wieder ungehorsam. Hast eine halbe Stunde länger geübt, als du durftest.«
Der Junge sagte nichts, da er nicht sprechen konnte. Das grobe hausgewebte Handtuch rieb seinen Hals und seine Nase. Endlich hatte er das Waschen überstanden. Er lief zurück ins Zimmer. Im Nu erledigte er das Anziehen, schlüpfte in Hemd und Hose, zog die Stiefel einfach auf den nackten Fuß. Unterdessen brachte die Mutter einen Topf Kaffee mit einem Ranft Brot, stellte beides auf den Tisch und begann das Bett des Sohnes zu ordnen.
»Beten, Putzi!«
Doch dieser Ermahnung hätte es gar nicht bedurft. Der Junge kniete schon vor dem Marienbilde, unter dem ein flackerndes Flämmchen durch das rote Glas zwinkerte. Er bekreuzigte sich und sprach die täglichen Gebete: das Vaterunser, das Ave Maria und das Morgengebet. Dieses sprach er besonders gerne. Es enthielt einen Satz »Du, der du mich liebst«. Immer, wenn er betete, beeilte er sich ein wenig, um recht schnell zu diesem Satz zu gelangen. Hier überkam ihn stets eine liebevolle, selige Wärme … Zum Schluß bekreuzigte er sich wieder und setzte sich dann an den Tisch zum Kaffee. In ihm lächelte noch immer die Freude dieses Satzes, – »Du, der du mich liebst« … Er fühlte: hier ist Einer, der ist groß und undurchdringlich und unfaßbar mächtig, Einer, der sich jetzt nur mit mir beschäftigt und mir zuliebe das ganze Weltall für eine Sekunde im Stich läßt, jetzt nur mich liebt, mich, – den Sohn des Adam Liszt in Raiding.
»Trinke den Kaffee hübsch langsam, Putzi, das Klavier läuft dir nicht weg. Jetzt ist es halb acht, bis halb elf Uhr darfst du spielen.«
Die Mutter ging aus der Stube. Er versuchte, brav zu sein, aber seine Gier war größer als sein guter Wille. Mit mächtigen Bissen verschlang er das Brot und trank in großen Schlucken den Kaffee. Er kaute noch, als er schon auf den Klaviersessel geklettert war und den Deckel öffnete. Bis jetzt war er noch müde und matt gewesen, nun kam mit einem Male Leben in ihn. Auf dem Notenständer lag ein Notenheft: »Das wohltemperierte Klavier«. Er schlug das Vorspiel auf. Mit dem Fuße tastete er nach dem Pedal. Dann hielt er die Hände mit gespreizten Fingern hoch und klimperte rasch noch ein bißchen in der Luft. Hastig griff er noch einmal an seine Ohren: es juckte, weil die Mutter etwas Seifenschaum drin gelassen hatte. Dann hielt er die Hände wieder vor sich hin. Aber er schlug noch keine Taste an. Zu schön war die Erwartung dieser Erfüllung. Er schürte in sich förmlich die nahe Wonne und genoß noch, daß dieser großen, großen Freude kein Hindernis mehr gesetzt war. Dann schlug er den ersten Ton an. Im Nu verwandelte sich das Kind. Es schloß die Augen, sein Gesicht begann zu glühen.
Die Noten hätten gar nicht vor ihm zu stehen brauchen, er kannte den ganzen Band auswendig. Jedes Vorspiel, jede Fuge lebte nicht nur im Gedächtnis seines Gehirns, sondern auch in dem seiner Hände. Wie er so ein Stück nach dem anderen spielte, tauchte er mit seinem ganzen Körper in die herrliche Pracht der Töne, gleich einem, der beim Baden in die kühlenden Fluten des Baches taucht. Mit dem Rücken, mit den Schultern fühlte er dieses vollständige Versinken in der Musik. Er neigte den Kopf verzückt zur Seite, ja, bei der Schönheit einer bestimmten Modulation wiegte er ihn hin und her, wie einer, der das Haupt verneinend schüttelt.
Inmitten der zweiten Fuge hielt er plötzlich inne und öffnete die Augen. Er sah herab auf die schwarzweißen Reihen der Tasten, als wollte er ein Geheimnis erforschen. Dann schlug er neugierig ein C an. Langes, verhaltenes Lauschen. Der Klang machte ihm Freude. Er schlug immer wieder denselben Ton an, bald schneller, bald langsamer, dann wieder kräftiger und schwächer, setzte den Fuß auf das rechte Pedal und ließ das C ungehemmt ausklingen. Der Ton, dieses unerhörte Wunder, schwamm langsam in der Luft, klang lange schwingend nach, nahm leise verhallend ab, war aber immer noch hörbar, wurde endlich zum Hauch … noch weniger … und dann war es still … Schweigen, in dem nur noch die ahnende Erinnerung des Tones lebte. Und wieder schlug er kräftig an, ließ den Ton noch einmal anschwellen und langsam ersterben. Er konnte nicht genug bekommen von diesem Wunder, das immer neu und geheimnisvoll blieb.
»Putzi, was klimperst du wieder? Spiele ordentlich!«
Die Stimme der Mutter tönte aus der Küche. Er fuhr zusammen und setzte die Fuge fort, wo er sie unterbrochen hatte, – verschämt lächelnd wie ein erwischter Zuckerdieb.
Nach sechs Vorspielen und sechs Fugen hörte er auf. Auf väterlichen Befehl hatte er dieses Pensum täglich zu üben. Er schloß das Bach-Heft und suchte neue Noten, blätterte in Haydn, Mozart, Beethoven, Händel, Ries und Hummel, – war unschlüssig. Wahllos schlug er ein paar Takte an, improvisierte, spielte schneller als das vorgeschriebene Tempo, – dann blätterte er weiter.
Bei einem Beethoven-Werk, bei der Sonate Opus 10 D-dur hielt er an. Er strich die Seiten glatt. Seine Augen flammten auf vor Freude. Das erste Presto der Sonate begann mit einer Oktave der rechten Hand. Da mußte er an die schmerzlichen Qualen denken, die ihn in früheren Jahren beim Oktavenspielen überfallen hatten. Seine Hand war damals für Oktaven noch zu klein gewesen. Er konnte sich noch so anstrengen, die Spanne vom Daumen zum kleinen Finger umfaßte keine acht Tasten. Nur durch eine List gelang es ihm, in dieser Zeit eine Oktave anzuschlagen: nämlich mit blitzschnell weiterspringender Hand. Als er sieben Jahre alt war, hatte er noch so gespielt. Damals flehte er in heimlichen Gebeten zum lieben Gott, daß seine Hand schneller wachsen möge. Und mehr als einmal ertappte er sich bei dem Gedanken, mit Vaters Rasiermesser die Bindehaut zwischen den Fingern aufzuschneiden. Eine unsagbare Sehnsucht hatte ihn gequält, das, was in den Noten gedruckt stand, nach Belieben spielen zu können. Als er damals das erste Mal eine Komposition von Ries spielte, sah er mit Schrecken, daß die linke Hand eine Dezime fassen mußte. Wie sollte er aber mit seiner schmalen Hand eine Entfernung von zehn Tasten umspannen? Die große Not machte ihn erfinderisch: während er oben die Töne mit der rechten Hand und unten den letzten Ton der Dezime mit der linken anschlug, neigte er sich schnell über die Tasten und drückte mit der Nase den fehlenden Ton nieder. Sein Vater lachte damals schallend, zog ihn auf seinen Schoß und küßte ihn. Aber er selbst lachte nicht. Er haßte seine Unbeholfenheit. Heute, mit zehn Jahren, war die Sache anders. Wenn auch keine Dezime, – eine Oktave konnte er schon spannen. Der Daumen und der kleine Finger seiner Hand spreizten sich in gewaltsamer Anspannung förmlich zu einer waagerechten Linie. Leicht und stolz schlug er die drei D-Töne an, piano, wie vom Komponisten vorgeschrieben, obwohl dieser Umstand das Spiel außerordentlich erschwerte.
Die winzigen Finger liefen mit prahlender Sicherheit über die Tasten. Wenn seine rechte Hand die Melodie der linken abgab und dann wieder zurücknahm, wiegte sich sein Oberkörper schaukelnd hin und her. Beim Krescendo preßte er die Zähne so zusammen, wie wenn er jemanden beißen wollte, und als er zum Tremolo H kam, erzitterte sein ganzer Körper vor Wonne. Von neuem Schwunge beseelt, verfolgte er die Wendungen der Komposition. Beim doppelten Piano streichelte er förmlich die Tasten, dann spielte er wieder frei und erlöst, wie einer, der über eine große, breite Wasserfläche auf einem wackeligen, schmalen Holzsteg sicher hinwegschreitet. Nun war er beim Satz » Largo e maestoso« angelangt. Schon beim zweiten Takte füllten sich seine Augen mit Tränen. Die schmerzlich süßen, schwermütigen Klagen durchdrangen seine ganze Seele mit erhabener Trauer. Während die linke Hand genau, gleich dem Pulsschlag, die Begleitung versah, spielte die rechte mit so unendlicher Dankbarkeit und Hingabe die flehenden Melodien, daß er plötzlich die Hand aufheben mußte, um die Tränen abzuwischen, die kribbelnd über seine Nase rannen. Trotz allem kam er aber nicht aus dem Takt. Gleichmäßig spielte er weiter, noch an den salzigen Tränen schluckend, im geheimen aber schon erfüllt von freudiger Erwartung des folgenden Menuetts.
Dieses Menuett liebte er aus ganzem Herzen. Als er zu spielen begann, paßten sich seine Gesichtszüge sofort dem tieftraurigen Lächeln des musikalischen Motives an. »Ein tieftrauriges Lächeln«, flüsterte er in sich hinein; es war die Bezeichnung, die er sich selber für diese Musik ausgedacht hatte. Plötzlich aber brach er ab und fing von neuem an. Nicht im Spiel lag der Fehler, – mit seinem Mienenspiel war er unzufrieden. Er legte sich einen passenden Gesichtsausdruck zurecht, ordnete sozusagen seine Züge neu und begann von vorne. Allein es wollte nicht gelingen, – die Finger gehorchten wohl, nicht aber das Gesicht. Da kletterte er entschlossen vom Sessel, lief in das Nebenzimmer vor den Spiegel seiner Mutter und versuchte, in seinem Gesicht das »tieftraurige Lächeln« auszudrücken. Er legte den Kopf halb nach hinten, verzog die Mundwinkel leise nach unten, ließ die Augenlider sinken und ging dann schnell, mit erstarrter Miene, zurück zum Klavier. Den eingeübten Ausdruck seines Gesichtes behielt er bei, wie jemand ein bis zum Rande gefülltes Gefäß vorsichtig trägt. Abermals setzte er sich und begann zu spielen. Nun war es richtig. So schauspielernd übte er die musikalischen Sätze bis zum Trio. Er wiederholte diesen Satz gemäß den Vorschriften, und als er damit zu Ende war, blieb er mit würdigem Antlitz sitzen und verneigte sich stumm und ernst vor dem angenommenen Beifallssturm. Zugleich schielte er aber auch nach der Tür, ob nicht jemand sein stummes Spiel beobachte. Er hätte sich zu Tode geschämt, wenn man ihn erwischt hätte. Aber es sah ihn niemand. Draußen im Hof war kein Mensch. Beruhigt begann er nun das Trio und ausgelassen überspielte er mit der linken die rechte Hand, einmal da, einmal dort übergreifend. Dann spielte er alles noch einmal, um bei der Wiederholung des Menuetts dieses einstudierte traurige Lächeln, in dem er sich so sehr gefiel, wieder auf seine Mienen zaubern zu können.
Nun hätte eigentlich noch das Rondo folgen müssen. Aber seine Hände ruhten untätig auf den Tasten, den abschließenden D-dur-Akkord festhaltend. Sein Blick streifte die Wand. Da hing Beethovens Bild in einem schwarzen, ovalen Rahmen. Seit er sich erinnern konnte, hing dieses Bild dort. Darunter stand Vaters Cello angelehnt, da hing auch die Gitarre, all die Instrumente, nach denen das Familienoberhaupt monatelang kaum ein einziges Mal griff, weil auch er am liebsten Klavier spielte.
Das Bild zeigte einen Mann mit düsterem Blick, breiter Nase und breiter Stirn. Vom Hörensagen wußte er auch viel von ihm. Sein Vater und die Gäste seines Hauses erinnerten sich seiner oft mit Andacht. Andere Musiker wurden von ihnen öfters bekrittelt, dieser eine nie. Der Ton der Unterhaltung änderte sich sofort, wenn man von Beethoven nur zu reden begann. Als ob er selbst mit seinem würdevollen, achtunggebietenden Antlitz in ihrem Kreise weilte. Man erzählte sich von ihm, daß er grantig sei, daß er in unbändigem Stolz seinen Kopf nicht einmal vor geborenen Aristokraten neige, daß er in seiner engen Wiener Wohnung sparsam, von den Menschen abgeschieden, lebe, daß sein Gehör mit seinem dreißigsten Jahre angefangen habe, schwächer zu werden, und daß er jetzt ganz taub sei. Man erzählte sich auch, daß er über seinem Klavier ein sonderbar gebogenes Messingschild habe anbringen lassen, damit er wenigstens etwas aus der Resonanz der Töne ahnen könne, wenn er den Versuch machte, zu spielen. Aber trotz seiner Taubheit sei er der größte von allen zur Zeit lebenden Musikern.
Auf das Kind hatte dieser streng blickende Mann mit dem breitknochigen Gesicht einen außergewöhnlichen Eindruck gemacht. Als ihn einmal die Gäste seines Vaters fragten, was er werden wolle, wenn er erwachsen sei, deutete er auf das Bild und sagte verschämt: »So einer.«
Auch jetzt betrachtete er eingehend diesen geheimnisvollen Erwachsenen, den er sich zum Vorbild gewählt hatte. Er wünschte sehnsüchtig, daß er einmal nahe an ihn heranreichen und daß jener ihn lieb gewinnen möge. Er hatte das Gefühl, als ob er sehr viel von ihm wisse, – wie wenn die Werke, die er von ihm gespielt, allesamt ein vertrauliches Gespräch des Großen mit ihm, dem kleinen Kerl aus Raiding, gewesen wären. Während er die Freunde seines Vaters, die hin und wieder zu Besuch kamen, als vertraute Onkel betrachtete, konnte er an ihn, an Beethoven, so nicht denken. Er war kein Onkel für ihn, sondern ein Jemand ohne Alter, mit dem zusammen zu sein unvergleichlich schön sein müßte. Man brauchte gar nicht miteinander zu sprechen, – es wäre schon Glücks genug, mit ihm vor dem Klavier zu sitzen und zum Beispiel die tiefsinnigen und gefühlvollen Anfangstakte der As-dur-Sonate zu spielen und mit entzückter gemeinsamer Freude einander in die Augen zu sehen. Und neben ihm bleiben, immer, immer …
Ob er auch einmal »so einer« werden würde, wie er sich das vorgestellt hatte …? Arbeiten, – arbeiten! Er riß sich aus seiner Verträumtheit, schloß den Sonatenband und begann unter den vielen Noten herumzustöbern. Er kannte sie alle sehr gut: am Deckel, am Griff, an der Form des ausgefransten Randes … Endlich riß er aus dem Notenhaufen die Czerny-Etüden hervor und schlug sie an der Stelle auf, wo ihm sein Vater gestern mit dem Bleistift ein Zeichen gemacht hatte. Er rückte sich zurecht, streckte abermals die Hände vor wie zum Kampf hieb- und stichbereite Waffen, – begann aber noch nicht. Zuvor bekreuzigte er sich. Dann griff er in die Tasten, holte tief Atem und schlug an. Die tägliche Arbeit begann: die hundertmalige Wiederholung des einförmigen Motives, – eintönig, – störrisch, – immer und immer wieder, – wie wenn er den Sand der Wüste Sandkorn für Sandkorn einzeln übereinanderordnen müßte … fünf Minuten, – eine Viertelstunde, – eine halbe Stunde, – nur immer weiter, – ununterbrochen, ohne Abwechslung, – das Ende unabsehbar. Seine Gedanken möchten am liebsten der mechanischen Arbeit der Finger davonlaufen. Wenn er sie aber nur für einen Augenblick ohne Aufsicht läßt, geraten sie sofort durcheinander wie hinterlistige Sklaven. In solchen Fällen muß man die Ungehorsamen strafen, achtmal, zehnmal, zwanzigmal mit ihnen ein und denselben Takt wiederholen. Insbesondere aber diese zwei Ungeschickten, die beiden Ringfinger, muß man zur Arbeit antreiben, denn die freuen sich immer, wenn sie einmal schwänzen können. Eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalb Stunden in der niederdrückenden Eintönigkeit einer Tretmühle …
»Putzi, nun ist es genug. Es ist halb zwölf Uhr.«
Die Mutter trat zum Klavier, in der Hand ein Butterbrot. Das Kind brach mittendrin ab und sprang vom Klavierschemel. Im nächsten Augenblick verschlang es schon gierig sein Butterbrot.
»Was gibt's zu Mittag, Mutti?«
»Aber Putzi, schämst du dich denn nicht? Hast den ganzen Mund voll und bist mit den Gedanken schon wieder beim Mittagessen! Spute dich, lauf zum Herrn Kaplan. Und sei um halb eins zu Hause, sonst kriegst du deinen Teil vom Vater, du weißt …«
Draußen auf der Straße flimmerte drückend heiß der ländliche Sommer. Die weiß getünchten Mauern der winzigen Häuser blendeten das Auge. In den Mittagsstunden spendeten nicht einmal die verstaubten Akazienbäume Schatten. Auf der Landstraße brannte der Staub geradezu. In dem blumenüberwucherten Graben drängten sich scharenweise vor Hitze keuchende Gänse. Menschen waren nirgends zu sehen. Nur ganz weit entfernt schlenderte ein Bauer daher, der offenbar von Ödenburg heimkam.
Das Kind lief eilends nach dem Hause des Kaplans. Trotz der großen Hitze bekam ihm das Laufen recht gut nach dem langen Sitzen am Klavier. Als er am Hause des Landwirts Zirkel vorbeirannte, rief ihn der Seppl an, der mit einer Schnitzerei vor dem Hause saß:
»Putzi!«
»Hab' keine Zeit.«
»Hast du das schon, worüber wir gesprochen haben?«
»Nachmittags! Jetzt hab' ich Eile.«
Der Seppl Zirkel schnitzte weiter an seinem Stückchen Holz herum, und der Putzi lief weiter. Die Sache, an die der Seppl ihn erinnert hatte, hatte er ganz vergessen. Sie hatten nämlich ausgeheckt, daß er aus Vaters Jagdsachen eine Handvoll Schießpulver klauen sollte, mit dem sie sich dann irgendeinen Spaß machen wollten. Aber das hatte er nun ganz und gar vergessen. Doch es hatte ja Zeit bis nachmittags.
Der Herr Kaplan, Onkel Rohrer, saß in Hemdsärmeln auf seinem Hof. Nicht einmal seinen Pfarrock hatte er an, sondern trug nur eine schwarze Lüsterhose. Er war damit beschäftigt, in den Schaft einer kleinen Axt einen Keil zu treiben. Dabei rauchte er seine Pfeife.
»Nun, wie fühlen wir uns, mein Sohn?«
»Ich danke vielmals, Onkel Rohrer, gut. Ich hab' bis jetzt geübt.«
»Ist dein Vater zu Hause?«
»Nein. Er kommt erst zum Mittagessen.«
Sie schwiegen. Der Kaplan hämmerte schnaufend an der Axt herum. Zwischendurch wischte er mit seinen Hemdsärmeln über seine schweißtriefende Stirn. Der Junge wartete geduldig. Er tätschelte den schlampigen, weißen Wachthund, der seinen altersschwachen, fetten Körper träge zu ihm schleppte und, ohne einen Laut von sich zu geben, den alten, starräugigen Kopf in die vertrauten, streichelnden Kinderhände schmiegte.
»Eine Hundehitze«, sagte der Kaplan. »Na, gehen wir hinein. Drinnen ist's doch etwas kühler.«
Sie gingen ins Haus, an der Küche vorbei, wo schwerer Speisengeruch und das zischende Geräusch des Feuers ihnen entgegenschlug. Eine dichte Wolke von Fliegen überfiel sie. In der Stube erwartete sie muffiges Halbdunkel. Der Kaplan füllte seine Pfeife von neuem und schleppte seinen schweren Körper ächzend zum Tisch. Das Kind ging mit heimischer Vertrautheit zum Fenstersims und las seine Sachen zusammen: Bücher, Hefte, Schreibzeug. Dann siedelte es sich auch am Tisch an, tauchte die Feder ein und wartete. Der Kaplan fing an zu diktieren und nahm gleichzeitig eine Fliegenklappe in die Hand.
» Constitit atque oculis …«
» … oculis.«
» Phrygia agmina, – hast du's?«
»Ja.«
» Circumspexit, – hast du's? Zeig' her. Was ist das? Phrygia? Wie wird das geschrieben, Phrygia? Du paßt aber auch nie auf, Junge! Erst gestern hab' ich dir's buchstabiert.«
Die Hand des Lehrers verbesserte energisch das falsch geschriebene Wort.
»Jetzt übersetze es. Was heißt › constitit‹?«
Der Junge schwieg.
»Nun? Los, los! Laß dich nicht bitten!«
Im selben Augenblick sauste die Fliegenklappe klatschend auf den Tisch nieder und Kaplan Rohrer strich mit flacher Hand die erwischte Fliege von der Tischplatte herunter. Der Unterricht schleppte sich schwerfällig und schläfrig weiter.
»Er blieb stehen und betrachtete die Phrygischen Streitkräfte.«
Dann folgte wieder Diktat. Dann abermals Übersetzung. Andauernd mußte der Junge mit Händen und Füßen die Fliegen von sich abwehren. Auch die Fliegenklappe des Kaplans knallte wiederholt kräftig.
»Was? › Litterarum‹ mit einem t? Gehen dir denn da nicht die Augen über, wenn du das siehst? Das Wunderkind, das in Preßburg und in Wien schon selber Konzerte gegeben hat, beherrscht nicht einmal die Rechtschreibung, so sehr ich mich auch mit ihm abmühe! Aus dir wird nie etwas! Wenn das noch einmal vorkommt, sage ich es deinem Vater, daß du niemals aufpaßt.«
»Nein, nein«, schrie der Junge erschrocken auf.
»Siehst du, jetzt hast du Angst. Aber aufpassen, das willst du nicht. Nun sage mal, was wird denn überhaupt mit euch? Geht ihr wirklich ins Ausland oder nicht?«
»Ich weiß es nicht, Onkel Rohrer. Der Vater hat es mir noch nicht gesagt.«
»Ich habe gehört, daß Seine Durchlaucht euch ein Stipendium gewähren will.«
»Ich weiß nicht.«
»Und was gibt's Neues von deinem Großvater? Ist er noch immer in Pottendorf in der Tuchfabrik?«
»Ja, er ist noch dort.«
»Also, sage deinem Vater, daß ich an einem der nächsten Tage zu euch komme. Ich hab' es schon seit Wochen vor, aber immer kommt etwas dazwischen. Warte ein bißchen, ich bin gleich wieder da. Sieh' dir einstweilen deine Fehler an. Eine schöne Geschichte! Das Wunderkind beherrscht nicht einmal die Rechtschreibung! Glaubst du am Ende, daß Mozart auch nicht richtig schreiben konnte?«
Er tapste hinaus. Der Junge blieb allein. Unlustig zog er die Schultern hoch. Er konnte diese Unterrichtsstunden nicht ausstehen, bei denen immer nur seine Unwissenheit und Unaufmerksamkeit zum Vorschein kam. Schnell war er deshalb bemüht, in seinen prahlenden Erinnerungen nach einer Salbe für die Wunde seines verletzten Selbstbewußtseins zu suchen.
Da dachte er zuerst an sein Konzert in Ödenburg. Oh, war das wunderbar! Der junge, blinde Baron, der von dem neunjährigen, fabelhaft klavierspielenden Sohn des Raidinger Verwalters gehört hatte, bat den Vater, er möge das Kind in seinem Konzert auftreten lassen, vielleicht würde das auch noch andere Leute aufmerksam machen. Der Vater hatte es erlaubt. Unten im Saale saßen viele Leute, sein Platz war auf dem Podium, um ihn herum das ganze Orchester. Er fühlte heute noch ganz genau das qualvolle Zittern einer bestimmten Stelle seiner Brust unmittelbar über dem Magen. Vollkommene Taubheit befiel seine Ohren, als er das zu Hause schon unzählige Male geübte Es-dur-Klavierkonzert von Ries zu spielen begann. Er hörte weder etwas vom Orchester, noch von seinem eigenen Klavierspiel. Es bedrängte ihn nur das bange Gefühl, im nächsten Augenblick ohnmächtig zu werden. Aber die ersten Takte gingen glücklich vorüber, und er kam langsam wieder zu sich. Nach zwei Minuten war er schon wieder vollkommen Herr über seine Finger. Mit pochendem Herzen, im Fieber einer merkwürdigen Spannung, spielte er trotzdem ruhig. Und der Beifall, der dem Vortrag folgte, klang ihm heute noch in den Ohren. Der erste öffentliche Applaus seines Lebens. Dieses aufpeitschende, geliebte harte Krachen, das sich anhört wie ein prasselnder Hagelregen. Die Menschen sprangen von ihren Sitzen hoch, kamen zum Klavier heraufgelaufen, – Männer und Frauen umarmten ihn gleichermaßen, mau küßte ihn, man strich ihm gerührt über das Haar, man streichelte seine Wangen, und in dem unerhörten freudigen Tumult schrien alle durcheinander: ist der aber goldig, ist der aber lieb, nein so was, wie entzückend … Nach diesem Konzert geschah es, daß, als sie im Bett lagen, sein Vater, der ihn schon schlafend glaubte, auf Zehenspitzen zu ihm geschlichen kam, ihn küßte und weinte. Am anderen Tag beschloß man, daß der Putzi nunmehr auch allein in Ödenburg auftreten könne. Auch dieses zweite Konzert brachten die rührigen Eltern zustande. Der Vater rannte ununterbrochen von früh bis abends mit den Eintrittskarten herum, und auch die Mutter war fortan zwischen Raiding und Ödenburg dauernd auf den Beinen. Er selbst mußte täglich sechs Stunden üben. Diesem Konzert war ein noch größerer Erfolg beschieden als dem ersten. Der Saal füllte sich bis auf den letzten Platz, und schon bei seinem Eintreten begrüßte ihn ein überwältigender Applaus, als er sich artig verbeugte. Und erst der Beifall nach den einzelnen Vorträgen … Was für ein gewaltiger Unterschied in dieser Beziehung zwischen einem großen und einem kleinen Publikum! … Und wie gab man ihn von Hand zu Hand, wie wurde er gestreichelt und geküßt, hundertmal mehr als das erste Mal. Wie selig besprachen damals Vater und Mutter stundenlang, was dieser und jener große Herr gesagt habe … Zu dieser Zeit entstand in seiner Seele das nagende und quälende Geheimnis, das er seitdem niemandem verraten hatte …
»Also, da bin ich wieder«, sagte der Kaplan schnaufend. »Ich verstehe wirklich nicht, wohin man wieder mein Taschenmesser gelegt hat … Hol' mal deine deutsche Grammatik vor.«
Der Junge schluckte den aufsteigenden Seufzer herunter. Folgsam holte er das Buch hervor. Er blätterte die Seite auf, die heute dran kommen mußte, und fing laut zu lesen an: »Fürwörter nennt man Wörter, welche …« Er las widerwillig, unlustig und unaufmerksam. Hier und da unterbrach ihn der Kaplan mit Fragen, auf die er fast immer zögernde, meist aber unrichtige Antworten gab. Eine Ermahnung hetzte die andere. Gerade versetzte ihn wieder eine verfängliche Frage in Verlegenheit, als das mittägliche Glockengeläut mit seiner altbekannten summenden Gis-Stimme ertönte. Sowohl der Kaplan als auch das Kind unterbrachen sofort das Lernen. Sie bekreuzigten sich und fingen murmelnd zu beten an. Rohrer wurde früher fertig und, ohne des noch versunken betenden Kindes zu achten, sagte er vor sich hin, über die Schultern hinweg: »Sofort« und ging abermals hinaus, um etwas nachzusehen.
Endlich bekreuzigte sich auch der Junge und floh schnell in das Selbstgefühl seiner sieghaften Erinnerung zurück. Wie war das dann nach Ödenburg? Eines Tages kam sein Vater aufgeregt mit der großen Nachricht nach Hause: sie müßten nach Preßburg, der Herzog wolle das Kind spielen hören. Was für eine fürchterliche Aufregung entstand im Hause! Er erkannte seinen Vater nicht wieder: der Mann, den er bislang hier auf Erden für den größten, den stärksten, den mächtigsten gehalten hatte, kam ihm auf einmal vor wie ein erbärmlich zitternder Sklave, wie ein um die Gunst einer überirdischen Persönlichkeit Buhlender … Von früh bis abends sprach man nur von dem Preßburger Auftreten. Und das Gespräch kam immer wieder auf dasselbe zurück, nämlich auf den Herzog. Man sprach von ihm nicht als »Herzog«, sondern von »Seiner Durchlaucht«, und die Stimmen senkten sich dabei ehrerbietig. In die Gesichter kam etwas Starres, Ehrfürchtiges, so oft sie diese Anrede gebrauchten. Aber es war eine ganz andere Ehrfurcht, als wie man sie in Gesprächen über Musik etwa Beethoven zollte. Er konnte sich das selbst nicht richtig erklären, aber diese sonderbare, sich sklavisch duckende Aufregung seiner Eltern, hauptsächlich des Vaters, wühlte ihn bis in die tiefste Seele auf. Bisher war sein Vater für ihn der erste und vollkommenste Mensch der Welt gewesen, und jetzt mußte er mit ansehen, wie sein mit glühender Verehrung geliebter Abgott von seinem Altar herabstieg. In seiner qualvollen Zerrissenheit verkroch er sich in sein Stübchen. Dort litt er, und seinen Schmerz teilte er mit niemandem. Bis dahin hatte er vor seinen Eltern nichts verschwiegen. Jetzt machte sich in seinem Herzen zum ersten Male bitteres Mißtrauen breit. Dazu kam noch, daß sowohl der Vater als auch die Mutter ihn fast in jedem Augenblick anfuhren und ermahnten, weil sie immer wieder etwas Neues an seinem Benehmen auszusetzen fanden. »Wie sitzt du auf deinem Stuhl? Halte dich nicht krumm! Wirst du vor Seiner Durchlaucht auch so dastehen? Wie hältst du das Messer? Wirst du in Preßburg auch so essen? Was wird dann die Umgebung Seiner Durchlaucht sagen?« Wenn er stand, wenn er saß, wenn er aß, wenn er auch nur den kleinsten Schritt getan hatte, – alles war falsch. Und all das wegen des Herzogs. Bald haßte er ihn aus tiefstem Herzen. Aber was noch viel, viel unheimlicher war, das war die erschreckende Veränderung, die in ihm selbst vorging. Er fühlte einen Riß in der schwärmerischen Verehrung, die er bis jetzt seinem Vater entgegengebracht hatte. Anfänglich leugnete er das zwar vor sich selber, – umsonst, es wurde ihm immer klarer, daß er seinem Vater tief grollte. Er fühlte sich erniedrigt und ernüchtert. Und dann konnte er sich nicht mehr halten und fuhr zornig los:
»Ermahnen Sie mich doch nicht dauernd wegen des Herzogs, Vater! Ist denn dieser Herzog der Herrgott selber?«
Überrascht blickte der Vater ihn an und sagte:
»Beinahe.«
Ernst, in seiner Stimme teilnehmende Zärtlichkeit, fuhr er fort:
»Wir verdanken unser Brot dem Herzog Nikolaus von Esterhazy. Du bist noch klein und kannst noch nicht begreifen, was für ein mächtiger Herr er ist. In ganz Europa kommt er gleich nach dem Kaiser Franz. Dieses Haus gehört ihm. Ganz Raiding gehört ihm. Soweit du nur die Felder, die Berge, die Wälder sehen kannst, alles ist sein Eigentum. Was wir essen, bekommen wir von ihm. Auch dein Großvater in Pottendorf bekommt von ihm seine Nahrung. Die Kleider, die wir alle tragen, erhalten wir ebenfalls von ihm. Wenn er zornig ist, steht es ihm frei zu bestimmen, daß wir morgen kein Dach mehr über uns und nichts zu essen haben. Und wenn es ihn gelüstet, kann er uns viel Geld geben, wir können in ein noch schöneres Haus ziehen, und ich kann dich von Professoren im Klavierspiel unterrichten lassen. Weißt du, wem er in Eisenstadt zu essen gegeben hat? Dem Haydn! Und auch dem Hummel! Die konnten ihre Studien nur fortsetzen, weil er seine Hand schützend über sie hielt. Wer Cherubini ist, habe ich dir auch schon erklärt, und siehst du, auch dieser Cherubini ist von weit, weit her zu dem Herzog gekommen, weil der es so gewollt hat. Du mußt dich rechtzeitig daran gewöhnen, mein lieber Sohn, daß es auf der Welt zweierlei Menschen gibt: die vornehmen, großen Herren und die armen Leute. Die armen Leute müssen untertänig, anständig und folgsam sein, wenn sie im Leben vorwärts kommen wollen.«
»Aber ich möchte Ihnen gehorchen. Vater, nicht ihm, dem Herzog. Ich kenne ihn doch gar nicht.«
»Widersprich deinem Vater nicht, mein Junge! Du mußt dich in Preßburg tüchtig zusammenreißen, wenn dir das Glück zuteil wird, vor Seiner Durchlaucht spielen zu dürfen, denn von ihm hängt sehr, sehr viel ab. Du wirst im Hause eines Verwandten des durchlauchtigsten Herrn spielen. Das ist eine ganz unerhörte Bevorzugung.«
Der Junge schwieg mit Bitterkeit und Enttäuschung im Herzen, und beides vergab er seinem Vater nicht.
Fleißig übte er stundenlang, das Konzert erfüllte ihn mit heftigem Ehrgeiz. Und als man ihm aus Ödenburg einen prachtvollen ungarischen Galaanzug brachte, war er außer sich vor Freude. Aber in seinem Innern schürte er mit geheimem Trotz den gärenden Aufruhr.
Dieses Konzert war in seinem Herzen zu einem derartig verworrenen, bunten Kranz von Erinnerungen geworden, daß er nur einzelne unzusammenhängende Erlebnisse wieder heraufbeschwören konnte. Er sah sich begeistert von der großen Stadt Preßburg, ihren Palästen, ihren durch die Straßen rasselnden fransenverzierten Gespannen, die er sich bis dahin nicht einmal in seiner kühnsten Phantasie hätte vorstellen können … Er sah sich zwischen prächtigen Husaren, – und er sah sich inmitten lautlos hin und her eilender Lakaien durch den Aufgang für Bediente in den Saal treten, die Hand seines Vaters verkrampft festhaltend. Vor allem sah er aber jenes verhaßte Bild: wie sein Vater sich vor den höfischen Lakaien unterwürfig verneigte. Und endlich sah er sich in dem feenhaft glitzernden Konzertsaal vor dem Klavier, geblendet und betäubt von der Purpurpracht goldener Sessel, in denen so unerhört glanzvolle Menschen saßen, daß seine Augen das Bild kaum fassen konnten … Er erinnerte sich seines Spieles und des totenblassen, gespannten Gesichtes seines Vaters … Er erinnerte sich des wehmütigen Erschreckens, das ihn befiel, als er sah, wie heftig die notenblätternden Finger des Vaters zitterten … Er erinnerte sich der flüsternden Verwunderung, die durch den Saal lief, als man ihm unbekannte Noten vorlegte, damit er sie vom Blatt spiele … Und dann sah er den Herzog vor sich, diesen überirdisch anmutenden Greis, den er so brennend gerne hätte hassen wollen, was aber nicht anging, weil dieser heldenhafte, prachtvoll gekleidete alte Mann so liebenswürdig, so gütig das lächelnde Wohlwollen selbst war: er hob ihn empor, drückte ihn an seine Brust, küßte ihn rechts und links auf die Wangen, während im Saal dröhnender Beifall tobte … Dann verschwamm alles vor seinen Augen: Herren in ungarischer Gala und märchenhafte Prinzessinnen umfluteten ihn. An mehr vermochte er sich nicht mehr zu erinnern.
Wohl aber konnte er sich darauf besinnen, daß seine Mutter draußen zwischen der Dienerschaft hatte warten müssen, während er spielte. Seiner Mutter war es nicht erlaubt gewesen, dem Konzert beizuwohnen. Ein gezierter Lakai mit gepuderter Perücke fuhr sie barsch an, als sie versuchte, sich hereinzuschleichen. Ihm hatte das brennend weh getan. Die Mutter zog sich mit einem Lächeln zurück wie ein bei einem Streich ertapptes Kind.
Dann konnte er sich nur noch daran erinnern, daß man ihn irgendwie nach Hause brachte. Vater und Mutter stürzten die Tränen aus den Augen, als sie sich zum Mittagessen setzten. Sie drückten ihn an sich, umarmten und küßten ihn.
»Es wird alles anders werden«, sagte der Vater vor Rührung zitternd. »Die Magnaten waren so begeistert, mein Sohn, daß sie ein Stipendium für sechs Jahre bewilligt haben. Ich nehme dich mit zu Hummel, bei dem sollst du lernen. Was möchtest du jetzt, mein lieber Junge? Willst du etwas essen oder willst du etwas trinken? Du kannst haben, was du willst. Sollen wir dir etwas in der Stadt kaufen? Wozu hättest du Lust?«
Aber er hatte zu gar nichts Lust. Er war nur furchtbar müde. Den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend blieb er mißmutig. Er sehnte sich nach seinem Bett. Doch Vater und Mutter ließen ihn nicht schlafen. Noch stundenlang verhandelten sie am Tisch des Hotelzimmers. Der Vater hatte die Namen der Magnaten aufgeschrieben und vorgelesen: Graf Amadé, Graf Viczay, Graf Szapary, Graf Esterhazy, Graf Apponyi … und dabei neben die einzelnen Namen jedesmal verschiedene Ziffern hingeschrieben. Lange und anhaltend beriet er sich in jedem einzelnen Falle mit der Mutter. Die Eltern waren so unterwürfig, ja sogar im Ton ihrer Stimme, wenn sie die Namen dieser Magnaten aussprachen, lag unverhohlen eine demütige Dankbarkeit, daß ihn, der indessen mit geschlossenen Lidern Schlaf vorspiegelte, das brennende und im Grunde genommen unbegreifliche Gefühl einer schmachvollen Demütigung marterte.
Dann waren sie wieder daheim in Raiding. Und der in Regenbogenfarben schimmernde Goldrausch des Konzerterfolges verflog wieder. Die Grafen hatten zwar ein sechsjähriges Stipendium angeboten, aber nun, da dieses großzügige Angebot in bares Geld umgewandelt werden sollte, konnte Adam Liszt nicht weiter. Er wußte nicht, was er anfangen sollte. Stundenlang lief er in Eisenstadt bei den mächtigen Verwaltern der herzoglichen Besitzungen von Tür zu Tür, um sich Rat zu holen. Die aber warnten ihn, die Freunde Seiner Durchlaucht zu behelligen. Ja, sie verboten ihm sogar, an den Herzog selbst ein Gesuch zu richten, er möge doch die Aristokraten an ihr Versprechen erinnern. Und jene, die damals in der mitreißenden Stimmung des Konzertes dem Wunderkinde großzügig ihre Geldversprechungen hingeworfen hatten, sandten von sich aus nicht einen einzigen Heller nach Raiding. Das hatte man von ihnen auch gar nicht erwarten können. Es hätte sich jemand finden müssen, der sie der Reihe nach besuchte, um die angebotenen Goldstücke einzusammeln. So ein Jemand war aber nicht vorhanden. Und der berauschende Traum, die ganze kleine Familie könnte mit dem reichlichen Stipendium zur Weiterausbildung des Jungen nach dem Auslande übersiedeln, wandelte sich zu einem in immer weiterer Ferne verschwindenden narrenden Trugbild. Drei Monate lang hatte Adam Liszt, zur Untätigkeit verdammt, mit den leeren Versprechungen in der Tasche gewartet. Dann hatte er sich in den Kopf gesetzt, daß sein Sohn in Wien auftreten müsse. Da würden die ungarischen Magnaten schon aufhorchen, sie würden sich ihrer Preßburger Versprechungen wieder erinnern, – und vielleicht würde sich dann sogar Seine Durchlaucht gnädig und freigiebig zeigen. Ein reger Briefwechsel begann: der Vater saß allabendlich bis Mitternacht gekrümmt am Tisch und kritzelte unzählige Briefe. Wen er nur in Wien kannte, den ging er an. Auch die Mutter zerbrach sich andauernd den Kopf, wer von ihren Wiener Bekannten aus der Zeit, da sie noch als Mädchen daheim in Krems in der Langerschen Kurzwarenhandlung saß, noch in Betracht kommen könnte. Und endlich kam das Wiener Konzert wahrhaftig zustande …
Der Kaplan kehrte mit tapsenden Schritten zurück. Erschrocken griff der Junge sofort nach dem deutschen Buch. Aber der Lehrer hielt zögernd inne:
»Ich glaube, für heute ist's genug. Es ist unerträglich heiß. Morgen lernen wir weiter.«
»Jawohl.«
Eifrig raffte er seine Sachen zusammen und legte sie zurück auf das Fenstersims. Da knarrte auch schon hinter ihm das Sofa, auf das sich der Kaplan der Länge nach ächzend hinwarf, wobei er in seiner Trägheit den Gruß des sich verabschiedenden Jungens kaum erwiderte. Der ging nach Hause, – viel langsamer, als er gekommen war. Er hatte den bunten Reigen seiner Erlebnisse so lebhaft in sich heraufbeschworen, daß er sie nicht loswerden konnte. Als er so im hellen Sonnenschein dahintrottete, träumte er sich zurück in die Tage des Wiener Konzertes, tief sinnend und mit solch gespannter Neugier, als ob er ein Bilderbuch betrachtete.
Aber auch von dieser Wiener Reise war in seiner Erinnerung nur eine Reihe zusammenhangloser Bilder geblieben. Vor seinen Augen tauchten die Insassen der geräumigen Postkutsche auf, das Horn des Postillons, sein bunter Rock, einzelne Abenteuer dieser Reise. Dann sah er die Straßen Wiens im Glanzlichte des lauen Frühlingsabends, an dem sie dort ankamen, die langen Reihen der großen Paläste, die noch imposanter waren als die in Preßburg, die vielen Leute, den riesenhaften Verkehr. Und dann die keuchende Unrast seines Vaters: an einem einzigen Vormittag verließ er fünfmal das Hotelzimmer, um mit vollgepumpter Brust schweißtriefend wieder zurückzukehren. Und endlich das Konzert selbst: halbleerer Saal, eisige Stimmung, dünner Beifall, ein paar begeisterte alte Tanten, die ihn auf ihren Schoß zogen und mit neugierigen Fragen bestürmten, – viele Leute, die zu seinem Vater kamen und die er nicht kannte. Auch an die Heimreise erinnerte er sich noch ganz gut: der Vater saß schlechtgelaunt in der Postkutsche und nörgelte wegen jeder Kleinigkeit an ihm herum. Und er hatte doch nichts dafür gekonnt. Er hatte ebenso gespielt wie in Preßburg. Daß nur wenige zu seinem Konzert gekommen waren, war ja nicht seine Schuld.
Doch darüber waren nun auch wieder ein paar Monate vergangen. Seit dieser Zeit arbeitete der Vater selbst mit unnachgiebiger Zähigkeit daran, daß sie irgendwie nach dem Auslande übersiedeln könnten. Der Knabe mußte fleißig üben, sechs, sieben Stunden am Tage. Seine Mutter beobachtete ihn still und unentwegt mit sorgenvollen Augen und drang in ihn, ob er nicht irgendwelche Beschwerden habe, ob ihm auch nichts weh tue. Aber er konnte immer nur erwidern, ihm fehle nichts, und von den Schwächezuständen der früheren Jahre zeigte sich auch nicht die geringste Spur mehr. Früher hatten ihn ständig schwere Krankheiten heimgesucht. Einmal quälte ihn monatelang ein heftiges Sumpffieber. Er schrumpfte zu Haut und Knochen zusammen. Nicht einmal soviel Kraft war ihm verblieben, daß er die Hand heben konnte. Das Klavierspielen hatte er für lange, lange Zeit unterbrechen müssen. Und von seinen Eltern hatte er gehört, daß er, als er noch ganz, ganz klein war, sehr oft von eigenartigen Krämpfen befallen worden war. Aber daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Er sollte da ganz unbeweglich gelegen haben, dann wieder wären merkwürdige Zuckungen durch seinen ganzen Körper gelaufen. Man hatte gar nicht geglaubt, daß das dahinsiechende Kind nach so vielen Krankheiten doch weiterleben würde. Einmal ging es ihm schon so schlecht, daß der Vater sogar den Tischler des Dorfes kommen ließ und bei ihm einen Kindersarg bestellte. Gott sei Dank hatten sich diese Krankheiten dann immer seltener gemeldet. Jetzt fühlte er sich wohl. Das Klavierüben bewältigte er mit Leichtigkeit und hatte einen Appetit wie ein Wolf. Nur in der Frühe war er immer müde. Seine Mutter hörte jedoch nicht auf, ihn sorgsam vor der Schwindsucht zu behüten; sein kleiner Bruder nämlich, den er nicht mehr kannte, war an dieser Krankheit gestorben …
Hungrig geworden, legte er nun doch den Rest des Heimwegs im Sturmschritt zurück. Er begegnete einzelnen Raidinger Bauern, die nach Dorfsitte eine Leinenschürze trugen und schnaufend und schweißtriefend in der mittäglichen Hitze ihrer Arbeit nachgingen. Vor Zirkels Haus saß der Seppl nicht mehr draußen. Sicherlich war er beim Mittagessen und wartete darauf, daß sein Kamerad das Nachmittagsüben beendete …
Adam Liszt war schon zu Hanse. Er ging auf und ab in dem kleinen Hofe und wartete auf das Mittagessen. Hier richtete er eine verbogene Latte aus, dort stieß er mit dem Fuß einen herabgefallenen Ast weg, befühlte die Wäsche über der Leine, ob sie gut trocknete … und zwischendurch wetterte er mit strenger Stimme seiner Frau entgegen, die mit dem Tischdecken beschäftigt war:
»Wie oft hab' ich schon gesagt, Anna, daß man das Loch in der Scheunentür zunageln muß! Spreche ich denn umsonst?«
Die Frau antwortete duldsam aus dem Zimmer:
»Ich erledige es am Nachmittag.«
Das Kind trat in den Hof, lief auf seinen Vater zu und küßte ihm die Hand.
»Hast du geübt?«
»Jawohl, sechs Fugen und sechs Préludes. Dann hab' ich auch noch die D-dur-Sonate gespielt.«
»Schon wieder?« Die väterliche Stimme klang scheltend und ermahnend zugleich.
»Nur einmal, Vater, wirklich nur ein einziges Mal. Und dann hab' ich Czerny geübt bis um halb zwölf. Jetzt komm' ich von Onkel Rohrer.«
»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, daß der Vormittag nicht zum Vergnügen da ist! Bitte so zu üben, wie ich es dir befohlen habe. Hast du verstanden?«
»Jawohl.«
Die Mutter rief zum Mittagessen, und sie traten in das von Fliegen summende Zimmer. In stummem Gebet standen sie einen Augenblick lang hinter ihren Stühlen und bekreuzigten sich dann. Die Mutter teilte die Suppe aus. Froh und hungrig fiel das Kind darüber her. Es horchte gar nicht auf seine Eltern, die sich über die Wirtschaft unterhielten, – von Schafen und immer wieder von Schafen. Denn das war Pflicht und Aufgabe von Adam Liszt in Raiding: in diesem Teil des herzoglichen Besitztums über das Gedeihen der Schafzucht zu wachen. Der Junge machte sich nichts aus solchen Gesprächen. Während des Essens dachte er teils darüber nach, ob Mozart auch einen neuen Anzug bekommen habe, als man ihn nach Wien brachte, und teils darüber, daß er heute nachmittag unter allen Umständen das Schießpulver klauen müsse, wenn er es dem Seppl Zirkel doch so hoch und heilig versprochen hatte.
Kaum hatten sie nach dem Mittagessen den Mund abgewischt, da saßen Vater und Sohn auch schon am Klavier. Zuerst spielten sie vierhändig. Aufmerksam und gespannt verschlang er die Notenköpfe, und in seinem grenzenlosen Eifer steckte er sogar die Zungenspitze zu den Mundwinkeln heraus. Hin und wieder fuhr er erschrocken zusammen, wenn der Vater, die Baßtakte kräftig betonend, ihn streng ermahnte:
»Takt hal–ten! Takt hal–ten!«
Dann kam das Transponieren. Der Vater wählte eine Czerny-Etüde. Zuerst spielte sie der Junge in C-dur, dann in G-dur, darauf in A-dur und so weiter in allen Tonarten. Wenn er auch nur den kleinsten Fehler beging, ertönte sofort die Stimme des Vaters:
»Was machst du denn? Was war denn das? Bitte Fis, nicht G. Was ist das für eine Nachlässigkeit!«
Dann kam eine andere Etüde in sämtlichen Moll-Tonarten dran. Und dann in der Reihenfolge der Harmonielehre die dritte Etüde in D-dur, anschließend in Es-dur. Dann wieder eine vierte in d-moll und c-moll.
Sie spielten schon gute anderthalb Stunden. Die Mutter hatte unterdessen in der Küche alles aufgewaschen. Sie kam herein, blieb hinter ihnen stehen, zögerte eine Weile, und fragte endlich:
»Bist du nicht sehr müde, mein Kind?«
Der Junge konnte gar nicht so schnell antworten, als sein Vater schon unwirsch über die Schulter zurückgab:
»Rede du nicht drein, mein Liebling, und störe nicht. Ich sehe es schon selbst, wenn er müde ist.«
Die Mutter erwiderte nichts und ging still an ihre Arbeit. Die beiden gingen nunmehr dazu über, den einwandfreien Vortrag einzelner Stücke zu üben, wie sie es jeden Tag hielten. Der Vater erhob sich, überließ dem Sohn das ganze Klavier, setzte sich an den Tisch und holte seine Papiere und Schreibsachen hervor. Er schrieb seine täglichen Briefe, mit denen er seine Wiener Bekannten, die Verwalter der Eisenstädter Güter, ja sogar die ihm persönlich unbekannten Wiener Komponisten zu überschütten pflegte. Der Junge hatte währenddessen ein größeres Konzertstück mit einstudiertem Vortrag zu spielen, wie wenn er auf dem Podium säße. Obwohl Adam Liszt mit seinen Briefen beschäftigt war, überwachte er mit halbem Ohr die Arbeit seines Sohnes und unterbrach ihn dann und wann.
»Langsamer, langsamer! Was ist das für ein Tempo?! Wirst du dieses Diminuendo denn nie erlernen?«
Oder er schlug ärgerlich auf den Tisch:
»Was ist das für eine Holzhackerei?! Viel weicher! Mit Gefühl! Weißt du nicht, was Gefühl ist? Na, also!«
Als der Zeiger der Wanduhr bei der dritten Stunde angelangt war, kam endlich die Erlösung:
»Jetzt darfst du eine Stunde lang improvisieren, aber nur eine Stunde. Und morgen wirst du eine Stunde lang vor allem die chromatischen Terzen üben, – mit beiden Händen. Heute hörten sie sich verheerend an.«
Der Vater nahm seinen Hut und ging, der Junge blieb allein mit seinem Klavier, das jetzt ohne Einschränkungen und ohne Verbote ganz seiner Macht überlassen war. Er nahm es in Besitz wie ein Liebender etwas lang Ersehntes, – mit jener heißen Begierde, die zugleich anbeten und vernichten will. Er lief mit beiden Händen in Fugen über die Tasten, die gleich dem Gebälk eines im Sturm brennenden Hauses funkensprühend donnerten und zu bersten schienen. Dann versuchte er, zerstreut den Übergang zwischen den einzelnen Tonarten suchend, irgendein Thema zustande zu bringen. Aber es fiel ihm keine Melodie nach seinem Geschmack ein. Plötzlich verirrten sich seine planlos umhertastenden Finger zu der Melodie »Oh, du lieber Augustin«. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln: das hatte er schon einmal vor der Öffentlichkeit variiert, im Wiener Konzert. Als er damals sein festgesetztes Programm beendigt hatte und nach verpflichtendem Konzertgebrauch die ihm aus den Reihen der Zuhörer zugerufenen Melodien im Stegreif ausarbeiten mußte, war auch dieser Wunsch laut geworden. Wie hatte er das damals nur gemacht? Zunächst spielte er das Thema in strenger Einfachheit, als müßte er eine zu zergliedernde geometrische Figur auf die Tafel zeichnen. Dann setzte er es fugenartig fort. Die Melodie tauchte zweimal gleich einem Paar ineinander verflochtener Schlangen auf, alsbald gesellte sich eine dritte hinzu, dann eine vierte und endlich vereinigte sich das Geflecht der vierstimmigen Melodie wie auf einem Webstuhl zu einem einzigen dichten Gewebe. Plötzlich löste er die verwirrte Formel wieder und zerlegte die Melodie in trillernde Sechzehntel. Dann wechselte er ebenso urplötzlich die Stimmführung und spielte melodische, launenhafte Fugen mit der Rechten zu der tiefen, dröhnenden Melodie der Linken, wie wenn er alles in den glitzernden Wasserstrahl eines farbigen Springbrunnens getaucht hätte. Nicht nur mit beiden Händen, mit seinem ganzen Körper gab er sich der Musik hin. Jedes seiner Glieder nahm daran teil. Wie bei einem in sich selbst versunkenen Tänzer wiegten sich seine Schultern, pendelte sein Kopf nach rechts und links … Er wälzte sich fast in dem zügellosen Klavierspiel, und in diesem Augenblick begriff er den jungen Hund, der sich tobend rücklings auf den Rasen wirft, als wollte er übermütig in seiner eigenen guten Laune baden, überschäumend vor Lebensfreude …
Er hätte stundenlang so gespielt, – bis in die Ewigkeit, – wenn seine Mutter ihm nicht die Hand auf die Schulter gelegt hätte:
»Es wird genug sein, mein Liebling, sonst wirst du wieder krank, und dein Vater wird auch böse sein, wenn du dich solange vergnügst.«
Der Junge brach das Spiel seufzend mitten im Motiv ab. Er erhob sich und wollte nicht zugeben, daß er müde sei, aber er konnte es nicht verheimlichen. Er fühlte eine süße und zugleich tödliche Erschöpfung. Auf dem zerschlissenen Sofa mit der gebrochenen Feder streckte er sich aus und schloß die Augen. Er schlief nicht und er dachte an nichts. Sein ganzer Körper musizierte weiter mit unaufhaltbarem Schwung, obwohl seine beiden Hände ermattet neben ihm ruhten. Die Mutter strich zärtlich über seinen Kopf und ging wieder aus dem Zimmer … Lange, lange hatte er so gelegen, als ihn die hastigen Schritte seines Vaters im Hofe draußen aufschreckten. Adam Liszt kam aufgeregt nach Hause. Noch am Tor rief er:
»Anna, Anna!« Die Mutter eilte ihm entgegen. »Gleich muß alles vor dem Hause sauber gefegt werden. Und es würde auch nicht schaden, die Fenster zu putzen. Seine Durchlaucht kommt in kurzer Zeit hier vorbei.«
Seine Stimme klang vor Aufregung ganz anders als sonst. Er rannte in die Stube, beachtete den Jungen überhaupt nicht und zerrte in großer Hast sein Staatskleid aus dem Schrank. Inzwischen rief er nach der Küche:
»Mach' auch du dich zurecht. Ich laufe gleich ins Dorf, damit alles in Ordnung ist! Zieh' auch das Kind an.«
Im nächsten Augenblick stürzte er schon wieder fort. Die Mutter hastete herein und legte dem Jungen seinen Festanzug zurecht. Nicht die prächtige ungarische Galauniform, die man für die Konzerte hatte anfertigen lassen, sondern seinen Sonntags-Kirchgangsanzug. Er zog sich folgsam an. Dann blieb er allein, weil die Mutter die nach der Straße gelegenen Fenster putzte.
Plötzlich fiel ihm das Schießpulver ein. Die Gelegenheit schien ihm günstig, den gefaßten Plan auszuführen. Er öffnete die unterste Schublade der unter dem Fenster stehenden großen Kommode, wühlte darin herum und stieß endlich mit den Fingerspitzen an das Gesuchte. Hastig zog er den kleinen, schwarz gewordenen Leinenbeutel hervor, in dem das Schießpulver aufbewahrt wurde. Er öffnete das Säckchen, griff hinein und nahm eine gute Handvoll von dem glatten, schwarzglänzenden Pulver. Er schüttete es in seinen Hut. Schnell nahm er noch eine Handvoll und, habgierig und unersättlich, noch eine. Endlich schnürte er den Sack wieder zu, legte ihn auf seinen Platz, schloß die Schublade und stand nun unschlüssig da, angestrengt nachdenkend, wie er jetzt zum Seppl Zirkel entwischen könnte.
Da kam aber auch schon der Seppl höchst persönlich. Sein rotes, sommersprossiges Gesicht blickte begehrlich und neugierig. Er brachte seine neuen Zeichnungen – denn der Seppl Zirkel zeichnete leidenschaftlich gerne – viel früher als sonst, um sie seinem Kameraden zu zeigen. Aber sehr schnell ging er auf die Frage nach dem Schießpulver über.
»Ich hab's«, sagte der Putzi geheimnisvoll und zeigte den mit Schießpulver gefüllten Hut, »was machen wir jetzt damit?«
»Das lassen wir jetzt explodieren«, antwortete der Seppl mit vor Aufregung funkelnden Augen.
»Aber wo?«
»Wir schaffen's zum Ententeich.«
»Das geht nicht. Ich habe heute mein Sonntagskleid an, und da darf ich nicht auf die Straße spielen gehen.«
Seppl schaute sich mit sorgenvollem Gesicht um:
»Dann müssen wir's hier machen.«
»In der Stube? Da fliegt doch das ganze Haus in die Luft!« »Wenn wir's in den Ofen stecken, kann nichts geschehen. Im Ofen ist ja sonst auch Feuer, und das schadet doch dem Ofen nichts.«
Seppl war so kaltblütig entschlossen, und die Sachlichkeit seiner Rede wirkte so überzeugend, daß es dem Putzi gar nicht einfiel zu widersprechen. Sie hockten sich vor den Ziegelsteinofen und öffneten die untere Türe. Erst versuchten sie, das Schießpulver aus dem Hut hineinzuschütten, aber das ging nicht. Da setzten sie den Hut auf die Erde und streuten das Pulver mit der Hand in den Ofen.
»Bring' jetzt aus der Küche Glut«, sagte der Seppl, die Stirne runzelnd, wie jemand, der eine wichtige Amtshandlung vornimmt.
»Wird aber auch wirklich nichts geschehen?« fragte der Putzi unschlüssig.
»Wenn du feige bist, dann können wir ja die ganze Sache lassen, mir ist das ganz gleichgültig.«
Da trottete der Putzi in die Küche und hoffte sehnsüchtig, daß auch im Herd keine Glut sein möge, – aber es war welche da. Nun ist alles gleich, dachte er, nahm aus dem neben dem Herd liegenden Holzhaufen einen dünnen Span heraus und hielt ihn in die Glut. Das trockene Holz fing sofort Feuer. Er rannte damit zurück in die Stube.
»Wie muß ich's nun machen?« fragte er den erfahrenen Seppl.
»Jetzt ziehen wir uns so weit zurück, daß du gerade noch an die Ofenöffnung langen kannst, dann hältst du den Span hin, und dann kommt gleich das Feuerwerk. Das gibt eine mächtige Flamme, und das ist großartig. Mir gelingt's immer.«
Sie legten sich beide vor der Ofenöffnung auf den Bauch, und der Putzi schob den am Ende glimmenden Span langsam auf das Schießpulver … Plötzlich ertönte ein ungeheurer Knall. Vor seinen Augen verschwamm alles. Im nächsten Augenblick wußte er nichts mehr. Er kam erst wieder zu sich, als seine Mutter entsetzt aufschreiend vor ihm stand, sich zu ihm neigte und ihm auf die Füße half. Zugleich schrie auch der Seppl entsetzt und erschrocken auf.
»Um Gottes willen, was habt ihr denn bloß angestellt?«
Die Mutter tastete den Jungen ab. Er blutete nicht. Sein Gesicht, seine Hände und sein Kleid waren aber so schwarz, wie wenn man ihn durch den Kamin gezogen hätte. Seppl verschwand schnell wie ein Wiesel, – er machte sich davon und ließ seinen Kumpan im Mißgeschick allein. Dem ging nur das eine durch den Kopf, daß zum größten Glück sein Vater nicht zu Hause war. Die Folgen des Unglücks konnte man ja schnell beseitigen … die Mutter würde ihn zwar bestrafen, aber dem Vater würde sie nichts sagen …
Doch es sollte anders kommen. Adam Liszt trat eben zur Tür herein.
Der Junge ergab sich in sein Schicksal und erzählte alles. Die Umgebung sprach auch für sich: um den Ofen herum war alles schwarz. In der Luft flogen auch immer noch schwarze Flocken umher … Und urplötzlich knallte die erste väterliche Ohrfeige, im Anschluß daran die zweite, dann die dritte und ungezählt die folgenden. Der Sünder fing an bitterlich zu weinen.
»Heule nicht«, schrie ihn der Vater an, »zeige deine Hände.«
Er hielt seine beiden verrußten Hände hin.
»Bewege deine Finger, einen nach dem anderen! Tut's weh?«
Vor Schluchzen konnte das Kind nicht antworten und schüttelte nur den Kopf. Der Vater hatte sich beruhigt: die Hände des Jungen waren in Ordnung, also war nichts geschehen.
»Schon gut, die Mutter wird dich sauber machen, dann kniest du dich zwei Stunden in die Ecke und bekommst heute kein Abendbrot. Übrigens …«
Es entstand eine Pause. Das Familienoberhaupt dachte nach.
»Machen wir's anders: wenn deine Mutter dich in Ordnung gebracht hat, kommst du mit mir vors Haus. Ich möchte, daß dich Seine Hoheit sieht, obwohl du es nicht verdient hast. Erst wenn die Kutsche vorbei ist, wirst du dich in die Ecke knien. Nun aber schnell, eins, zwei.«
Adam Liszt eilte hinaus. Die Mutter nahm den Sohn schweigend zum Waschen mit. Getröstet hatte sie ihn mit keinem Wort, aber die schaumbedeckten Hände berührten seine Wangen und seine Hände viel zärtlicher als sonst … Das verrußte, graue Kleid konnte er nun nicht wieder anziehen, aus dem Schrank kam die schöne ungarische Galauniform zum Vorschein.
Als er fertig war, schickte ihn die Mutter vors Haus. Da stand der Vater und spähte aufmerksam die Landstraße entlang. Seinem Sohn warf er nur einen kurzen, zürnenden Blick zu.
»Na, das kann man wohl sagen, du verdienst das teure Kleid …«
Dann beobachtete er weiter die Landstraße. Die Häuserreihen entlang sammelten sich vor jeder Tür die Bewohner: die Männer mit blauer Schürze, die Frauen mit dem Kopftuch. Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich ein Bauernkarren. Eben bog er von der Brücke auf die Landstraße, – ein Bauernjunge lenkte ihn.
»Zurück!« schrie Adam Liszt, »zurück! Kannst du nicht hören? Scher' dich zurück!«
Der Bauernjunge zog verdutzt die Zügel an und wich zurück. Zu gleicher Zeit eilte auch Mutter Liszt vor das Haus, auf dem Kopf ein sauberes, frisch gewaschenes Tuch und um die Hüften eine steife Schürze. Weit draußen auf der Landstraße zeigte sich eine das Nahen des großen Reisenden ankündigende Staubwolke.
»Schnell«, sagte Adam Liszt zu seiner Frau, »fass' die andere Hand des Jungen.«
Die Staubwolke wälzte sich heran, und es schälte sich eine prachtvolle Kutsche heraus. Vier feurige Pferde waren vorgespannt. Wie eine leuchtende Vision sauste das Gefährt dahin. Der Blick des Knaben erhaschte einen der sich im Wagen Gegenübersitzenden, den Herzog. Der Magnat sah weder nach rechts noch nach links. Er unterhielt sich mit einer der Damen … Und schon war die Kutsche vorbei, wiederum gefolgt von einer Staubwolke. Die Insassen konnte man nicht mehr unterscheiden.
Das Kind sah seinen Vater, der sich jetzt erst aus seiner tiefen, dienerhaften Verneigung hochreckte. Auf seinem Gesicht stand noch immer das krampfhafte Lächeln kriecherischer Unterwürfigkeit, als er der im Staubwirbel verschwindenden Kutsche nachblickte. Der Junge sah das mit brennendem Schmerz. Einen Augenblick lang überkam ihn eine rasende Wut. Am liebsten wäre er hinter der Kutsche hergerannt, um den Insassen ein beleidigendes Wort zähneknirschend ins Gesicht zu schleudern und dann den Vater mit stummer Verachtung zu messen …
»Marsch in die Ecke!« schrie ihn der Vater an.
Stumm und kleinlaut schlich er in die Stube. Dort kniete er in der Ecke nieder. Sein Gesicht brannte noch immer von den Ohrfeigen. Sein Inneres aber brannte ebensosehr von der Schmach dieses Bildes, das ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte: sein Vater barhäuptig dienernd vor dem dahinfahrenden Halbgott, der den Demütigen nicht einmal eines Blickes würdigte … Das kniende Kind atmete schwer; seine Augen starrten krampfhaft die Wand an. Es suchte in seiner Erinnerung nach einem schnellen Trost, nach einer Genugtuung um jeden Preis, die den verletzten kindlichen Stolz labend streicheln sollte, – und begann halblaut vor sich hin zu murmeln: »Am vergangenen Sonntag, am 26. dieses Monats, wurde dem neunjährigen Klavierkünstler Franz Liszt die Ehre zuteil, vor einer illustren Gesellschaft von Herrschaften des hohen Adels und Kunstfreunden im Palais des Grafen Esterhazy sein Können am Klavier zu zeigen. Die außergewöhnliche Fingerfertigkeit des jugendlichen Künstlers und seine schnelle Auffassungsgabe, – er spielte auch die schwierigsten Kompositionen, die man ihm vorlegte, vom Blatt, – erweckten allgemeine Bewunderung und berechtigen zu den großartigsten Erwartungen …«
So lautete die Mitteilung der »Städtischen Preßburger Zeitung« über sein Preßburger Konzert. Er konnte sie auswendig, Wort für Wort. Und während er dort in der Ecke kniete, flüsterte er mit trüber Rachsucht diesen Text vor sich hin …