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Zwanzigstes Kapitel

Die Kanone hatte ihn wie durch ein Wunder geheilt. Als ob sie ihm in die Ohren gedröhnt hätte: stehe auf und wandle. Und er stand auf und wandelte. Man hatte zwar nicht einen einzigen Grafen auf dem Grêve-Platz enthauptet, aus den blutigen Barrikaden war nicht einmal eine Republik geworden, der Thron blieb auch an seinem Platz, nur ein anderer setzte sich darauf: Herzog Ludwig Philipp von Orleans, der Senior der jüngeren Linie der Dynastie. Aber Franzi wurde gesund. Die Revolutions-Symphonie hob er sich auf, an die Juli-Tage dachte er wie an einen wunderbaren, heilsamen Traum zurück, von dem nur die Heilung geblieben war.

Nach der Teilnahmslosigkeit, mit der er zwei Jahre lang alles betrachtet hatte, was außerhalb seiner religiösen Schwärmerei lag, stürzte er sich nunmehr mit unersättlichem Hunger auf all die tausendfältigen Erscheinungen des Lebens. Als ob er erst jetzt bemerkt hätte, daß über seinem Kopf sich ein blauer Himmel wölbte und daß die Aste der Bäume längst grün geworden waren. Er trank förmlich alles mit den Augen. Aus einer zwei Jahre lang währenden Verzauberung fand er endlich heim. Er schaute um sich und stellte mit freudiger Verwunderung fest, daß er lebte, daß er neunzehn Jahre alt war und daß die Welt mit Millionen merkwürdiger und spannender Dinge angefüllt war. Mit einem Male wollte er auch alles essen. Er griff nach allem wie ein auf einen Spielwarenladen losgelassenes Kind, das statt zwei Händen hundert haben möchte …

Seine Unterrichtsstunden gestaltete er völlig um. Nun hatte er keine Angst mehr, in den Häusern der Aristokraten zu erscheinen. Die Gräfin Liline war nach ihrer Vermählung aufs Land übergesiedelt, und der Graf Saint-Cricq besuchte keine Gesellschaften. Jetzt hätte er auch ein Wiedersehen mit ihr ertragen können. Im Faubourg Saint-Germain verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer, daß Litz von heute auf morgen durch ein Wunder ein ganz anderer geworden sei. Er war nicht mehr so erschreckend närrisch, und man konnte sich mit ihm wieder wie mit einem normalen Menschen unterhalten. Briefe über Briefe kamen an, in denen man ihn um Unterrichtsstunden ersuchte. Er verlangte fünfundzwanzig Franken für eine Stunde, und in jedem Hause des Hochadels bewilligte man ihm diesen Betrag gerne. Es war jetzt auch eine ganz andere Sache, Stunden zu geben, als in den Zeiten der Bourbonen. Das freier gewordene, öffentliche Leben weckte auch die Unternehmungslust. In den Straßen von Paris war zum Beispiel schon vor zwei Jahren ein zur Beförderung von mehreren Personen ausreichender Gesellschaftswagen aufgetaucht, den man Omnibus nannte. Er wurde damals nicht volkstümlich. Jetzt aber hatten sich die Verhältnisse des Kleinbürgertums gebessert und es bildeten sich nacheinander verschiedene Linien der neugegründeten Verkehrs-Gesellschaften. Der Omnibus eroberte Paris. Dem Klaviermeister reichte jetzt das Geld für sechs bis acht Wege aus, während es früher für dieselbe Strecke mit dem Mietwagen nicht gereicht hatte. Auch das war reizvoll. Alles war reizvoll. Die Menschen waren auch alle interessant. Auf einmal hatte er hunderte und aberhunderte von Bekannten. Er besuchte wieder Gesellschaften, und es verging kein Abend, an dem er nicht eine Einladung bekommen hätte. In der Gesellschaft unterhielt man sich von Büchern; die Bücher fesselten ihn, er las sie alle. Das Lesen erweckte sein Interesse an den Schriftstellern; er fing an, die persönliche Bekanntschaft von Schriftstellern zu suchen. Die sprachen von Bildern und Statuen; er begann Bilder und Statuen zu betrachten und wurde auf Maler und Bildhauer neugierig. Überall wurde politisiert. Neue politische Bewegungen entstanden, die neuen Streit entfachten. Auch das reizte ihn. Er wußte nicht, wonach er greifen, was er zuerst anfangen sollte. Er sah, er fragte, er las, er interessierte sich für alles, und mit aufblitzenden Augen bestaunte er die tausenderlei Wunder der Welt.

Die Wände im Salon der Herzogin Belgiojoso waren mit schwarzem Samt bespannt. Auf schwarzem Grund glänzten silberne Sterne. Die Hausfrau war eine eigenartige Schönheit. Byzantinisch blaß das adlernasige Gesicht, umrahmt von blauschwarzem Haar. Einmal in der Woche versammelte sie die jungen Helden der neuen Richtung in Literatur und Kunst auf silberbeinigen Stühlen um sich.

Im Salon der Herzogin Rauzan hingen große Gobelins. Hier war die Hausfrau eine außerordentlich liebenswürdige, rundliche Dame, nicht einmal besonders klug, aber begeistert von den Schöpfungen moderner Kunst und Dichtung.

Diese beiden Damen wagten als erste, in ihre Salons die jungen Geistesgrößen als Gäste einzuladen. Die strengen Familien des Faubourg Saint-Germain waren ob dieser Kühnheit sprachlos. Der alte Adel blieb zum größten Teil auch jetzt noch der Bourbonenpartei treu. Aber in das kalte Zeremoniell der Lebensformen hatte die Revolution doch ein Bresche geschlagen. Bislang war der junge Litz der einzige Künstler gewesen, den die Familien des Hochadels an ihren Tisch baten. Nunmehr aber fanden sich auch schon sehr vornehme Häuser, die ihre Tore Dutzenden von Künstlern öffneten, wenn auch nicht bedingungslos. Victor Hugo war zum Beispiel der Sohn eines Generals, zwar von Napoleons Gnaden, aber doch berechtigt, den Grafentitel zu führen. Alfred de Musset war ein Adliger, fein Vater ein hoher Beamter im Kriegsministerium. Lamartine stammte ebenfalls aus einer sehr guten Familie und vertrat einst als Diplomat die Bourbonen in Florenz. Delacroix hingegen war weder adelig, noch Diplomat, sondern lediglich ein große Meinungsverschiedenheiten entfesselnder junger Maler. Und François Mignet, der zu den Besuchern der Herzogin Belgiojoso zählte, hatte Jahre hindurch in der Zeitung »National« die Bourbonen heftig bekriegt und verdankte es diesem Umstand, daß er nach dem denkwürdigen Juli zum Hauptarchivar des Außenministeriums aufrückte.

Mit allen diesen Leuten wurde der wie neugeborene junge Mann nach und nach bekannt. In jeder Gesellschaft war er der jüngste, aber auch der interessanteste. Jeder seiner neuen Bekannten fragte ihn lebhaft: wo er denn bis jetzt gewesen wäre? Er zuckte nur mit der Schulter und achtete gierig auf jedes Wort, um nicht die geringste Kleinigkeit, kein Urteil der öffentlichen Meinung, keinen Klatsch zu überhören. Eine ungeheure Wißbegierde trieb ihn, alles zu erfahren. Als er die Bekanntschaft des zwanzigjährigen Musset machte, fragte er ihn nach allen möglichen Einzelheiten der neuesten Literatur aus. Am anderen Tage jagte er schon nach der Bekanntschaft Victor Hugos. Er mußte unbedingt diesen leidenschaftlichen Kämpfer kennenlernen, der schon mit achtundzwanzig Jahren den Ruhm des bedeutendsten literarischen Namens in Paris für sich in Anspruch nehmen durfte. Und er mußte auf alle Fälle dahinter kommen, was eigentlich diese »romantische Schule« sei, als deren Führer der Dichter das ganze Land aufgewühlt und sich den tödlichen Haß der klassischen Alten zugezogen hatte, so daß diese die Hauptproben seiner Dramen mit Spionen beschickten. Als er mit dem hochstirnigen, feurigen, feierlichen Dichter bekannt geworden war, kaufte er sofort alles zusammen, was unter besten Namen erschienen war, und verschlang in einem Zuge all seine Werke. Dann schnappte er auf, daß in die schwarzäugige, schöne Adele, die Frau des Dichters, ein anderer Schriftsteller namens Sainte-Beuve wild und schmerzlich verliebt sei. Sofort beeilte er sich, auch diesen und seine Werke kennenzulernen. Sainte-Beuve erörterte mit ihm lang und breit die neuesten Fragen der Literatur und erwähnte unter anderem auch Lamartine. Franzi kaufte sich sämtliche Werke von Lamartine und lernte dann durch Mignet, der ein Verwandter des berühmten Diplomaten und Dichters war, Lamartine kennen. Im Hause Victor Hugos wurden Achille Dévéria, der hervorragende Zeichner, und Delacroix, der geniale und kühne Verfechter einer neuen, auf stärkste Farbwirkung berechneten Malerei, seine guten Bekannten. Er sprach mit ihnen über Malerei und befragte sie über den Sinn der neuen Richtung. Am nächsten Tage schon besuchte er den Louvre, um alles, was ihm die berühmten und großen Maler erzählt hatten, an den Bildern selbst zu studieren und seinem Gehirn noch bester einzuprägen. Er kaufte fortwährend Bücher, bunt durcheinander, ganz gleichgültig was, wenn es nur gedruckte Buchstaben waren. Nachts studierte er in seinem Bett das Lexikon mit atemloser Spannung, als ob es ein fesselnder Roman wäre. Im Omnibus blätterte er in einem naturgeschichtlichen Lehrbuch. Wahllos verschlang er alles Wissenswerte. Die Kraft seines Gedächtnisses setzte ihn selbst in Erstaunen. Nicht nur das Wesentliche, sondern auch die Einzelheiten alles dessen, was er gelesen hatte, vergaß er nie mehr.

»Verdirbst du dir nicht deine Augen?« mahnte die Mutter ständig, wenn sie nachts erwachte und ihren Sohn immer noch lesend vorfand.

»Ich gehe in die Schule, Mutter. Ich habe doch nie eine Schule besucht, und das Versäumte langer Jahre muß ich jetzt nachholen.«

Er ging nun auch öfter ins Theater. In der Gesellschaft hatte er eine Frau Goussard kennengelernt, die zu ihrem eigenen Vergnügen Gesang studiert hatte und von den italienischen Opern begeistert war. Die Loge von Frau Goussard stand ihm jederzeit zur Verfügung, und er nahm sie gern in Anspruch. Sein Verkehr mit Schriftstellern weckte auch sein Interesse am Schauspiel. Die Aufführungen der »Comédie Francaise« und des »Porte Saint-Martin« vermittelten ihm den Zauber der großen Schauspielkunst. Jetzt konnte er schon über Mlle. Mars oder Mme. Dorval und deren neueste Rollen plaudern.

Sein ganzes Herz hing aber unverändert und vor allen Dingen an der Musik und an der Religion. Sein menschenscheues Einsiedlertum hatte ihn bisher von Habeneck ferngehalten, jetzt freundete er sich mit ihm um so mehr an. Dieser Habeneck war der in Mezières geborene Sohn eines aus Mannheim stammenden Militär-Musikmeisters, der in französische Dienste getreten war. Habeneck war Direktor des Konzert-Orchesters am Konservatorium und zehrte in dieser Stellung immer noch von den Beethoven-Erinnerungen seiner Kindheit. Er kannte als Hauptzweck seines Lebens nur das eine: daß er Paris für Beethoven erobern müsse. Und das war gar nicht so leicht. Selbst Kreutzer, der erste Geiger, derselbe, dem Beethoven seine berühmte Sonate gewidmet hatte, rief ihm bei der Probe einer Beethovenschen Symphonie zornig zu:

»Lassen Sie uns in Ruhe mit dieser barbarischen Musik!«

Und auch der hochthronende Herrscher des Konservatoriums, Cherubini, vermochte sich zu keiner anderen Meinungsäußerung herabzulassen, als:

»Von dieser Musik bekomme ich ständig einen Niesreiz. Sie geht in meine Nase, statt in meine Ohren.«

Habeneck aber ließ nicht locker. Zäh nahm er in seine Konzertprogramme immer wieder Werke Beethovens auf. Und der junge Raidinger Pianist war ihm schon früher jedesmal behilflich gewesen, wenn er ihn darum gebeten hatte. Jetzt aber wurde er zu seinem eifrigsten und begeistertsten Mitarbeiter. Sie verbrachten Stunden über dem Studium der Symphonien, erschüttert von den unerschöpflichen, schönen Überraschungen der Partituren. Die »Neunte« studierten sie tagelang zusammen, bis in die kleinsten Einzelheiten, und das unerhörte Werk riß sie zu einer derartigen Begeisterung hin, daß sie sich vor dem Klavier mit Tränen in den Augen um den Hals fielen.

In einer solchen Beethoven-Stunde sagte Habeneck zu seinem jungen Freund:

»Am fünften bringe ich die Symphonie eines jungen Komponisten namens Berlioz. Versäumen Sie das nicht. Es ist eine außerordentlich interessante Arbeit.«

»Berlioz? Stand der nicht voriges Jahr einmal auf dem Programm? Ich erinnere mich nur ganz dunkel, daß das Stück mir sehr gefallen hatte.«

»Richtig. Es war ein Teil aus einer Goethe-Suite. Das neue Werk aber ist noch viel besser. Wenn Sie wollen, können Sie sich die Partitur ansehen.«

Franzi nahm sie mit nach Hause. Zwei Tage lang beschäftigte er sich mit ihr. Als er fertig war, ging er ins Konservatorium, erkundigte sich nach der Wohnung des Komponisten und suchte ihn sofort auf.

Er fand ein ärmliches Mietzimmer. Auf sein Klopfen öffnete derselbe rothaarige Mann die Türe, den er schon einmal im Konzertsaal von weitem gesehen hatte. Aus dem Zimmer strömte ein erstickender, durchdringender Duft, der Geruch von gerösteten Zwiebeln. Der Besucher nannte seinen Namen.

»Oh«, entschuldigte sich der andere lebhaft, »ich hätte Sie erkennen müssen! Bitte, treten Sie näher. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich bin gekommen, um Ihnen meine Glückwünsche auszusprechen. Habeneck gab mir Ihre morgige Symphonie zu lesen. Ich bin davon entzückt. Ich mußte Sie unbedingt kennenlernen. In diesem Werk ist irgend etwas, was mich sehr erregt hat.«

»Was ist das?« fragte Berlioz mit forschendem Blick, ein wenig mißtrauisch.

Franzi suchte mit schnellem Blick das Klavier, trat hin und schlug einen Akkord an.

»Das ist es. Ich kann davon nicht loskommen. Habeneck hat mir auch Ihre Erklärungen zum Text gegeben. Ich habe sie ebenfalls studiert. Sie sind genial.«

» Was ist genial? Aber verzeihen Sie, nehmen Sie doch bitte Platz. Erklären Sie mir, warum gefällt es Ihnen? Das ist mir außerordentlich wichtig. Stört Sie der Zwiebelgeruch nicht? Ich habe geröstete Zwiebeln sehr gerne. Meinen Bekannten ist es aber meistens sehr lästig.«

»Mich stört es nicht, braten Sie Ihre Zwiebeln nur ruhig weiter. Also, wenn ich es richtig verstanden habe, so handelt es sich bei Ihnen darum, daß in der Seele eines Künstlers das Bild der angebeteten Frau nie anders erscheint als im Zusammenhange mit einem musikalischen Motiv. Mit jenem, das ich vorhin angeschlagen habe. Dieses Motiv ist sozusagen das musikalische Bildnis dieser Frau. Wie Sie sagen: ›Leidenschaftlich, aber vornehm und zurückhaltend‹.«

»So ist es.«

»Also vor allem ist dieses musikalische Bild genial. In der Tat erschien mir das Bild einer leidenschaftlichen, aber vornehmen und zurückhaltenden Frau. Diese Auffassung hat mir einen ungeheuren Horizont erschlossen. Und dafür muß ich Ihnen herzlich danken. Sie sind der erste in der Musikwelt, dem so etwas eingefallen ist. Sie bieten der Musik dadurch Möglichkeiten, wie sie bisher nur der Literatur offenstanden. Das zweite und meiner Meinung nach gleichfalls Unerhörte ist, daß Sie dieses kleine musikalische Motiv durch die ganze Symphonie weiterführen. Immer jedoch in einer anderen Beleuchtung. Der erste Abschnitt ist die Verträumtheit. Der zweite der Ball. Der dritte, wo der Künstler halb hoffend, halb bangend über das Schicksal seiner Liebe nachdenkt. Dann der Tod der Frau mit dem Trauermarsch. Und endlich dieser teuflische › Danse macabre‹, wo die Frau im Reigen der Hexen erscheint. Das ist geradezu unerhört, mein Herr. Die Parodie des › Dies irae‹ in diesem Hexentanz hat mich so aufgewühlt, daß ich mich jetzt noch nicht davon erholt habe.«

Der rothaarige Mann mit den breiten Schultern und der auffallend großen Nase hörte ihm stumm zu. Man merkte ihm an, daß auch er erregt war, seine Nasenlöcher blähten sich, während er mit fest zusammengepreßten Lippen die Luft einzog. Endlich stieß er hervor:

»Sie verstehen das Ganze. Und ich habe gedacht, daß niemand es verstehen würde.«

»Und ob ich es verstehe! Ich bedaure jetzt sogar, daß ich die Erklärung gelesen habe, denn sonst könnte ich Ihnen jetzt eine große Freude bereiten: Sie könnten sehen, daß ich es auch ohnedies genau verstanden habe. Wie nennen Sie doch gleich dieses ständig wiederkehrende, durchlaufende Motiv?«

» Idée fixe.«

»Ja, richtig. Mein lieber Herr Berlioz, ich will Ihnen einmal etwas sagen: diese › Idée fixe‹ ist in der Musikgeschichte ein ganz gewaltiger, unabsehbarer Schritt, wie ihn schon lange niemand mehr getan hat.«

Berlioz betrachtete seinen Gast unverwandt und aufmerksam.

»Wie alt sind Sie, mein lieber Freund?«

»Neunzehn«, gestand dieser leicht errötend.

»Sonderbar. Ich habe das Gefühl, Sie sind fertiger und älter als ich, und ich bin schon siebenundzwanzig. Woher haben Sie diese unbegreifliche Reife?«

»Mein Gott, das ist nicht schwer zu erklären. Ich habe schon mit zehn Jahren angefangen, mein Brot selbst zu verdienen, wie es andere erst mit zwanzig Jahren zu tun brauchen. Ich bin also eigentlich alles in allem dreißig.«

»Merkwürdig. Was für ein Landsmann sind Sie? Ein Russe oder ein Pole, nicht wahr? Ich habe so etwas Ähnliches gehört …«

»Nein, ich bin Ungar, ich stamme aus Österreich. Aber sprechen wir doch nicht von mir, sondern von Ihnen. Wie sind Sie zur Musik gekommen und bei wem haben Sie gelernt?«

So begannen sie einander auszufragen. Immer tiefer, immer vertrauter wurden die Fragen. Die Stunden vergingen, sie kümmerten sich nicht darum. Sie gefielen einander sehr. Franzi erzählte von sich alles Wissenswerte und erfuhr von dem anderen, daß ihn sein Vater zum Arzt bestimmt hatte. Er kam auch nach Paris, ließ sich immatrikulieren, haßte aber das Sezieren und den Leichengeruch. Nach langen Kämpfen durfte er sich endlich auf dem Konservatorium einschreiben lassen. Acht Jahre lang hatte er mit der bittersten Not zu kämpfen. Jetzt hatte er wenigstens zu essen, nachdem er ein Stipendium erhalten. Mit diesem Stipendium würde er jetzt auch nach Italien reisen, und wenn er von dort zurückkomme, wolle er heiraten. Eine junge Klavierlehrerin namens Camilla Mock. Denn seine erste große Liebe zu Harriet Smithson, einer in Paris gastierenden englischen Schauspielerin, hatte mit einem Bruch geendet.

Nachdem sie einen ganzen Nachmittag miteinander verbracht hatten, mußten sie sich endlich trennen. Franzi hatte, als er nach Hause ging, den Eindruck, daß dieser außerordentlich begabte, innerlich zerrissene und maßlose Mann im Grunde seines Herzens noch immer die Schauspielerin liebte. Ihr galt auch diese Komposition, die er als phantastische Symphonie bezeichnet hatte. Die alte Liebe zerfleischte sich und klagte sich an in dem grausigen Hexentanz. Wie eigenartig: als er mit dem Schmerz seiner verlorenen Liebe focht, rettete er sich zu den Engeln, dieser aufgewühlte Mann zum Satan. Und in seinen verzerrt lächelnden Qualen hatte er etwas so Unerhörtes erfunden wie diese fortlaufende » Idée fixe«, die die bisherige maßgebliche Form der Symphonie vollständig zertrümmerte. Aber es war großartig!

Am Tage darauf fand das Konzert statt. Die Symphonie riß ihn durch den Schwung, mit dem Habeneck dirigierte, noch mehr mit. Wie alte Freunde fielen er und der Komponist sich in die Arme. Denn über den großen Erfolg konnte kein Zweifel bestehen.

»Wenn ich aus Italien zurückkehre«, sagte Berlioz froh, »suche ich Sie auf, und wir werden sehr gute Freunde, nicht wahr?«

»Wir sind es schon«, erwiderte Franzi lächelnd.

Als sie sich verabschiedet hatten, eilte er noch schnell zu einer Gesellschaft und dann nach Hause. Dort erwarteten ihn die Werke Goethes. Am Tage vorher hatte ihm Berlioz sehr viel von der Faust-Musik erzählt, und er hatte wohl oder übel gestehen müssen, daß er Goethe noch kaum kannte. Nun war es seine erste Aufgabe, sich an den »Faust« zu setzen.

Von dieser Zeit an wurde er überall der begeisterte Apostel Berlioz'. Er sprach überschwenglich von seiner interessanten, überwältigenden Begabung. Und wo es nur anging, erläuterte er am Klavier die Schönheiten dieser Kompositionen. Er tat es um so lieber, als er große Freude daran fand, alles, was ihm die Sprache der Partitur vermittelte, durch die Sprache des Klavieres wiederzugeben. Obwohl er zu dieser Zeit weniger übte, als sonst, kannte sein Spiel fast keine Unmöglichkeiten. Seine Finger verschwanden förmlich, es hatte den Anschein, als ob seine Gedanken am Klavier spielten. Er spielte so Klavier, wie einer, der unbefangen in seiner Muttersprache redet. Wo er hinkam, wurde der Name Berlioz bekannt. Denn die Begeisterung des ersten Klavierspielers der Welt wog viel, wenn von Musik die Rede war. Und während der Komponist mit Hilfe seines Stipendiums Monate in Italien verbrachte, wuchs sein Ruf in Paris immer mehr. Aber auch andere begannen ihm zu huldigen. So kannte Victor Hugo Berlioz schon seit längerer Zeit. Der kühne Komponist hatte an den revolutionären Demonstrationen der romantischen Schriftsteller teilgenommen. Liszt aber blieb es vorbehalten, Victor Hugo zu erklären, daß Berlioz dasselbe in der Musik anstrebe, wie er und seine Mitkämpfer in der Literatur.

Wie all die neuen gewaltigen Eindrücke sein musikalisches Empfinden erregten, beseelten und vertieften, so taten sich auch vor seinem religiösen Empfinden neue Wege auf. Vor noch nicht allzu langer Zeit war sein Glaube ein mystisches Steinkloster gewesen, in dessen undurchdringliche Finsternis er sich vor seinen Qualen rettete. Seine Leiden, die jetzt nur noch als sanfte Wehmut in seiner Erinnerung lebten, quälten ihn nicht mehr. Und er verließ dieses Kloster, um es zwar weiter in seinem Herzen zu behalten, aber von außen bei hellem Sonnenschein zu betrachten. Die tägliche Messe versäumte er auch jetzt nicht. Er bemühte sich aber, seiner Gläubigkeit einen verständigen Inhalt zu geben. Unerwartet hatte er das Leben liebgewonnen und jetzt suchte er nach der Harmonie zwischen zwei Dingen: er wollte glauben und gut sein und zugleich ein bewegtes, anregendes Leben führen.

Schon seit langem hatte er von den sogenannten Saint-Simonisten gehört. So nannte man eine neugebildete religiöse Sekte, über deren Lehren allerlei Trübes durchsickerte. Keiner konnte jedoch genau sagen, was diese Leute eigentlich glaubten und wollten. Seine Bekannten kümmerten sich nicht viel um diese anscheinend bedeutungslose Angelegenheit. Sie pflegten sie als unschädliche Narrheit friedfertiger und harmloser Schwärmer zu bezeichnen und taten die Sache mit einer wohlwollenden Geste ab. Er aber schöpfte Verdacht: das war sicherlich etwas, was interessanter war als all seine Schriftsteller, Maler und Musikfreunde. Wem er nun begegnete, den fragte er über die Saint-Simonisten aus. Er konnte nur soviel erfahren, daß ungefähr vor fünf Jahren ein gewisser Graf Saint-Simon gestorben war, der jedoch nicht identisch war mit dem berühmten Saint-Simon der großen Revolution. Dieser neue Saint-Simon hatte eine ganze Reihe von Büchern geschrieben, unter anderem auch eines unter dem Titel »Das neue Christentum«. Und einige seiner Anhänger gründeten nun eine Sekte, die nach seinen Grundsätzen die Gesellschaft, das Geistesleben und die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse neu gestalten sollte. Diese Grundsätze im einzelnen zu formulieren vermochte aber niemand, obwohl die Zeitungen schon seit Jahren über die sonderbare Bewegung berichteten.

Endlich machte er die Bekanntschaft eines Mannes namens Barrault. Dieser war vor der Juli-Revolution vom Lande nach Paris gekommen und hatte durch ein von ihm verfaßtes Theaterstück Aufsehen erregt. Auch ihn fragte Franzi, ob er etwas über die Saint-Simonisten wisse, und da stellte sich heraus, daß er diesmal an die richtige Quelle gekommen war, denn Barrault war einer der Führer dieser Sekte.

»Würden Sie nicht mit mir in einem Kaffeehaus Platz nehmen und mir den Sinn der ganzen Sache erklären?«

»Ich hätte keinen größeren Wunsch.«

Sie suchten eins der Kaffeehäuser am großen Boulevard auf und ließen sich eine Flasche Wein bringen.

»Also?« wandte sich Franzi neugierig an den Apostel.

»Ich bin zunächst außerordentlich glücklich, gerade Ihnen unsere Anschauungen erklären zu dürfen, denn ein Grundsatz unserer Lehren besagt, daß die Kunst das erste und wirksamste Mittel ist, eine neue Gesellschaft des Friedens und der Liebe aufzubauen und zu erhalten. Die Kunst ist nach unserer Lehre die weltliche Ausdrucksform der religiösen Gefühle.«

»Mit einem Wort, Religion und Kunst sind ein und dasselbe?«

»Unbedingt! Die wahre Kunst und der wahre Glaube selbstverständlich.«

»Das gefällt mir natürlich außerordentlich. Bitte erklären Sie mir das noch eingehender.«

»Gut. Beginnen wir von vorn. Wir streben an, die ganze Welt auf dem Boden des Christentums neu aufzubauen. Wir wollen das Reich Gottes auf dieser Erde errichten. Und das kann nichts anderes sein als ein Reich der Liebe. Im Grunde genommen ist das Ganze sehr einfach: wir müssen einander so lieb haben, wie Gott uns liebt. Einzig auf dieser Grundlage darf die ganze Welt aufgebaut werden und nicht auf Gewalt oder Vorurteilen.«

»Und ist das durchzuführen?«

»Wenn wir Christen sind, selbstverständlich. Alle Menschen kann ein einziger Gott, ein einziger Glaube vereinen, wenn wir einander lieben.«

»Gut, das verstehe ich. Es ist sehr schön. Es erscheint mir aber etwas abstrakt. Wie soll man das nun verwirklichen?«

»Wir werden es verwirklichen! Unser System ist sozusagen schon ausgearbeitet. Um Ihnen nur die hauptsächlichsten Gedanken zu vermitteln: jede Erscheinung unserer Welt können wir nach drei Richtungen beurteilen: ob sie wahr ist, ob sie schön ist und ob sie nützlich ist. Die göttliche Weisheit des christlichen Glaubens lehrt uns ja nicht umsonst die heilige Dreifaltigkeit. Dieser Glaube beruht auf einem wunderbar tiefen und doch so leicht zu begreifenden philosophischen Gedanken: die Dreifaltigkeit des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes ist die Dreifaltigkeit der Kraft, der Wahrheit und der Schönheit. Können Sie dem folgen, was ich sage?«

»Selbstverständlich. Sehr interessant.«

»Also müssen wir das Leben auf dieser Dreifaltigkeit aufbauen. Was ist schön? Der Glaube und die Kunst. Was ist wahr? Das Dogma und die Wissenschaft. Was ist nützlich? Die Volkswirtschaft und die allgemeine Bildung. Und der Gedanke der Dreifaltigkeit ist in jeder Gruppe für sich gleichfalls verwendbar. Sie interessiert zum Beispiel die Kunst am meisten. Die teilt sich wieder in drei Teile: Dogma, Religion und allgemeine Bildung.«

»Wie? Das ist mir nicht ganz klar.«

»Und ist doch ganz einfach. Die bildenden Künste dienen der Allgemeinbildung, sie sind also nützlich. Die Musik symbolisiert das Schöne, weil die edle Musik dem Begriff der Ewigkeit und der Unendlichkeit nahekommt. Sie wirft also einen Strahl der Weltharmonie in die menschlichen Herzen. Verstehen Sie das?«

»Ungefähr.«

»Wir betrachten den Künstler als einen Priester. Wenn er auch keine Soutane trägt, für uns ist er ein Priester.«

»Wie?« unterbrach ihn Franzi lebhaft, »wollen Sie mir das noch genauer erklären?«

»Gerne. Wir teilen in dem kommenden Musterstaat die Menschen in Klassen. In die erste Klasse gehören die Geistlichen. Jeder Künstler wird Mitglied der ersten Klasse. Ihre Aufgabe wird es sein, in den Menschen das Empfinden für das Schöne und Erhabene zu wecken und emporlodern zu lassen. Interessiert Sie das?«

»Sehr. Haben Sie diesen Saint-Simon persönlich gekannt?«

»Nein, ich habe aber sehr viel von ihm gehört.«

»Was für ein Mensch war das?«

»Ein göttlicher Mensch. Ich brauche Ihnen nur eins zu erzählen: jeden Morgen weckte ihn sein Diener mit den Worten: ›Vergessen Sie nicht, Herr Graf, daß Sie große Dinge vollbringen müssen!‹ Ist das nicht großartig? Im übrigen war er ein direkter Abkömmling Karls des Großen und hat auch dessen große, seelische Kraft geerbt. Er ließ sich lieber in ein Gefängnis sperren, als sich firmen zu lassen, denn das deckte sich nicht mit seiner Überzeugung.«

Franzi wurde stutzig:

»Wieso? Sie verleugnen also die katholische Religion?«

»Wir verleugnen nichts. Wer gut und rein ist, hat einen Platz unter uns. Sie würden mich sehr erfreuen, wenn Sie gelegentlich einmal einer unserer Zusammenkünfte beiwohnen wollten. Kommen Sie und überzeugen Sie sich von unseren Lehren! Und wenn es Ihnen gefällt, treten Sie in unsere Reihen.«

Franzi zögerte ein wenig. Er hatte über den Katholizismus keine klare Antwort bekommen, und das gefiel ihm nicht. Aber seine Neugierde war doch größer als sein Befremden.

»Gut, ich werde kommen. Wann soll ich kommen und wohin?«

Barrault erklärte ihm alles. Am Tage der Zusammenkunft, einem Donnerstage, suchte er das Haus auf, das an der Ecke der Rue Monsigny und der Passage Choiseul stand. Hier befand sich die Wohnung eines Herrn Enfantin, bei dem sich die Gläubigen versammelten. Unschlüssig sah er sich unter dem Tor um, er konnte sich aber nicht verirren, denn es kamen zahlreiche Menschen, alle mit blauer Krawatte. Das war das Abzeichen der Saint-Simonisten. Nur er trug keine blaue Krawatte.

Mit vielen anderen trat er ein. Barrault war schon da und erspähte ihn sofort.

»Kommen Sie, kommen Sie, ich werde Sie gleich den Vätern vorstellen.«

Der eine »Vater« war Herr Enfantin, ein seidenbärtiger, schöner Mann, der andere »Vater« ein sehr kurzsichtiger Professor namens Bazard. Auch eine »Mutter« war anwesend: Frau Bazard, die einzige Frau, die an der Versammlung teilnahm. Alle anderen waren die »Söhne«. Denn zu den Grundsätzen der neuen Sekte gehörte es auch, daß die ganze Menschheit eine einzige Familie sein solle. Voriges Jahr zu Weihnachten hatten sie die beiden »Väter« gewählt. Enfantin war der »Vater des Gefühles«, Bazard der »Vater des Verstandes«. Der Raum glich eher einem Salon als einem Versammlungslokal. Die Mitglieder begrüßten einander mit überschwenglicher Herzlichkeit, auf ihren Gesichtern glänzte durchgeistigte Freude, das Ganze schien ein einziges Freudenfest zu sein. Auch ihn empfing man sehr herzlich. Viele umarmten ihn, man drückte seine Hände und bot ihm Platz an. Einer duzte den anderen. Einen Bekannten sah er nicht in der ungefähr vierzigköpfigen Gesellschaft. Aber auf einmal rief er doch verwundert aus:

»Adolphe, sind Sie es? Pardon, bist du es?«

Nourrit stand vor ihm, der berühmte Tenor, der einst in seiner Oper gesungen und ihn vor dem Vorhang emporgehoben und geküßt hatte.

»Ich bin es. Ich freue mich von ganzem Herzen, dich hier zu treffen. Du wirst schon sehen, wie froh du hier unter uns wirst. Ich fühle mich hier zwischen meinen Brüdern wie neugeboren. Setz' dich neben mich, jetzt geht es los.«

Drei Stühle standen in einer Ecke des Salons. Dort nahmen die »Väter« und die »Mutter« Platz. Der Lärm legte sich, der Vater Enfantin erhob sich zum Vortrag. Er sprach ganz frei in der Art eines mit seinen Kindern plaudernden Vaters.

»Meine teuren Kinder, die ich mit der ganzen Wärme meines Herzens liebe, ich kann euch gar nicht sagen, mit welcher Seligkeit es mich erfüllt, daß ich mit euch zusammen sein kann. Und eine besondere Freude ist es für uns, daß heute ein glänzender Stern der Kunst in unserer Familie erschienen ist. Liebt ihr ihn?«

»Wir lieben ihn«, antworteten alle im Chor.

»Auch ich liebe ihn, weil er ein Künstler ist, also ein Stück von Gott in sich trägt. Und wenn ein Stück von Gott in ihm ist, dann ist auch Liebe in ihm. Diese Liebe, von der ich, das Thema der vorigen Zusammenkunft fortsetzend, heute sprechen will …«

Und so redete er weiter. Seine unwiderstehlich angenehme Stimme machte seinen Vortrag sehr anheimelnd, obwohl in seiner Rede weiter nichts enthalten war, als daß es unvergleichlich schön sei, wenn die Menschen einander lieb haben. Er brachte es aber fertig, diesen Gedanken auf hunderterlei Art zu formulieren, zu deuten und abzuwandeln, und endlich redete er sich in eine große Begeisterung hinein, daß er in Tränen ausbrach. Rings herum weinten viele andere mit. Als Vater Enfantin sich gesetzt hatte, gingen viele zu ihm, umarmten und streichelten ihn.

Nun erhob sich Vater Bazard, damit nach dem Gefühl auch der Verstand zu Worte komme. Dieser »Vater« sprach ganz anders. Mit eintöniger Sachlichkeit, mit der Stimme eines Professors, aber mit unantastbarer Logik. Schon nach wenigen Minuten konnte man feststellen, daß er einen scharfen und schneidenden Verstand besaß. Er erklärte, wie die Gesetzgebung in der neuen vollkommenen Welt aussehen werde. Das Parlament werde aus drei Kammern bestehen. Die erste sei die Entwurfskammer. Hier würden Künstler und andere, im Hinblick auf ihre starke Phantasie gewählte »Brüder« Zukunftspläne auszuarbeiten haben. Die zweite Klasse sei die erwägende Kammer. Hier werde der weise und gesetzte Verstand untersuchen und prüfen, welche von den vorgelegten Entwürfen zu verwirklichen seien. Und die dritte sei die Ausführungs-Kammer, wo Gewerbetreibende, Kauf- und Finanzleute, Juristen und so weiter die Einzelheiten der Ausführung auszuarbeiten hätten.

»Meine geliebten Kinder«, schloß Vater Bazard, »für heute habe ich den Unterricht beendet. Zum Schluß will ich zu eurer Erbauung die Worte des großen Saint-Simon zitieren: ›Die Birne ist reif geworden, ihr könnt sie nunmehr pflücken. Vergeßt aber nicht, daß große Taten nur von leidenschaftlichen Menschen vollbracht werden können!‹«

Auch diese letzten Sätze sprach er ruhig, leidenschaftslos und setzte sich. Auch ihn umarmte man, lobte und hätschelte ihn, als ob sie allesamt keine erwachsenen Menschen gewesen wären, sondern Kinder aus dem Kindergarten. Es war eine lustige Groteske, daß die »Väter« noch junge Männer waren, und unter den »Kindern« auch weißbärtige Greise sich befanden.

»Wer will sprechen?« fragte Vater Enfantin.

Ein pockennarbiger, rothaariger Mann stand auf. Er war zwar gerade sehr verschnupft, aber er wollte sprechen.

»Meine Geschwister«, sagte er vor Schnupfen stotternd, »ich … ich wollte sagen, daß … daß ich euch unsagbar lieb habe …«

Und damit brach er lächelnd in Tränen aus. Er setzte sich gleich wieder hin, und seine Nachbarn streichelten ihn und redeten begütigend auf ihn ein. Vater Enfantins klare Stimme ertönte:

»Und jetzt bitten wir den unter uns weilenden jungen Priester, er möge uns zu Gott emporheben. Meine liebes Kind Litz, segne uns alle in Liebe durch die Pracht der Musik.«

Franzi stand gefällig auf und trat zum Klavier.

»Was soll ich spielen? Irgend etwas Kirchliches?«

»Warum nicht gar! Unsere Kirche ist die Kunst und die Liebe selbst. Spiele irgend etwas, das ist ja sowieso Kunst, stammt also von Gott.«

Er dachte ein wenig nach, dann spielte er eine freie Phantasie über die auf der Idée fixe aufgebaute »Phantastische Symphonie« von Berlioz. Er spielte begeistert und mit dem verzehrenden Feuer, das jetzt schon immer in ihm loderte. Er fühlte, daß er alle, die ihm zuhörten, vollständig gefangen genommen hatte. Am Ende seiner Improvisation ging er auf den Hexentanz der Symphonie über, und in dessen zähneknirschendem, verwegenem, bitterem, wildem Rhythmus ließ er die Tasten erklingen. Doch alsbald besann er sich: diese gutherzigen, liebenswürdigen Menschen verdienten andere Töne, Töne der Liebe. Er sprang zurück auf die verliebte Stimmung einzelner Teile der Komposition und beschloß damit sein Spiel. Als er seine Hand von den Tasten gleiten ließ und sich umblickte, glaubte er eine Gruppe verrückt gewordener Leute zu sehen. Die Saint-Simonisten sprangen auf, fielen einander weinend um den Hals, schrien begeistert, rannten auf ihn zu, und acht auf einmal überfielen ihn mit ihren Umarmungen. Ein aufgeschossener junger Mann küßte schmachtend das Klavier, als sei er betrunken. Als die Begeisterung sich ein wenig gelegt hatte, kam Nourrit zu ihm:

»Was für eine Musik war das?«

»Ich habe aus der Symphonie meines Freundes Berlioz improvisiert. Hat es gefallen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt nicht, ob es gefallen hat?«

»Ich habe es nicht verstanden. Es hat mich aber so aufgeregt, daß ich noch jetzt am ganzen Körper zittere.«

Die Saint-Simonisten blieben noch beisammen, um einander ihr Herz auszuschütten und ihre Sorgen und Kümmernisse zu erzählen. Dem Ratlosen wurde Rat erteilt. Der Verzweifelte wurde getröstet. Es bildeten sich kleine Gruppen; die Saint-Simonisten liebten sich gruppenweise. Es war eine sonderbare Gesellschaft von festlich strahlenden Gesichtern, verzückt verrenkten Hälsen, sich gegenseitig drückenden Händen … während unten auf der Rue Monsigny der Pariser Alltag lärmte und tobte.

Als sie sich verabschiedeten, fragte Barrault ihn:

»Nun, mit welchen Eindrücken entfernen Sie sich?«

»Vielleicht komme ich bald wieder.«

Er verbeugte sich lächelnd. Dann stürzte er aber in großer Hast die Treppe hinunter, weil er sich zur Soirée der Herzogin Belgiojoso schon beträchtlich verspätet hatte.


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