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Weit draußen in der äußeren Stadt stand bescheiden das Gasthaus »Zum grünen Igel«. Eingeklemmt zwischen den Häusern der engen Gaste war es kein bißchen prächtiger oder geräumiger als diese. Nur das unterschied es von seinen Nachbarn, daß über seinem Tore an einer langen Eisenstange ein Blechschild hing. Die Zeit hatte die Farbe abgewaschen, niemand hätte erraten können, was es darstellen sollte, wenn nicht die mit verschnörkelten, gotischen Buchstaben eingeprägte Inschrift Auskunft gegeben hätte: »Gasthaus zum grünen Igel, Stiftgasse 92.«
In einem nach der Straße gelegenen Zimmer im ersten Stockwerk hatte die dreiköpfige Familie Unterkunft gefunden. Zuerst wollten sie nur einen Tag dort bleiben, bis sie eine Wohnung gefunden hätten. Aber der Vater überzählte sein Geld und tüftelte aus, daß sie bester dran wären, wenn sie in diesem billigen Zimmerchen blieben und keinen Haushalt führten. Den Morgenkaffee kochten sie im Zimmer, und zum Mittagessen ließen sie sich nur zwei Portionen bringen; die teilten sie so ein, daß auch noch etwas für den Abend übrig blieb. An Möbeln stellten sie nur das Klavier auf, alles andere brachten sie auf dem Boden des Gasthauses unter.
»Du brauchst dich um nichts zu kümmern«, sagte Adam Liszt zu seinem Sohne, »du sollst nur üben, bis ich einen Lehrmeister für dich gefunden habe.«
Er übte also in dem kleinen engen Raum, wo das große Klavier, die unzähligen Noten und die wenigen Sachen für ihren persönlichen Gebrauch soviel Platz beanspruchten, daß man sich kaum umdrehen konnte. Von der Stadt sah er nichts, da sowohl der Vater als auch die Mutter vollauf zu tun hatten und er allein nicht weggehen durfte, – es könnte ihn ja ein Wagen überfahren …
Aber schon am dritten Tage kamen sie ins richtige Geleise. Als der Vater zum Mittagessen nach Hause kam, sprudelte er aufgeregt die Neuigkeit hervor:
»Ich habe den Meister! Jeder Sachverständige sagt, man müsse bei Czerny lernen. Es wurde mir auch Sechter genannt, der früher im Blinden-Institut gearbeitet hat und jetzt Hofmusiker ist, – aber Czerny dürfte der beste sein!«
»Welcher Czerny?« fragte der Junge gespannt, »der, von dem …«
»Jawohl, derselbe, der die Etüden geschrieben hat. Heute Nachmittag gehen wir zu ihm. Nimm dich ordentlich zusammen, denn ich habe gehört, es sei gar nicht leicht, bei ihm als Schüler anzukommen.«
»Ja, Vater.«
»Wenn du schlampig spielst, nimmt er dich nicht oder läßt es sich sehr teuer bezahlen. Wenn du aber sehr schön spielst, macht er es sicherlich auch für billiges Geld. Und du weißt ja sehr gut, daß wir kein Geld haben.«
»Ja, Vater.«
»Na also.«
Mehr wurde darüber nicht gesprochen. Doch gleich nach dem Mittagessen begannen sie mit den Vorbereitungen. Die Mutter kämmte den Sohn mit besonderer Sorgfalt und bückte sich im letzten Augenblick noch, um seine Schuhe blank zu putzen.
»Das ist nicht nötig«, sagte der Vater, »die Straßen sind so matschig, daß wir doch bis an die Knie schmutzig werden, ehe wir in die Stadt hineinkommen.«
Als Vater und Sohn sich Hand in Hand auf den Weg machten, fing es an zu nieseln. Adam Liszt schlug den großen roten Regenschirm auf. Das Kind schmiegte sich näher an ihn, und so trotteten sie die endlosen Straßen stadtwärts. Es regnete hartnäckig und trostlos. Die Leute rannten über die Straßen, um sich irgendwo schutzsuchend unterzustellen. In manchem geräumigen Torbogen standen Frauen mit weiten Krinolinen und Männer mit hohen Zylinderhüten eng aneinandergedrängt. Ab und zu humpelte eine Marktfrau neben ihnen her, ihren Oberrock über dem Kopf zusammengeschlagen. Über das holprige Pflaster rasselten Kutschen mit aufgeschlagenem Dach. Die Insassen betrachteten die im Regen Gehenden mit der Gleichgültigkeit der Geborgenen. Vater und Sohn setzten unter ihrem roten Schirm unverdrossen ihren Weg fort. Es dauerte eine gute Stunde, bis sie die innere Stadt erreicht hatten, denn ab und zu mußte sich Adam Liszt auch nach dem Weg erkundigen. Er kannte sich in der riesigen Stadt nicht aus. Endlich fanden sie das gesuchte Haus, stiegen die Treppe hoch, stampften den Schmutz von den Füßen und stellten den Regenschirm, zum Trocknen aufgespannt, vor die Türe. Dann riß Adam Liszt an der Glocke.
»Ich will gleich nachsehen«, rief drinnen eine Frau, offenbar die Mutter des berühmten Mannes.
Sie warteten im Vorzimmer. In der Wohnung war es still, man hörte kein Klavierspiel. Sie unterhielten sich flüsternd.
»Scheinbar unterrichtet der Alte jetzt nicht«, sagte der Vater.
Da kam die Frau zurück:
»Mein Sohn bedauert außerordentlich, er empfängt nicht in Unterrichtsangelegenheiten, da es ihm leider unmöglich ist, neue Schüler anzunehmen.«
Durch das Herz des Jungen zuckte ein eisiger Schlag. Er fühlte seinen ganzen Körper erstarren.
»Bitte schön«, sagte Adam Liszt bestimmt, »gehen Sie hinein und richten Sie Herrn Czerny aus, daß ich ihn unbedingt persönlich sprechen müsse.«
Die Frau verzog das Gesicht, wollte etwas erwidern, zuckte aber nur die Schultern und verschwand abermals. Nach wenigen Minuten ging die Tür auf. Da stand ein Herr mit Brille, etwa dreißig Jahre alt.
»Ich bedaure außerordentlich«, begann er, »aber …«
Adam Liszt ging mit festen Schritten auf ihn zu, der Hausherr war gezwungen, ihm Platz zu machen. Und schon war er im Zimmer drinnen.
»Ich suche Herrn Czerny«, sagte er.
»Der bin ich.«
»Sie? Verzeihen Sie, das überrascht mich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der berühmte Czerny so jung sein soll. Ich suche den Musikpädagogen Czerny, bitte schön.«
»Ich sagte doch, der bin ich«, erwiderte der junge Mann trotz seiner Ungeduld lächelnd.
»Und seit wieviel Jahren belieben Sie zu unterrichten?«
»Seit fünfzehn.«
»Seit fünfzehn …? Wenn ich Sie nicht beleidige mit meiner Frage, bitte schön … wie alt belieben Sie zu sein?«
»Dreißig.«
Adam Liszt schüttelte seinen Kopf, kam dann aber schnell zur Sache.
»Bitte schön, Herr Czerny, mein Sohn, den ich zum Vorspielen mitgebracht habe …«
»Entschuldigung!« unterbrach ihn der Meister, »es ist schade um jedes Wort, es ist mir ganz unmöglich, einen neuen Schüler anzunehmen. Ich bin mit Stundengeben derartig überlastet, daß die wenige Zeit, die mir noch verbleibt …«
Er verstummte plötzlich überrascht und riß seinen Kopf herum. Der Junge war nämlich inzwischen, den stummen, aber dringlichen Wink des Vaters verstehend, zum Klavier geschlichen und hatte sich mit voller Wucht in die schwerste Czerny-Etüde gestürzt. Und sofort war er ganz versunken, kümmerte sich um nichts mehr und spielte mit unvergleichlicher Überlegenheit, wie wenn Gauß sich damit belustigt haben würde, das Einmaleins herzusagen.
»Was ist das?« preßte Czerny bestürzt hervor und trat zum Klavier.
Der Junge ging mit einer Passage von der Czerny-Etüde in jene Hummel-Komposition über, die er für das schwerste Vortragsstück hielt; er spielte begeistert und schaute gar nicht auf.
»Unerhört«, staunte Czerny und setzte sich auf den zweiten Klavierstuhl.
Und nun verfolgte er stumm und gebannt das Spiel des Kindes … Die Hummel-Komposition verklang. Erst jetzt sah das Kind zur Seite. In seinem Blick lag bettelnde Schmeichelei, zugleich aber eine kleine, listige Schadenfreude. Und dem Gesicht des berühmten Czerny merkte man es an, daß ihn die bewundernswerte musikalische Reife des Knaben ebenso überraschte wie dessen sicheres Benehmen.
»Wie alt bist du?«
»Zehn«, antwortete der Vater für den Sohn, »und bitte mir zu gestatten, daß ich mich vorstelle.«
Er beugte sich, nannte seinen Namen, seine Stellung und erzählte die Geschichte seiner tollkühnen Übersiedlung nach Wien.
»Mein Herr«, sagte er schließlich, »mein Leben ist ein verfehltes Leben. Ich wollte immer ein großer Musiker werden, konnte es aber nicht infolge meiner großen Armut. Doch was mir das Leben versagte, das möchte ich in diesem Kinde verwirklicht sehen. Für meinen Jungen bin ich zu jedem Opfer gern bereit. Ich und meine Frau haben kein anderes Lebensziel, als ihn zu einem großen Künstler ausbilden zu lassen. Was Sie jetzt gehört haben, ist noch gar nichts. Mein Sohn kann noch viel, viel mehr …«
»Bitte«, fiel ihm Czerny ins Wort, »davon wollen wir jetzt nicht sprechen. Ich übernehme Ihren Sohn. Es geht aber leider nicht anders: ich kann ihn nur abends unterrichten … Seit Schubert war ein solches Talent nicht mehr bei mir …«
»Hörst du das?« wandte sich der Vater an den Sohn.
»Kurz und gut, ich unterrichte Ihren Jungen. Wenn Sie mir Ihr Wort geben, niemandem etwas zu sagen, setze ich auch das Stundengeld bis auf die unterste Stufe herab. Sie zahlen für jede Stunde zwei Gulden. Ich gebe wöchentlich vier Stunden.«
»Soviel kann ich nicht schaffen. Für wöchentlich drei Stunden würde es reichen. Monatlich fünfundzwanzig Gulden, das könnte ich noch ermöglichen.«
»Bleiben wir zunächst bei zwei Gulden, das andere wird sich später zeigen. Wann soll die erste Stunde sein? Heute geht es nicht mehr, wollen mal im Vormerkkalender nachsehen … morgen geht's. Der Junge kann um halb acht Uhr kommen, ich pflege um sieben Uhr zu Abend zu essen. Eine andere Zeit habe ich nicht zur Verfügung. Ich will ihm meine Abende widmen.«
»Wie Sie wünschen, – und wenn es um Mitternacht wäre!«
Frau Czerny trat ein:
»Der Bote kommt mit Korrektur.«
»Er soll warten, ich bin gleich fertig. Also, wie gesagt, morgen Abend. Der Junge soll Schreibzeug und Notenpapier mitbringen.«
Auf dem Tisch lag eine Menge frisch beschriebener Notenblätter: bei dieser Arbeit hatte der Besuch den Meister gestört. Adam Liszt verneigte sich, Franz Liszt sprang vom Klavierstuhl, den er bis jetzt noch nicht verlassen hatte, und machte einen linkischen Kratzfuß. An der Tür schaute der Knabe sich nochmals um, sein Blick begegnete den erstaunten, ernsten Augen des berühmten Mannes.
»Es geht alles«, sagte Adam Liszt im Vorzimmer, »man muß es bloß wollen. Soll ich dich auf diese Freude hin in eine Konditorei führen? Wir warten dort, bis es aufgehört hat zu regnen.«
»Ich möchte schon sehr gerne«, antwortete das Kind zögernd, »aber die Mutter wird sicherlich aufgeregt auf uns warten.«
»Also gut, dann gehen wir nach Hause.«
Sie hoben den roten Regenschirm auf, von dem inzwischen eine Menge kleiner Pfützen auf den Steinboden abgetropft war. Es regnete noch immer in Strömen. Aber sie wateten unbeirrt eine Stunde lang wieder heimwärts.
»Wie wird denn nun das«, sagte der Vater, »mit diesem langen Weg? Du mußt ihn wöchentlich dreimal bewältigen. Und es wird abends zehn Uhr werden, bis du nach Hause kommst. In einer so großen Stadt können wir dich doch nicht allein gehen lassen.«
»Aber ja, Vater, – ganz sicher, ich bin doch schon erwachsen. Ich werde den Weg bald kennen, und sollte ich mich einmal verirren, dann frage ich mich schon durch. Vater, erlauben Sie mir doch, allein zu den Stunden zu gehen … Ich möchte das so gerne, wirklich …«
»Nun, wollen mal sehen.«
Als die Mutter die entscheidende Nachricht vernahm, umarmte sie die beiden unter Freudengeschrei so stürmisch, daß sie von den beiden Durchnäßten selbst ganz naß wurde. Aber Adam Liszt ließ ihr kaum Zeit für Gefühlsergüsse. Schon befahl er dem Sohn, sich ans Klavier zu setzen und zu üben.
Am Tage darauf ließ er ihn zur ersten Czerny-Stunde noch nicht allein gehen. Erst bei der vierten gab er nach. Und von der sechsten kam der Junge mit einer frohen Botschaft nach Hause:
»Vater, Herr Professor Czerny läßt Ihnen sagen: nachdem er mich jetzt zwei Wochen unterrichtet hat, sieht er ganz klar, wie weit ich es einmal bringen werde, und darum nimmt er für die Stunden von nun an kein Geld mehr.«
»Was ist los? Er will dich umsonst unterrichten?«
»Jawohl. Er sagte, er nähme nichts mehr an. Er läßt Ihnen bestellen, Sie möchten übermorgen auch mitkommen, denn er will mit Ihnen darüber reden, daß ich auch theoretisch lernen müßte. Er sprach von Harmonielehre, von Partiturlesen und dergleichen.«
Die Mutter fiel inmitten der großen Freude besorgt ein:
»Auch noch lernen? Das ist ganz ausgeschlossen. Wenn du deine Schulaufgaben machen willst und dann üben, dann zu Czerny gehen und dann noch das Neue studieren, – das hältst du einfach nicht aus. Du siehst ohnedies schon so aus, wie wenn die Seele in deinem Körper lediglich zum Schlafen einkehre …«
Adam Liszt beruhigte seine Frau:
»Geduld, Geduld, ich bin ja dazu da, all das zu erwägen. Vor allem soll sich das Kind jetzt sofort niederlegen, und wir beide gehen ein Weilchen hinaus auf den Gang.«
So hielten sie es immer, wenn irgendeine wichtige Angelegenheit zu besprechen war. Die Mutter schlief nämlich im Bett, der Vater auf dem knarrenden Sofa und dem Kinde hatten sie bloß auf dem Fußboden neben dem Klavier eine Lagerstätte herrichten können. Wenn die Eltern sich dann nach dem Zubettegehen noch unterhielten, konnte der Junge nicht einschlafen. Darum setzten sie zwei von den drei Stühlen hinaus auf den Gang mit dem eisernen Gitter. Es war ja auch schon Sommer, deshalb konnten sie sich dort zu dieser Zeit so lange unterhalten, wie sie nur wollten. So auch jetzt. Der Junge legte sich gehorsam nieder, und eine ganze Weile noch summte das gleichmäßige Flüstern der Eltern in seinen Ohren … Er wußte genau, worüber sie sprachen: in den letzten Tagen hatten sie nämlich schon dauernd nur darüber geredet, was neben der Musik mit der Schulbildung des Jungen werden sollte. Er hätte ja Geographie, Latein, Rechnen und alles andere ebenso weiter lernen müssen wie das Klavierspielen. Aber bisher hatten sie noch keinen Ausweg gefunden. In eine öffentliche Schule konnten sie ihn nicht schicken, weil das auf Kosten der Übungsstunden gegangen wäre. Und einen Hauslehrer konnten sie nicht halten, weil sie ihn nicht bezahlen konnten. Der Vater konnte ihn auch nicht unterrichten, denn er durfte ja mit gutem Gewissen nicht auf sich nehmen, etwas zu lehren, was er selbst schon längst wieder vergessen hatte. So grübelten sie und berieten unaufhörlich. Der Junge sagte nichts und wartete nur ängstlich darauf, wann er in irgendeiner Form mit diesem Lernen beginnen würde, das ihm aus ganzen Herzen zuwider war. Er wollte von nichts anderem wissen als von der Musik. Er sann und sann, welches Schicksal ihm nun beschieden sein würde … Endlich übermannte ihn der Schlaf. Als seine Eltern wieder hereinkamen, schlief er schon ganz fest.
Erst am anderen Morgen beim Kaffee erfuhr er das Ergebnis der nächtlichen Unterredung:
»Hör mal zu, mein Junge. Ich habe mich in der Nacht dazu entschlossen, dich außer von deinen musikalischen Studien von allem anderen vorübergehend zu befreien. Du wirst zu leicht krank, und ich möchte dich nicht überlasten. Auch bei anderen Jungen kann es vorkommen, daß sie ein Jahr verlieren. Ich betrachte also die Sache einfach so, als kämst du erst ein Jahr später in die Schule. Wenn du dann im Klavierstudium genügend fortgeschritten bist, kommt die Reihe wieder an die anderen Fächer. Ich will aber auf alle Fälle Czerny fragen, wie es die Eltern Mozarts seinerzeit gemacht haben.«
Der Junge war überglücklich. Seinen geheimsten Wunsch hätte das Leben nicht schöner erfüllen können … das Klavierspielen, ja sogar das andauernde Üben, betrachtete er bis jetzt niemals als Aufgabe, sondern als leidenschaftlich geliebte Unterhaltung. Lediglich nach den letzten zwei Czerny-Stunden verspürte er eine gewisse Unlust, daß der Meister alles untersagte, was von der unerbittlichen Maschinenmäßigkeit der Übungen abwich. Er dachte aber, daß sich das schon irgendwie ändern würde.
Adam Liszt besprach nunmehr die theoretische Ausbildung des Jungen eingehend mit Czerny, der den alten Italiener Salieri empfahl. Er nähme zwar gleichfalls keine neuen Schüler an, aber er würde sicherlich ebenso eine Ausnahme machen, wie er, Czerny, das getan habe. So war es auch. Sie hatten sich die Adresse des Meisters geben lassen und fanden einen weißhaarigen Mann von siebzig Jahren, der zwar schon über dreißig Jahre in Wien lebte, die deutsche Sprache aber immer noch mit auffallender italienischer Betonung sprach.
»Ick bin müde, mein Err, müde bin ick.«
Zuerst wollte er um keinen Preis die Ausbildung des Jungen übernehmen. Und für den sehr herzlich gehaltenen Empfehlungsbrief Czernys hatte er auch nur ein Achselzucken. Es erging ihm dann aber genau so, wie es Czerny ergangen war. Der Junge setzte sich ungefragt ans Klavier und fing an zu spielen … Innerhalb zehn Minuten hatte der bestürzte Alte sich gleichfalls bereit erklärt, den Unterricht umsonst zu geben, und erwartete die erste Stunde ungeduldiger als der Schüler selbst.
Jeden Tag, den der liebe Gott werden ließ, ging der Junge aus der entfernten Vorstadt zu Fuß in die Gegend des Stephansdomes. Einen Tag mit Lust und Liebe, den anderen Tag widerstrebend, denn zu Salieri ging er gern, zu Czerny aber nicht mehr.
Die Stunden bei Salieri waren außerordentlich anregend. Der Alte baute den Unterricht in der Harmonielehre auf kleineren Schöpfungen kirchlicher Musik auf. Es vergingen keine drei Unterrichtsstunden, und der Junge entdeckte mit freudigem Herzklopfen, daß man in der Musik beten könne. Seit er sich erinnern konnte, hatte er leidenschaftlich gerne gebetet, weil es ihm eine unendliche Freude bereitete, sein Herz auf schwärmerische Hingabe abstimmen zu können. Aber bis jetzt war das alles noch formlos gewesen. Sobald er zu beten anfing, füllte sich sein ganzes Innere mit einer glühenden Spannung, aber seine kleine Seele vermochte die in ihm waltenden Gefühle nicht zu gestalten. Durch den Unterricht des alten Italieners aber hatte er nun den Weg gefunden, wie man sein ganzes Empfinden harmonisch aussprechen könne. Diese Harmonien konnten singen. Sie stahlen sich in sein Herz bis in das geheimste Versteck ein, sie wühlten seine ganze innere Welt auf. Singend und summend lief er umher, und mehr als einmal rannte er auf der Straße gegen Menschen an, da er in verzückter Versunkenheit die Augen geschlossen hielt. Die Tonarten wurden auf einmal zu verschiedenartigen Personen, die man nur unter Wahrung strengster Etikette miteinander verkehren lassen konnte. Die Modulationen, die er aus dem unzulänglichen Vortrag seines Vaters erlernt, von Klassikern entlehnt oder instinktiv selbst empfunden hatte, erhielten auf einmal einen verständlichen Inhalt und ordneten sich in wundersam logischer Folge. Er erlebte das alles am Klavier wie einer, der zum ersten Male bei strahlendem Sonnenschein in all den Gegenden umherstreift, in denen er schon früher einmal bei undurchdringlicher Finsternis herumstolperte.
Überdies wußte der alte Italiener sehr reizvolle Sachen zu erzählen. Er war von Natur sehr gesprächig, und bei allem kam ihm sofort ein Erlebnis oder eine Anekdote in den Sinn. Er erzählte von seiner Kindheit in Legnano und von seinem ersten Lehrer, der zugleich sein leiblicher Bruder und seinerseits Schüler keines Geringeren als Tartini war, jenes berühmten Tartini, der die Teufelssonate geschrieben hatte. Oder er erzählte von Mozart, dessen so heftiger Gegner er einst war und dessen »Don Juan« seinerzeit seine Oper »Azur« glorreich besiegt hatte. Als Mozart gestorben war, habe man in Wien sogar munkeln hören können, daß er ihn vergiftet habe … Oder er frischte seine Erinnerungen aus der Zeit auf, als er noch Mitglied des Gesangchors der Markuskirche in Venedig war. Oder er erzählte, wie ihm sein Freund und Gönner Gluck geholfen hatte, seine Oper »Die Danaiden« in Paris zu inszenieren: sie schrieben damals »Gluck und Salieri« als Autoren auf den Theaterzettel, und erst als der große Erfolg da war, gaben sie bekannt, daß Salieri die Oper allein komponiert hatte. Das Kind lauschte mit offenem Munde und offenem Herzen diesen Geschichten, die ihm die buntschillernde Welt der Vergangenheit und der Zukunft zugleich öffneten. An den Tagen, an denen er Stunden bei Salieri hatte, fing er schon morgens an, nach der Uhr zu schauen …
Mit Czerny standen die Dinge anders. Czerny hatte ihn zunächst zwei Wochen ruhig spielen lassen, um ihn um so bester kennen zu lernen, und machte lediglich oberflächliche Bemerkungen. Nach Ablauf der ersten zwei Wochen begann er erst mit dem regelrechten Unterricht. Vor allem stellte er ein Metronom auf. Diesen tickenden Obelisk kannte der Junge noch nicht. Jetzt stand dieser feindselige, unbarmherzige Taktmesser am Klavier und achtete unbestechlich darauf, daß er sich seines Spiels nicht mehr freuen konnte. Sobald es ihn gelüstet hätte, vor einer merkwürdigen Auflösung der Melodie das Spiel zu verlangsamen, um die freudige Überraschung desto mehr genießen zu können, wies ihn das Metronom mit gefühllosem Neid zurecht, und mit der gleichen unausstehlichen Strenge hielt es ihn zurück, sobald er das anschwellende Perlen einer Passage entzückt beschleunigen wollte. Und Czerny selbst war so etwas wie ein Metronom in Menschengestalt.
»Was ist denn das? Was ist das für ein Ritenuto?«
»So ist es schöner.«
»So ist es nicht schöner. Nur das ist schöner, was pünktlich und vollständig ist. Spiele anständig!«
Er spielte mit Unlust weiter. Nach zwei Takten schlug Czerny wieder auf den Deckel des Klaviers:
»Was machst du, was machst du, was machst du bloß! Eine unglaubliche Nachlässigkeit. Steht da accelerando?«
»Nein, aber ich fühle es so.«
»Du hast nichts zu fühlen, sondern dich an das zu halten, was dasteht. Noch einmal das Ganze von vorn! Du sollst nicht in Gefühlen schwelgen, sondern dich bemühen, die Zweiunddreißigstel zu spielen. Denn die sind nicht gleichmäßig. Du spielst so nachlässig, daß es eine Schande ist.«
Der Junge übte stumm weiter. Er verlor aber immer mehr die Lust zum Ganzen, obwohl er anfänglich alles schön und reizvoll gefunden hatte, was er spielen mußte. Er wurde unruhig und reizbar. Sein Vortrag wurde noch schlechter als vorher. Jetzt griff er sogar daneben. Aber Czerny war nicht ungeduldig. Er ließ mit eiserner Unbarmherzigkeit die jeglichen Gemütes, jeglichen Lächelns und jeglicher Ergriffenheit beraubten und zu nackter Maschinenmäßigkeit entkleideten Notenreihen wiederholen.
Das Verhältnis zwischen ihnen wurde immer kühler. Und als Czerny zum Üben der Clementi-Etüden überging, schien dem Jungen das Leben überhaupt untragbar. Vom ersten Augenblick an war ihm der » Gradus ad Parnassum« verhaßt. Warum er gegen diese Übungen so leidenschaftlich aufgebracht war, hätte er selbst nicht sagen können. Als man ihm den ersten Band vorlegte, spielte er das Ganze von Anfang bis Ende ohne Fehler vom Blatt. Und als er fertig war, fragte er seinen Meister ganz bestürzt:
»Dieses leichte Zeug soll ich spielen?«
»Reg' du dich nur nicht auf. Diese Clementi-Übungen sind eben dadurch genial, daß sie so leicht sind. Denn jedes Stück entwickelt eine andere Fingersetzung, stärkt jedes Handgelenk abwechselnd, läßt immer wieder andere Finger arbeiten, – man muß sie bloß oft genug spielen. Erfolg kann immer wieder nur der Fleiß bringen. Wenn du es satt hast, so habe es getrost satt, die Hauptsache ist, daß du übst, – hundertmal hintereinander.«
Der Junge schluckte und übte, – zähneknirschend mit bitterem Haß. Er empfand es als Erniedrigung, diese lächerlichen Kindereien spielen zu müssen, und noch dazu als Sklave dieses arglistig tickenden Metronoms. Als ob man ein edles Rennpferd vor einen Pflug spannte, und ein ungeschlachter Lümmel stieße ihm dauernd seine Faust in die Flanke … Mit zitternder Ungeduld ersehnte er das Ende der Stunde. Zu Hause kam er aus dem Jammern nicht heraus. Sein Vater schnitt aber solche Gespräche kurzerhand ab:
»Czerny ist der beste Meister und weiß genau, was er tut. Wenn das seine Unterrichtsmethode ist, so wollen wir uns dagegen nicht auflehnen. Sei lieber dankbar, daß er dich umsonst unterrichtet.«
Der Junge schwieg. Er konnte ja nichts anderes als gehorchen. Und langsam begann er sich in sein Joch zu fügen. Das Lernen bei Czerny, das er zuerst als himmlische Wonne empfunden hatte, wurde ihm zur drückenden Pflicht. Ganz unbeteiligt erledigte er diese die Seele lähmenden, stundenlangen, vom Metronom unerbittlich begleiteten Übungen, die mit Musik nichts mehr gemein hatten und lediglich durch beschwerliche Fingersetzung bildeten und erzogen, um die zehn Finger von einander unabhängig zu machen. Kaum hatte er sich jedoch dieser Pflicht entledigt, so gab er sich selig dem Rausche der Salieri-Aufgaben hin. Er war in seinem Studium schon so weit fortgeschritten, daß er sich eines Tages ans Komponieren wagte. Er wollte nicht mehr nur eine Hausaufgabe lösen, sondern ein richtiges Tonwerk dichten wie die »Großen«. Salieri hatte ihn über kirchliche Musik ausgiebig unterrichtet. Er erläuterte ihm die einzelnen Teile der Messe, von denen ihn das » Tantum ergo« am tiefsten ergriff, jener Teil der Messe, der ihm schon in der Raidinger Dorfkirche am meisten ans Herz gewachsen war. Salieri schrieb ihm den Text ab:
Tantum ergo sacramentum
Veneramur cernui,
Et antiquum documentum
Novo cedat ritui.
Da er den lateinischen Text nicht ganz genau verstand, übersetzte ihn der alte Italiener: »Deshalb beten wir ein so heiliges Sakrament uns niederwerfend an, und die alte Überlieferung möge dem neuen Ritus weichen.« Das kleine Zettelchen legte der Junge vor sich hin und suchte in der Sprache der Töne all das wiederzugeben, was er in der Kirche in schwärmerischer Verklärtheit bei der Liturgie empfunden hatte. Bald schaute er aber auch nicht mehr auf das Zettelchen, sondern sah in sich hinein. Er lauschte der geheimnisvollen Messe, die in seinem Herzen erklang, von der er aber zunächst nur einzelne Teile zu erfassen vermochte. Er saß mit geschlossenen Augen am Klavier. Seine Hand lag unbeweglich auf den Tasten, während er in sich nach einer musikalischen Gestaltung dieser Melodien suchte. Zugleich genoß er die wunderbare Seltsamkeit des neuen Erlebnisses: zu komponieren, obwohl er noch nicht einen einzigen Ton niedergeschrieben hatte. Er empfand das Ganze gleichermaßen quälend und erhebend. Es war ihm, als sei er eben erwacht, fühle noch genau den soeben erlebten, eigenartigen Traum und könne ihn doch nicht in Worte fassen, nicht einmal in einen Begriff … So schwebte auch die Komposition in ihm. Wenn er danach griff, griff er in nichts, obwohl es sicher war, daß diese traumhaften Melodien irgendwo in den Falten seiner musikalischen Gedanken versteckt waren. Nach tagelanger Qual schrie er plötzlich auf wie einer, der mit seinem Hut einen Schmetterling einfängt und ausruft: »Ich hab' ihn!« Er ging gerade die Häuser der Wollzeile entlang, und die Erkenntnis kam mit derartiger Wucht über ihn, daß er stehen bleiben mußte. Mit einem Male stand die ganze Komposition fertig vor ihm, genau so, wie er das alles hatte wiedergeben wollen: die ganze Reihe der gefälligen Melodien schlängelte sich in mitreißender Harmonie zum letzten Septimenakkord durch und endete mit einem sieghaften Fortissimo. Hastig suchte er unter einem Torbogen Zuflucht, um in fieberhafter Erregung die gefundene Reihenfolge der Melodien in sich festzuhalten. Greifbar nahe vor seinen Augen erschienen die schwarzen Punkte der einzelnen Akkorde, die sich traubenförmig an die kleinen Fähnchen ansaugten, die zwischen den Notenwegen stehen. Ach, daß er ihm nur nicht wegfliegt, der wundersame Schmetterling, nun er ihn endlich gefangen! … Wie jemand, der auf dem Bürgersteig ein Schmuckstück gefunden hat und unter einen Torbogen schleicht, um seinen Schatz im geheimen zu betrachten, so zeichnete er sich dort sofort den Aufbau des » Tantum ergo« auf, das Notenpapier, das er bei sich gehabt, gegen die Mauer pressend. Zwei Wochen arbeitete er an seiner Komposition. Die Clementi-Übungen, die Hausaufgaben und die Stunden bei Czerny und Salieri ließen ihm nur wenig freie Zeit. Er schrieb das » Tantum ergo« für vier Stimmen mit Orgelbegleitung. Und schuf die ganze Komposition halb stehend, halb sitzend; denn was er im Kopf ausgearbeitet hatte, mußte er zunächst am Klavier ausprobieren, und um es dann endgültig niederzuschreiben, mußte er wieder aufstehen. Er war eben noch zu klein, um sitzend am Klavier schreiben zu können. In zwei Wochen hatte er es aber geschafft. Dann bettelte er bei seinem Vater solange, bis der ihm Geld gab, feines Notenpapier für die Reinschrift des » Tantum ergo« zu kaufen. Und als er fertig war, brachte er es klopfenden Herzens zu Salieri.
Der alte Herr ließ ihn sich ans Harmonium setzen.
»Kannst du den ganzen Orgelsatz auswendig?«
»Ja.«
»Dann spiele und gib die Noten her, damit ich den Gesang nachlesen kann.«
Der Junge spielte sein » Tantum ergo« von Anfang bis zu Ende. Er hatte überhaupt kein Lampenfieber. Fühlte nichts anderes als jauchzende Freude und hatte nur den heißen Wunsch, daß sein Werk auch Salieri gefallen möge. Der Alte summte leise mit. Als der Vortrag beendet war, blätterte er zur ersten Seite zurück und zeigte auf einen Takt:
»Was habe ich dir von der Subdominante gesagt?«
Der junge Komponist starrte erschrocken auf diesen Takt. Er sah den Fehler sofort. Wie er das bloß hatte verwechseln können?! Unbegreiflich! Aber Salieri ging schon weiter, schob den Jungen vom Harmonium weg, setzte sich selbst, und, auf eine Notenzeile der Komposition deutend, fing er das Tantum zu spielen an. Aber ganz anders, als wie es das Notenblatt vorschrieb. Das Kind hörte staunend seine eigenen Gedanken singen. Genau so, wie sie in ihm selber gelebt hatten, wie er sie aber nicht auszudrücken vermocht hatte. Was er geschrieben hatte, war drei Takte lang ein holperiges Stammeln; was Salieri spielte, war fließend und mitreißend.
»Gott, wie schön«, jubelte der Junge, »genau so hab' ich mir's vorgestellt.«
Hastig ergriff er das Notenblatt, lief zum Tisch und vermerkte bei den in Frage kommenden Stellen die richtige Lösung. Dann sah er den Alten fragend an. Der nickte nur und sagte mit gleichmütiger Stimme:
»Hervorragend. Man kann es drucken lassen.«
Mehr sprachen sie nicht über die Komposition. Und er schwelgte in dem lodernden Stolz, daß der berühmte und weise Salieri es für selbstverständlich hielt, wenn sein Schüler etwas Hervorragendes geschaffen hatte … Der Rest der Stunde verging mit Partiturlesen. Sonst liebte er das sehr und hatte seine Freude daran, mit einem einzigen Blick die weitverzweigten Sätze zu überblicken und zusammen zu fassen. Jetzt konnte er nicht aufpassen. Am liebsten wäre er schon zu Hause gewesen, um seine vervollständigte Komposition seinen Eltern vorspielen zu können.
Adam Liszt nahm das Manuskript zur Hand, während sich der Junge ans Klavier setzte. Die Mutter verfügte über keine musikalischen Kenntnisse, sie hörte nur so zu, wie ein unverständiger Konzertbesucher. Eine um so größere Sachkenntnis bewies der Vater. Er nickte lebhaft bei den einzelnen Absätzen, dann runzelte er die Stirne, dann wartete er mit betonter Aufmerksamkeit auf die Fortsetzung und zum Schluß faßte er sein Urteil folgendermaßen zusammen:
»All die Wochen hindurch habe ich ja zur Genüge gehört, wie du es aufgebaut hast. Ich finde es so ganz gut. Als ich vierundzwanzig Jahre alt war, habe ich ein » Te Deum« geschrieben. Das war aber eine größere Komposition für Orchester: zwei Violinen, zwei Oboen, zwei Klarinetts, vier Trompeten, zwei Waldhörner, Cello, Baßgeige, zwei Pauken und Orgel. Ich habe es Seiner Durchlaucht gewidmet, und er hat es auch angenommen. In der herzoglichen Bibliothek muß es heute noch vorhanden sein. Warte nur, ich will dir gleich alles erzählen, wenn ich mich noch zurückerinnern kann … laß mich mal zum Klavier …«
Es folgte eine lange, lange Erklärung. Der Junge hörte artig zu. Es schmerzte ihn aber doch sehr, daß man an diesem Tage nicht von seinem Werk soviel sprach, sondern von dem seines Vaters.
»Diese kirchliche Musik ist aber auch wunderbar«, sagte endlich der Vater versonnen. »Du kannst mir glauben, – darum vor allem war mir's leid, als ich mich entschloß, doch kein Franziskaner zu werden.«
In der Familie war es allgemein bekannt, daß Adam Liszt ursprünglich Pfarrer werden wollte, doch schon als Novize den Orden verlassen hatte. In seiner ganzen Erscheinung, im Ausdruck seines Gesichtes lag aber heute noch etwas Priesterhaftes. Der einstige Novize besann sich: es wäre doch wohl schicklich, nunmehr auch von der Komposition seines Sohnes zu sprechen.
»Aber um wieder auf dein » Tantum ergo« zu kommen: ich muß es wirklich sehr loben. Es ist ein vielversprechender Anfang. Nur immer so weiter auf dem beschrittenen Wege! Das Klavierspiel darfst du aber selbstverständlich auch nicht vernachlässigen. Wie weit bist du mit Czerny?«
Der Junge hob unlustig die Schultern:
»Dieser Clementi ist furchtbar. Er nimmt mir meine ganze Lust am Klavierspiel. So gern wie ich früher Klavier gespielt habe, so sehr ist es mir jetzt zuwider.«
»Was? Du spielst nicht gerne Klavier?«
»Nein. Ich hasse das Klavier. Ich liebe die Harmonielehre und das Partiturlesen, das Klavierspielen nicht.«
»Mein lieber Sohn, du jagst mir ja einen schönen Schrecken ein! Lernst du denn nicht mit Lust und Liebe bei Czerny?«
Das Kind fing plötzlich an zu weinen und fiel dem Vater um den Hals.
»Vater, nehmen Sie mich weg von Czerny. Ich halte das nicht länger aus! Ich übe Clementi nicht mehr … eher nehme ich mir das Leben …«
»Was ist los? Hör' mal zu, mein Junge, wenn du solchen Unsinn redest, setzt es eine Ohrfeige. Das wäre doch noch schöner …«
Die Mutter trat dazwischen. Sie zog den Kopf des schluchzenden Kindes an sich und streichelte es:
»Aber Adam, ausgerechnet jetzt mußt du das Kind schelten, wo es uns gerade seine erste Komposition vorgespielt … wie schön ist doch dieses » Tantum ergo« … wenn ich das in einer Kirche hören könnte, wäre ich ganz hingerissen … nun weine nicht mehr, mein Liebling, wir wollen den Vater mal schön bitten, mit diesem Czerny zu sprechen, vielleicht kann man doch etwas machen …«
Das Kind murmelte mit tränenerstickter Stimme:
»Es ist entsetzlich, dieses Üben nach Czernys Art … Ich bin noch so klein und hab' schon so furchtbar viel gelitten …«
Da lächelten Vater und Mutter.
»Warum sagst du denn nichts, du Esel«, polterte der Vater heiter, »ich kann doch nicht wissen, daß du so fertig bist! Morgen noch spreche ich mit Czerny.«
»Ja, aber gehen Sie gleich morgen früh hin, Vater, damit dieser Clementi schon erledigt ist, wenn ich abends meine Stunde habe.«
»Gut, gut, wollen sehen, jetzt geh' aber schlafen.«
Adam Liszt sprach am anderen Tage tatsächlich mit Czerny. Als der Junge zur gewohnten abendlichen Stunde zum Meister kam, betrachtete dieser ihn lange mit stummem Vorwurf:
»Eine schöne Sache ist das, kann ich dir sagen! So einer bist du? Von dem kleinen bißchen Clementi bist du schon kaputt? Setz dich mal hin und spiele mit beiden Händen eine chromatische Skala, – über das ganze Klavier hinweg. Prestissimo und Glissando.«
Das Kind griff in die unterste Oktave und dröhnte aufwärts bis zum Schluß wie ein tobendes Gewitter.
»Siehst du. Und nun besinn dich mal: wie hast du dasselbe gespielt, als du zu mir kamst? Holperig, ungleichmäßig, hinkend, torkelnd. Wem verdankst du das? Diesem unausstehlichen Clementi. Aber ich will dich zu nichts zwingen. Was der Mensch ohne Lust und Liebe tut, drauf ruht kein Segen. Von nun an werden wir Cramer versuchen. Aber nur, wenn du mir hoch und heilig versprichst, daß du so fleißig arbeiten wirst wie ein Engel.«
»Ich verspreche es.«
»Na, wir werden ja sehen. Jetzt fehlt wirklich nicht mehr viel dazu, daß du öffentlich auftreten kannst. Ich rechne damit, daß du im November fertig bist, und dann geben wir das erste große Konzert, damit ihr leben könnt.«
»Ich hab' schon in Wien gespielt …«
»Das ist nichts. Ich denke an ein ernstes, vorbereitetes Konzert mit Plakaten, mit einer ordentlichen Vortragsfolge, mit Zeitungsbesprechungen und Kritikern. Wenn du fleißig arbeitest, wage ich es, dich noch dieses Jahr herauszustellen. Und wenn alles gut geht, steht dir die ganze Welt offen. Mit deinem Vater habe ich schon darüber gesprochen. Du sollst nur auf mich hören und nicht alles besser wissen wollen. Ich für mein Teil will dich nicht mehr mit Clementi quälen, du für dein Teil sei aber mit Leib und Seele bei der Sache. Du arbeitest ja auch nicht für mich, sondern für dich selbst. Also nun los, was war für heute vorgeschrieben?«
Der Junge setzte sich beflissen zum Klavier. Er fühlte sich erlöst und bemühte sich aus ganzem Herzen, dem Meister alles recht zu machen. Als er an dem rauhen Herbstabend durch die dunklen Straßen nach der äußeren Stadt zu wanderte, summte er selig die Melodie seines » Tantum ergo« vor sich hin. Das Leben war wieder schön und spannend!
Zu Hause erwartete ihn eine neue Freude, die Post hatte eine große Neuigkeit gebracht: Adam Liszt hatte schon vor langer Zeit ein Gesuch an den Herzog gerichtet, er möge ihm eine bescheidene Wohnung in einem der zahlreichen, zu dem unermeßlichen Besitz der Esterhazys gehörigen Häuser zuweisen, damit sein Sohn nicht gezwungen wäre, täglich stundenlang in die Stadt und zurück zu wandern und mehr Zeit auf das Lernen verwenden könnte. Dieses Gesuch hatte der alte Salieri, der dem Herzog persönlich bekannt war, durch ein begeistertes Empfehlungsschreiben unterstützt. Und jetzt kam die Mitteilung von der Direktion der Verwaltung der Esterhazy-Ländereien, daß Seine Durchlaucht eine aus zwei Zimmern bestehende Freiwohnung genehmigt habe für den vorübergehend beurlaubten Schäferei-Rentmeister Adam Liszt und seine Familie in der inneren Stadt, Kruegerstraße 1047, zweite Etage. Die Eltern strahlten vor Freude. Czerny und Salieri wohnten auch in der Nähe dieses Hauses.
»Es kam im letzten Augenblick«, sagte Adam Liszt, »dieses Zimmer hätten wir für die nächste Woche nicht mehr bezahlen können, und zum Verkaufen haben wir auch nichts mehr.«
In den Lichtschein der Lampe starrend, schwieg er lange, dann sah er seinen Sohn an:
»Wenn dein Konzert Erfolg hat und du anfängst zu verdienen, sind wir gerettet. Hat es keinen Erfolg, ist alles aus. Dann haben wir nichts mehr zum Leben und müssen nach Raiding zurück. Strenge dich also dementsprechend an. Hm? Warum antwortest du nicht?«
Das Kind antwortete nicht, weil es im Sitzen vor dem Tisch eingeschlafen war, so müde war es.