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Siebzehntes Kapitel

Komtesse Liline war im Louvre gewesen. Am nächsten Tage konnte sie ihrem Liebsten nicht genug vorschwärmen: sie hatte eine Vase gesehen, die den »Orpheus« darstellte …

»Sie müssen unter allen Umständen diesen Orpheus sehen. Eine Königskrone ziert seine Schläfen. Der Umhang, den er trägt, ist mit Sternen besät, sein Mund ist geöffnet. Er spielt auf der Leier und singt dazu. Der ganze Orpheus, wie er da steht, sind Sie. Aber so ganz und gar Sie, daß mich bei dieser Erkenntnis ein Schauer überlief. Wann haben Sie Zeit, daß wir uns das zusammen ansehen können? Ich möchte es so gerne mit Ihnen gemeinsam betrachten.«

Sie verabredeten den Tag und die Stunde. Spät am Abend aber traf ein Brief aus dem Palais Saint-Cricq ein: »Meine Mutter ist sehr krank. Wir müssen die nächsten Stunden ausfallen lassen. Kommen Sie nicht. Beten Sie für meine Mutter, die Sie herzlich grüßt. Ewig unverändert C. S.«

Insgesamt drei Tage währte das sorgenvolle Warten. Er ging zweimal täglich ins Palais, um sich bei dem griesgrämigen Pförtner nach dem Befinden der Gräfin zu erkundigen. Baptiste antwortete stets: »Der Zustand der Frau Gräfin ist unverändert schlimm.« Am vierten Morgen sagte er: »Die Frau Gräfin ist gestorben.« Franzi blieb neben der Loge des Pförtners unter dem vornehmen, düsteren Torbogen stehen und glaubte sich vom Blitz getroffen. Sein erster Gedanke war, die Treppen hinaufzustürmen, um die Hand des schluchzenden Mädchens zu streicheln. Jetzt gehörte er doch an ihre Seite. Aber es kamen fremde Leute, wahrscheinlich, um ihr Beileid auszusprechen. In den Torweg bog eine Kutsche ein, und auf dem Gesicht des Pförtners konnte man deutlich lesen, daß der junge Klavierlehrer jetzt im Wege war. Er wandte sich um und stahl sich mit gesenktem Kopf ins Freie. Was sollte nun werden? Der Grundpfeiler seiner Liebe, seine stärkste Hoffnung, die gütige Hüterin einer schönen Zukunft, hatte von der Welt Abschied genommen. Das junge Mädchen blieb allein mit dem Vater und den Brüdern, die ihm gegenüber vollständig gleichgültig waren. Er hatte sie kaum ein- oder zweimal gesehen und war von ihnen mit starrer, eisiger Höflichkeit behandelt worden.

In diesen Tagen versäumte er alle Unterrichtsstunden. Er verbrachte ganze Vormittage und Nachmittage in irgendeiner Kirche. Woher er auch kam, wohin er auch ging, immer fand er sich schließlich vor dem Palais Saint-Cricq, obwohl er dort nichts zu suchen hatte. Rastlos und untätig schlich er um das Haus herum, sah die stummen Fenster an und ging dann weiter beten.

Zum Begräbnis erschien er nicht. Er hatte lange mit sich gekämpft, nahm aber am Ende doch nicht daran teil. Es war ihm unerträglich, das junge Mädchen hinter dem Sarge stehen zu sehen, ohne daß er sich hätte neben sie stellen können. Er malte sich aus, wie der Ministerpräsident Martignac an der Bahre erscheinen, wie er den einzelnen Mitgliedern der Familie sein Beileid aussprechen würde … Und dann kommt in Vertretung des Königs der Herzog Durras oder De Vibraye oder De Damas, die große Schar der Aristokraten gibt den Weg frei, und die Komtesse Liline begrüßt ihn mit einer tiefen, höfischen Verbeugung. Lauter Grafen, Marquis und Herzöge, zwanzig, dreißig, fünfzig! Und er allein darf nicht mit dabei sein, er, der der verstorbenen Frau näher stand als alle anderen … er, dessen Seele, dessen Leben, dessen ganze Welt eins ist mit der Seele, dem Leben und der ganzen Welt des neben der Bahre trauernden Mädchens …

Zehn Tage lang erhielt er nur ganz kurze Mitteilungen in wenigen Zeilen. Es waren in aller Eile hingeworfene Worte: »Mein Herz ist bei Ihnen und blutet. C.«, oder es stand auf dem feinen Papier geschrieben: »Ich bete Sie an. C.« Am zehnten Tage erhielt er vom Sekretär des Grafen einen Brief: der Herr Graf lege Wert darauf, daß die musikalischen Studien der Komtesse fortgesetzt würden, deshalb solle Monsieur bemüht sein, die Stunden von morgen ab in der alten Ordnung wieder aufzunehmen …

Er ging hin. In dem ihm so wohlbekannten Salon trat das junge Mädchen in Trauerkleidung vor ihn hin. Sie reichte ihm nicht einmal die Hand, und er war ihr dankbar dafür. Der nach den strengen gesellschaftlichen Regeln vorgeschriebene, flüchtige Händedruck wäre ihm nur schmerzlich gewesen, wenn sie sich nicht wie früher fest, zärtlich und aufmunternd lange, lange bei der Hand halten konnten. Daran war aber nicht zu denken, denn auf dem verwaisten Platz der Mutter saß jetzt eine stark gepuderte alte Dame.

»Gestatten Sie mir, liebe Großtante, daß ich Ihnen meinen Meister, Herrn Liszt, vorstelle.«

Die alte Dame nickte würdevoll und ernst, der Trauer entsprechend. Augenscheinlich hatte sie während der Unterrichtsstunden die Pflichten der unvermeidlichen Gardedame zu erfüllen. In ihrem Schoß lag ein Buch. Nachdem sie durch ihr Lorgnon den Klavierspieler aufmerksam gemustert hatte, wandte sie sich sofort wieder ihrem Buch zu, damit gleichsam andeutend, daß dieser junge Mann sie nichts anginge, sie säße lediglich von Amts wegen hier …

Sie setzten sich ans Klavier. Das junge Mädchen begann zu spielen.

»Das ist ja fürchterlich«, flüsterte der junge Mann, »können wir nicht sprechen?«

»O ja, seelenruhig. Sie hört schwer.«

»Haben Sie mich lieb?«

»Ich bete Sie an.«

»Haben Sie viel gelitten?«

»Ich leide auch jetzt noch. Wenn Sie nicht wären, wäre ich vielleicht gestorben.«

»Was wird nun aus uns werden?«

»Wir wollen vertrauen und beten. Die arme Mama hat sogar in ihrer letzten Stunde noch an unser Glück gedacht. Es ist etwas sehr Bedeutendes vorgefallen.«

»Was?«

Das junge Mädchen spielte ununterbrochen. Sie sahen sich nicht an, und ihre leise Stimme konnte die alte Dame nicht vernehmen.

»Die Mama hat dem Papa alles gesagt.«

»Alles?«

»Ich erzähle es Ihnen Wort für Wort. Ich war dabei. Wir wußten, daß es mit der Mutter zu Ende gehe, auch sie wußte es. Sie war nicht mehr imstande, ihre Hand zu bewegen, aber sie hatte noch Kraft genug, um zu sprechen. Sie gab den Brüdern einen Wink mit den Augen. Wir verstanden, daß sie nur mich und den Papa bei sich haben wollte. Als die Brüder gegangen waren, faßte ich ihre Hand. Und sie sagte zum Papa: ›Mein Lieber, ich habe eine letzte Bitte an dich. Liline und Liszt lieben sich. Gib deinen Segen, daß sie glücklich werden.‹ Man konnte ihre Worte kaum verstehen, so leise sprach sie. Papa antwortete: ›Ja, mein Liebling, selbstverständlich, du darfst jetzt nicht sprechen.‹ Da schloß die Mama ihre Augen und hat sie nicht wieder geöffnet. Die Brüder kamen dann wieder herein und standen um das Bett. Ich habe ihr bis zum Schluß die Hand gehalten. Ungefähr eine Stunde danach war sie verschieden. Man hat es kaum merken können.«

Die flüsternde Stimme des jungen Mannes wurde vor Erregung heiser:

»Also hat der Graf seine Zustimmung gegeben?«

»Ich kann mich nicht ganz zurechtfinden. Mit mir hat er noch nicht darüber gesprochen. Er erwähnte den Vorfall mit keinem Wort, fragte auch nicht. Gestern hatte ich beschlossen, davon anzufangen. Ich ging zu ihm und bat ihn, mich die Klavierstunden fortsetzen zu lassen. Er nickte nur, ließ sofort seinen Sekretär kommen und hieß ihn, Ihnen zu schreiben. Mehr ist nicht geschehen.«

»Woran sind wir denn nun?«

»Ich weiß es nicht. Es ist möglich, daß Papa einverstanden ist. Er will vielleicht bloß jetzt noch nichts sagen. Es ist aber auch möglich, daß er die letzte Bitte der Mama gar nicht verstanden hat und nur irgend etwas darauf erwiderte. Wir werden es ja sehen. Das einzige, was wir tun können, ist: geduldig warten.«

Sie warteten. Die Unterrichtsstunden liefen bald wieder regelmäßig weiter. Dabei gab es allerdings eine große Veränderung. Die Komtesse hatte die Großtante, der der beschäftigte Vater restlos die Sorge für das junge Mädchen anvertraut hatte, überreden können, die Stunden auf die Zeit nach dem Diner zu verlegen. Im Schloß wurde das Diner um sechs Uhr serviert. Das junge Mädchen und die Großtante aßen für sich, und so konnte um halb sieben Uhr die Stunde schon beginnen. Die Großtante war damit sofort einverstanden, ihr war das gleichgültig. Aber ihnen war es nicht gleichgültig. Franzi hatte abends keine Stunden mehr zu geben und konnte deshalb so lange bleiben, wie er wollte. So konnten sie von halb sieben bis halb acht Uhr musizieren und sich sogar bis neun Uhr noch unterhalten. Jeden Tag um halb sieben Uhr erschien der junge Mann pünktlich im Palais. Schon am dritten Tage schlief die Großtante gegen acht Uhr im großen Lehnstuhl ein. Sie hatte bis jetzt auf dem Lande gelebt und war gewöhnt, früh um vier Uhr zu erwachen. In diesen Abendstunden war sie dann unüberwindlich müde.

»Warum legen Sie sich nicht zu Bett?« schrie ihr die Komtesse ins Ohr. »Warum quälen Sie sich hier im Lehnstuhl? Liszt bleibt noch eine Viertelstunde hier, dann gehe auch ich schlafen.«

Die Tante zögerte zuerst. Aber einerseits hatte sie den jungen Mann sehr lieb gewonnen, und andrerseits tat ihr nichts so wohl, als früh zu Bett gehen zu dürfen.

»Ich weiß nicht, was dein Vater dazu sagen würde …«

»Ach, überlassen Sie das ruhig mir. Legen Sie sich nur schlafen.«

Endlich besiegte auch die Sehnsucht nach dem Schlaf die Bedenken der alten Tante. Sie ging. Und die beiden blieben allein. Sie unterhielten sich bis neun Uhr. Und das von da ab jeden Tag. Schönere und seligere Abende hätten sie sich nicht einmal erträumen können. Zu Anfang der Klavierstunden saß die Tante anstandshalber ein bißchen herum, dann nahm sie ihr Buch, ihr Lorgnon, ihre Schnupftabaksdose, ihren Rosenkranz und verschwand lautlos.

Das waren lange, lange Wochen unbeschreiblicher Seligkeit. In den vertrauten Abendstunden offenbarten sie sich gegenseitig ihr geheimstes Innenleben, als ob sie eine starke Sehnsucht nach vollkommener seelischer Nacktheit triebe. Sie erzählten sich alle nur denkbaren Einzelheiten ihrer bisher verlaufenen siebzehn Jahre. Nach und nach kannten sie sich so genau, daß sie manchesmal beide überrascht waren. Wenn eines irgend etwas erzählte, ergänzte das andere es sofort durch Namen, Daten, die es schon auswendig wußte. Ihre Liebe wuchs von Tag zu Tag. Jeden Tag waren sie überzeugt, den höchsten Gipfel ihrer hingebungsvollen Schwärmerei erreicht zu haben und fühlten trotzdem am anderen Tage, daß sie sich noch viel lieber hatten.

Der junge Mann bildete sich mit leidenschaftlichem Fleiß. In der Musik führte er das junge Mädchen, im Lesen aber war sie die Führerin. In planvoller Reihenfolge ließ sie ihn Geschichte, Musikgeschichte und schöngeistige Literatur lesen. Jeden Abend sprachen sie dann über das Gelesene.

»Ich bin von Ihnen bezaubert, Franzi«, sagte das Mädchen hin und wieder, »Sie sind so gescheit und haben ein so scharfes Gedächtnis, daß ich Sie nicht genug bewundern kann. Sie brauchen ein Buch nur zu überfliegen und schon sehen Sie das Wesentliche darin und wissen mehr davon, als ich, die von fünf Hauslehrern und fünf Erzieherinnen oder noch mehr unterrichtet wurde.«

Die Gedanken des jungen Mannes trübte nur ein Bild, das er nicht vergessen konnte: sein sich vor den Aristokraten unterwürfig verneigender Vater. Es schmerzte ihn von neuem, daß er einst so sehr an seinem erniedrigten Stolz gelitten hatte. Aber jetzt lachte ihm siegreich die Genugtuung: die einzige Tochter, der Augentrost, das schneeweiße Feenfräulein des französischen Ministers blickte mit Bewunderung auf ihn, den Sohn des Raidinger Rentmeisters. Und er verspürte tiefen, heißen Dank gegen dieses junge Mädchen, von dem er den Balsam für den geheimsten und brennendsten Schmerz seiner empfindlich stolzen Seele erhalten hatte …

Sie sprachen auch von der Liebe, von der Welt, von Gott und von der Seele. Sie suchten in allem, wie zwei ernste Engel, immer nur das Größte und das Reinste. Ab und zu berührten sich ihre Finger. Manchmal ergriff den Jungen wohl die Sehnsucht, sein Gesicht ganz nahe an das Gesicht des jungen Mädchens zu bringen, behutsam, wie ein Hauch … Wenn er aber dann das ätherische Mädchen ansah, das während ihrer schwärmerischen Gespräche noch durchgeistigter aussah, bereute er seine Sehnsucht sofort und beschloß, sogar diesen Gedanken zu beichten.

Bald kannten sie sich schon so gut und waren so vollkommen eins, daß sie sich manchmal nur anzusehen brauchten.

»Ich habe auch gerade an das gedacht«, lächelte das junge Mädchen, »woran Sie jetzt gedacht haben.«

Und sie erwähnten nicht einmal, woran sie gedacht hatten, so sicher waren sie dessen, daß eines mit dem Verstand des anderen denke und beide mit einem Herzen fühlten. Ihre gemeinsam verbrachten Stunden begannen sich nun auch immer mehr auszudehnen. Franzi blieb schon bis um zehn Uhr, bis halb elf Uhr. Es kam sogar vor, daß er seine Mutter, die ihn sonst stets zu erwarten pflegte, nicht mehr wach vorfand. Die rastlos arbeitende Hausfrau hatte der abendlichen Müdigkeit nicht mehr widerstehen können und sich schlafen gelegt. Der Junge sah, daß kein Licht mehr durch die Türe schimmerte. Zu seinem Zimmer konnte er aber nur durch das seiner Mutter gelangen. Er schämte sich sehr, daß er sie jetzt in ihren Träumen stören mußte, sie, die den ganzen Tag nur für ihn arbeitete. In seiner fürsorglichen Zärtlichkeit nahm er sämtliche Kleider, die am Kleiderhaken hingen, breitete sie auf der Schwelle zum Zimmer seiner Mutter aus und schlief nach dankerfülltem Gebet selig darauf ein. Anderntags lachte er fröhlich, als die Mutter ihn nicht genügend ermahnen konnte, diese kindlichen Aufmerksamkeiten nicht zu übertreiben; es müßten ihm ja alle Glieder wehtun von dem Liegen auf dem harten Fußboden …

Einmal blieb er bis elf Uhr bei seiner Angebeteten. Sie unterhielten sich über den Katholizismus Chateaubriands und waren so versunken, daß sie nicht auf die Zeit achteten. Unten im Torbogen war die Loge des Pförtners schon finster, und er war gezwungen, Baptiste zu wecken. Nach geraumer Zeit kam Baptiste endlich in zerschlissenen Unterkleidern hervorgekrochen, in einer Hand die Kerze, in der anderen den Torschlüssel. Man sah es ihm an, daß er sehr ärgerlich war, aus seinem Traume geweckt worden zu sein. Der junge Mann wünschte ihm eine gute Nacht, aber Baptiste erwiderte den Gruß nicht. Einen Augenblick lang hielt er die Türe noch offen, als ob er auf etwas wartete, dann warf er sie zu, daß es nur so dröhnte. Franzi verschwand achselzuckend in der schönen Sommernacht. In seinem Glück fühlte er sich fast federleicht und schwebte förmlich durch die dunklen Straßen.

Am anderen Tage beachteten sie die Zeit besser. Um zehn Uhr verabschiedeten sie sich. Tagelang blieben sie nicht länger beisammen als bis zehn Uhr. Eines Abends aber begannen sie davon zu sprechen, was ihre älteste Erinnerung sei. Die Komtesse erinnerte sich, daß einmal, als sie noch nicht ganz vier Jahre alt war, eine große Aufregung im Palais entstand, weil der im Exil lebende Napoleon unverhofft nach Paris zurückgekehrt war. Man hatte sie ohne Aufsicht gelassen, und sie riß eine große Blumenvase herunter, unter die sie zu liegen kam. Auch Franzi suchte versunken in seinen Erinnerungen und begann von den Zigeunern zu erzählen. Er setzte sich ans Klavier und versuchte mit langen musikalischen Erklärungen dem jungen Mädchen einen Begriff davon zu vermitteln, was die Zigeuner in Ungarn bedeuteten. Er spielte sogar eine Komposition dreimal vor, die er aus den Bruchstücken aufgebaut hatte, die ihm noch seit seiner Kindheit im Ohr haften geblieben waren. Er erklärte die sonderbare Tonleiter, die eigentümlichen Farben der Harmonie, vor allem aber den rhapsodischen, ungezähmten Rhythmus. Das junge Mädchen hörte ihm andächtig zu, und er spielte in einem fort weiter und erklärte ununterbrochen. Er redete soviel, bis er zum Schluß müde wurde. Da sah er auf die Uhr und sprang entsetzt auf:

»Großer Gott, es ist halb zwölf vorbei!«

In großer Eile verabschiedete er sich. Unten beim Tor mußte er wieder lange pochen. Baptiste ließ diesmal noch länger auf sich warten, – wie leicht festzustellen war, mit Absicht. Als er endlich angeschlurft kam, brummte er mit unverhohlenem Zorn etwas vor sich hin, was man nicht verstehen konnte. Franzi fühlte sich unbehaglich. Er war verstimmt, daß gerade der Pförtner dieses Hauses ihm nicht genügend Achtung zollte. Baptiste murrte noch immer, während er das Tor öffnete. Und als er es geöffnet hatte, wartete er abermals. Dem jungen Mann ging die Geduld aus:

»Wollen Sie mir noch etwas sagen?« rief er spitz.

Der Pförtner erwiderte nichts. Dunkler Haß lauerte auf seinem Gesicht, das die flackernde Kerze erhellte. Er schlug die Tür heftig zu, und noch draußen konnte man ihn mit lauter Stimme schimpfen hören. Der Beschimpfte aber stand unbeholfen jenseits der Türe. In ihm kochte die Wut. Er hätte am liebsten an die Tür gepoltert, um den unverschämten Mann zurückzurufen. Rechtzeitig fiel ihm aber noch ein, daß es nicht ratsam wäre, einen nächtlichen Skandal heraufzubeschwören. Er wandte sich um und lief zwischen den strengen und dunklen Palästen des Faubourg Saint Germain heimwärts. Morgen würde er diesem Burschen schon seine Meinung sagen!

Am nächsten Tage aber war sein Zorn schon wieder verraucht. Er beschloß, an der Loge des Pförtners vorbeizugehen, ohne hineinzublicken. Aber es kam anders. Baptiste trat aus der Loge und stellte sich ihm in den Weg.

»Der Herr Graf lassen bitten, sich geradewegs in sein Arbeitszimmer zu begeben. Er ist zu Hause.«

Überrascht stieg er die Treppe hinauf. Unter den vielen, ihm durch den Kopf schwirrenden Vermutungen kam ihm plötzlich der Gedanke, daß vielleicht die Gelegenheit da sei, um die Hand seiner Geliebten anzuhalten. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß zwischen Liline und ihrem Vater eine entscheidende Unterredung stattgefunden hatte. Und alle Zeichen deuteten daraufhin, daß er eine günstige Antwort erhoffen konnte.

Der Graf empfing ihn stehend in der Mitte seines Arbeitszimmers. Er nickte nur kurz auf seinen Gruß, reichte ihm keine Hand und bat ihn auch nicht, Platz zu nehmen.

»Es ist mir zu Ohren gekommen, daß Sie sich bis spät in die Nacht hinein in der Gesellschaft meiner Tochter aufzuhalten pflegen. Stimmt das?«

»Ja.«

»Und Sie finden das zulässig?«

»Wenn ich gegen die Form verstoßen habe, so bitte ich achtungsvoll um Entschuldigung. Früher oder später muß ich es ja doch sagen, daß die Komtesse und ich einander lieben. Und wenn …«

»Mit meiner Tochter habe ich bereits gesprochen. Ich habe ihr schon mitgeteilt, daß sie auf diesen Unsinn verzichten muß. Jetzt teile ich es auch Ihnen mit.«

»Verzeihung, wieso Unsinn?«

»Ich begreife nicht, wie Sie so fragen können. Sie sind ein ganz vorzüglicher Pianist, aber Sie werden mir schon erlauben zu bemerken, daß meine Tochter nicht dazu da ist, einen Künstler oder so etwas ähnliches zu heiraten. Meine Tochter wird ihrem Range und Vermögen entsprechend heiraten. Sie werden auch schon eine finden, eine … im übrigen geht mich das gar nichts an. Den Unterricht betrachte ich hiermit als beendigt.«

Der junge Mann wurde blaß. Stammelnd suchte er nach Worten:

»Aber … Verzeihung … die verstorbene Frau Gräfin … sie hat auf ihrem Totenbett … ihr letzter Wunsch …«

»Ja. Das habe ich auch schon von meiner Tochter gehört. Es ist möglich, daß meine Heimgegangene Frau etwas Ähnliches gesagt hat. Ich habe dem aber gar keine Bedeutung beigemessen. Sie fieberte bereits schwer, die Arme, und hat nicht mehr genau wissen können, was sie redete. Im übrigen in diesem Hause …«

Er unterbrach sich, da von den totenblaßen Wangen des jungen Mannes zwei Tränen herabrollten.

»Ich bedaure, daß Sie sich in einen unmöglichen Gedanken so verrennen konnten. Vielleicht bin ich auch selbst daran schuld. Ich hätte bedenken müssen, daß es unvorsichtig ist, Sie in diesem Alter mit einem jungen Mädchen zusammenzubringen. Mit einem Wort, wenn Sie noch Honorar zu erhalten haben, lasse ich es Ihnen schicken. Meine Tochter können Sie nicht mehr sehen.«

»Nie mehr?« kam die erstickte Frage des jungen Menschen.

»Selbstverständlich nie mehr. Was haben Sie sich denn gedacht? Ich bedaure, daß ich hart sein muß, aber in dieses Haus können Sie nie mehr kommen. Es wäre auch zwecklos, derartiges zu versuchen, denn der Pförtner kennt seine Pflicht.«

Der bittere und verzweifelte Kummer des Jungen verwandelte sich augenblicklich in funkelnden Zorn.

»Haben Sie dem Pförtner etwas gesagt?«

»Selbstverständlich.«

»Das war überflüssig, mein Herr. Es wäre genug gewesen, mir etwas zu sagen. Es wäre nicht erforderlich gewesen, mich vor einem Diener so zu erniedrigen. Ihrer Tochter werde ich mich in keiner Art und Weise mehr nähern, wenn ich darüber auch sterben müßte … auch dann nicht … Hierüber dürfen Sie beruhigt sein. Ich bin ein vornehmer Mann und halte mein Wort. Sie zwingen mich aber jetzt, unten an dem höhnischen Grinsen dieses Dieners vorbeizugehen. Sie, mein Herr, sind kein vornehmer Mann!«

Er wandte sich um und lief mit tränenüberströmten Gesicht aus dem Zimmer. Seine Knie zitterten vor Aufregung. Aber statt der Genugtuung, daß er diesem Manne seine Meinung so stolz hatte ins Gesicht schleudern können, tobte eine ohnmächtige Wut in ihm. Denn er nahm noch den letzten Blick des Grafen Saint-Cricq mit. Das war der spöttische, gleichgültige und kalte Blick eines felsenfest dastehenden, ruhigen, unantastbaren Menschen. Das war der Blick eines Grafen, eines Ministers, eines französischen Pairs, den ein aufgeregter Musiker nicht beleidigen konnte. Auch der Regen könnte ihm nichts anhaben, der auf seinen Mantel tropft … Alles ist umsonst … Die haben die Übermacht …

Und jetzt mußte er noch an dem Pförtner vorbei. Er preßte seine knirschenden Zähne fest aufeinander und nahm die Treppenstufen in großen Sprüngen. ›Nur diese wenigen Sekunden sollen erst hinter mir liegen …‹ dachte er unaufhörlich. Vor der Loge wandte er den Kopf ab. Er rannte, über sein Gesicht strömten die Tränen, und wenn er es auch nicht gesehen hatte, so wußte er, daß der Mann da drin ihm mit sieghafter Schadenfreude nachgrinste.

Auf der Straße rannte er noch immer. Ja hartem Zorn hatte er sich vorgenommen, nicht nach den Fenstern zurückzusehen. Er hielt erst etwas ein, als er in eine Seitenstraße einbog. Dann begann er abermals zu rennen, um schnell in einer Kirche zu sein. Er überlegte hastig, wo die nächste Kirche sei. Nur nicht denken bis dahin. Nur mit Gewalt den Schmerz ersticken, die Gedanken an die Demütigung. Wenn er erst in eine Kirche käme, würde er sich sofort leichter fühlen …

Die Fußgänger drehten sich nach ihm um. Er beachtete sie nicht. Er lief tränenüberströmt und keuchend weiter. Sein langes Haar flatterte hinter ihm her. Endlich lief er in eine Kirche hinein. Und wie ein von Verfolger« gehetztes Wild, dem es gelungen ist, seine Höhle zu erreichen, fiel er erleichtert beim Gitter des ersten Altars auf die Knie. Er legte seinen Kopf auf die auf dem Gitter verschränkten Arme und schluchzte mit krampfhaft zuckenden. Schultern …

»Lieber Gott«, sagte er mit wehmütigem Vorwurf, »alles ist verloren. Du liebst mich also nicht. Ich habe gedacht, daß du mich lieb hast …«


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