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Als er nach seinem Konzert zum erstenmal wieder zu Czerny kam, sagte der Meister:
»Ich sehe dich immer gerne bei mir, mein Sohn, aber von mir kannst du nichts mehr lernen. Ich habe deinem Vater schon gesagt, daß ihr nunmehr einen Schritt weitergehen müßt. Hat er mit dir schon über Paris gesprochen?«
»Er hat es nur flüchtig erwähnt.«
»Dorthin müßt ihr, – nach Paris. Anderswo kannst du nichts mehr lernen, nur noch in Paris im Konservatorium. Auch sonst müßtet ihr ja dorthin, denn Paris ist der Mittelpunkt der Welt. Du bist jetzt weit genug, um ganz Europa zu zeigen, was du kannst. In ganz Europa sind nur zwei dir überlegen.«
»Ja, ich weiß«, nickte der Junge.
Die Namen brauchten sie nicht zu nennen. Seit Monaten schon hatten sie über sämtliche berühmten Klavierspieler der ganzen Welt eingehend debattiert und längst festgestellt, daß der ungarische Wunderknabe nur zwei Rivalen zu besiegen hatte. Der eine war Moscheles aus Prag, der einst auch hier in Wien bei Salieri studiert hatte. Zu derselben Zeit studierte auch der junge Meyerbeer in Wien, und beide wetteiferten um die Siegespalme des Klavieres; Moscheles siegte. Jetzt lebte er in London und hätte als der erste Klavierspieler der Welt gegolten, wenn Hummel nicht gewesen wäre, denn dieser war nicht nur ein berühmter Komponist und Dirigent am Weimarer Hof, sondern auch ein ganz glänzender Pianist.
»Wie alt sind die beiden?« fragte der Junge.
»Moscheles wird an die dreißig, Hummel über vierzig sein.«
»Dann habe ich noch viel Zeit, um sie zu erreichen.«
»Es kommt nicht auf die Zeit an, mein Sohn, sondern auf den Willen. Die Begabung hast du dazu, soweit ich das beurteilen kann. Es fragt sich nur noch, wie es mit Ausdauer und Fleiß bei dir bestellt ist. Die Sache ist nicht so einfach. In keiner anderen Laufbahn kann man so zum Sklaven seines Meisters werden wie in der musikalischen. Und dabei kann in jedem Augenblick noch ein neues Genie auftauchen, das dich aus dem Sattel hebt. Ich höre da zum Beispiel immer wieder von einem Berliner Wunderkind …«
»Ja, ich weiß, er heißt Mendelssohn. Der ist schon vierzehn Jahre alt, und ich bin erst elf. Ach, der hat's leicht. Sein Vater ist Bankier. Wir aber sind arme Leute …«
»Versündige dich nicht gegen den lieben Gott! Du hast bisher kaum etwas davon gespürt, daß ihr arm seid, nur dein Vater muß sich plagen. Aber um ihn braucht man sich auch für die Zukunft keine Sorge zu machen, er wird auch in Paris seinen Mann stehen, dessen bin ich gewiß. An ihm wird es also nicht liegen, wenn du nicht vorwärts kommst, sondern nur an dir. Du hast schwere Fehler, gegen die du lange Jahre wirst ankämpfen müssen. Du bist viel zu leidenschaftlich beim Spiel, verlierst ganz die Herrschaft über die vorgeschriebenen Tempi und wirfst die Takte so willkürlich durcheinander wie ein Zigeuner. Und wenn ich dir einen sehr guten Rat für das ganze Leben geben soll: stell' dir am Klavier stets das Metronom vor! Nun wollen wir mal die Sext-Übungen hören …«
Der junge Virtuose setzte sich ans Klavier, um Unterricht von dem Meister zu empfangen, den er innerhalb weniger Monate überflügelt hatte und »von dem er nichts mehr lernen konnte«. Doch er hörte aufmerksam auf seine Bemerkungen und befolgte jeden seiner Winke, obwohl seine Gedanken nicht beim Klavierspiel waren. Schon seit Wochen erregte ihn dieses geheimnisvolle, märchenhafte Paris, wohin die Pläne seines Vaters gingen. Von diesen Plänen wußte er freilich kaum etwas, denn der Vater pflegte seiner Familie nur die fertigen Entschlüsse mitzuteilen, und zwar in Form von Befehlen, meistens ohne jede Begründung.
Zu Hause erwartete ihn schon ein solcher Befehl. Der Vater hatte ihm mitgeteilt, daß sie von morgen ab alle drei französisch lernen würden. Jeden geschlagenen Tag werde ein Sprachlehrer zu ihnen kommen, der sie für das Mittagessen unentgeltlich unterrichten wolle. Man müsse die Gelegenheit ausnützen, denn wenn sie nach Paris kämen, müßten sie alle französisch sprechen und verstehen können. Daneben müsse er auch für das Budapester Konzert üben. Wenn je ein Konzert wichtig war, so dieses Budapester!
»Vater, was für eine Stadt ist dieses Pest?«
»Eine herrliche Stadt, ich habe nichts Schöneres gesehen. Der Donaustrand … auf der anderen Seite der Berg … Du wirst ja sehen.«
»Werde ich da Erfolg haben?«
»Wenn du dich tüchtig zusammennimmst, ja. In Pest ist alles Ausländische außerordentlich beliebt. Das Heimische kann noch so gut sein, – was aus der Fremde kommt, findet stets größeren Anklang. Du bist in Ungarn geboren und hast hier in Wien großen Erfolg gehabt. Das wiegt dort sehr viel.«
»Und wie wird es mir dort ergehen? Ich kann doch nicht ungarisch.«
»Das braucht man doch gar nicht, du Esel. In Pest spricht jeder deutsch und lateinisch. Ungarisch sprechen nur die Bauern, und mit denen wirst du nichts zu tun haben. Du sollst bloß gut Klavier spielen, und alles andere kann dir gleichgültig sein.«
Am Tage darauf kam tatsächlich der französische Lehrer. Die erste Stunde war ebenso komisch wie anstrengend. Der Vater hatte nämlich bestimmt, daß eine Stunde lang kein deutsches Wort gesprochen werden dürfe. Nicht einmal deutsch fragen durfte man. Jeder konnte sich ja durch fragende Gebärden verständlich machen. Und so geschah es auch. Der Sprachlehrer, »Mosjö« Hachette, war ein bebrilltes, schmächtiges, kleines Männlein, er sprach außerordentlich schnell und brachte einen unglaublichen Appetit mit. Während des Mittagessens redete er in einem fort. Er zeigte auf die Suppe:
» Soupe. La soupe. Je mange de la soupe.«
Sowohl die Mutter als auch der Junge mußten das wiederholen.
» Soupe. Je mange soupe. La soupe.«
Der Vater prahlte stolz mit einzelnen französischen Brocken, die aus seiner Schulzeit noch an ihm kleben geblieben waren. Er benahm sich eher wie ein Lehrer, als wie ein Schüler. Sie lachten alle sehr viel, denn dieses erste Mittagessen gab reichlich Anlaß zu stummer Zeichensprache und fragendem Herumfuchteln. Am herzlichsten aber lachten sie, als sich der Sprachlehrer mit »Adieu« verabschiedete. Die Mutter traute sich nicht, das Wort zu wiederholen, weil sie nicht wußte, daß es französisch war …
Zwei Wochen lang bot die Neuheit des Französischlernens eine belebende Abwechslung zu dem ewigen Klavierüben. Dann reisten Vater und Sohn nach Pest. Die Reise war sehr spannend. Bis Preßburg fuhren sie mit der Postkutsche. Dort übernachteten sie. Und von da beförderte sie ein Bauernwagen bis Pest. Während der Fahrt fragte der Knabe den Vater ununterbrochen aus. Hundert und aber hundert Fragen richtete er an ihn, – über die Dörfer, die sie durchfuhren, über die wechselnden Eigentümlichkeiten der Volkstrachten, über die auf den Landstraßen reitenden Soldaten, über unverständliche Aufschriften … Seine Aufmerksamkeit ließ keinen Augenblick nach, alles zog ihn an, und seine unstillbare Neugierde verschluckte die Erklärungen wie der Sand das Wasser. Zweimal begegneten sie sogar einer wandernden Zigeunerkarawane. Und dieses Erlebnis versetzte den Jungen in sprudelnde Aufregung. Mit ausgerecktem Halse blickte er unverwandt dem zurückbleibenden Volke noch nach, als es auf der schlammigen Landstraße kaum mehr sichtbar war.
An einem dämmrigen Frühlingsabend kamen sie in Pest an. Der Junge war von dem Gerüttel im Bauernkarren todmüde. Aber ein neues Erlebnis hielt ihn wach: was sich vor ihm in abendlichem Glanze an den Ufern des mächtigen Stromes ausbreitete, das war also Pest, der Mittelpunkt seines Heimatlandes … Der Wagen brachte sie bis an das vornehme Gasthaus »Zu den sieben Wählern«. Ein Diener begrüßte sie mit tiefen, ehrerbietigen Verbeugungen und nahm das Gepäck vom Wagen. Man geleitete sie wie vornehme Herren die Treppe hinauf, und das Zimmer, das man ihnen anbot, hätte dem Anspruchvollsten genügen können, – nach dem Urteil des Jungen. Es war ein breites, doppelbettiges Zimmer mit Aussicht auf einen freien Platz vor dem Gasthaus, hinter dem sich der breite Strom der Donau unter dem Berge dunkel färbte.
Während der Vater mit Hilfe eines Bedienten die Kleider, die Noten und alles andere auspackte, durfte der Knabe aus dem Fenster schauen. Es war ein lauer Aprilabend, und auf das Drängen des Jungen öffnete man die Fenster. Mit durstigen Augen beobachtete er das Leben am Ufer. Vereinzelt kamen Menschen an seinem Fenster vorbei. Oft vernahm er deutsche Worte, doch ebenso viele sprachen auch ungarisch. Da, ganz unerwartet, als hätte sie jemand eigens zu seiner Freude angestimmt, ertönte irgendwoher aus der Nähe Zigeunermusik. Der Junge lauschte mit pochendem Herzen. Und die abendlichen Geräusche der Stadt, die zu ihm herauftönenden Gesprächsfetzen, das Raunen des Flusses, die geheimnisvolle Zigeunermusik, wie das alles ihm entgegenströmte; – da verstand er mit einem Male, daß hier etwas Unbegreifliches und Unfaßbares vorhanden war, das sein war, das zu ihm gehörte … aber er konnte seine Hände nicht danach ausstrecken. In der polternden Kutsche, im ungarischen Zwiegespräch der zwei jungen Männer in hohen Stiefeln und Pelzmützen, in der unbeweglichen Dunkelheit des gegenüberliegenden Berges, in der Zigeunermusik, – in allem spürte er etwas innig Gemeinsames, das er doch nicht zu erfassen vermochte. Eine undeutliche, sonderbare Stimmung kam über ihn, eine hilflose Sehnsucht, und er wußte selbst nicht warum, er mußte an einen ihrer alten Raidinger Hunde denken, der in seinen hilflosen, sprechenwollenden, klugen und warmen Augen etwas von diesem Unaussprechlichen hatte, das sich jetzt über sein Herz ergoß …
»Gehen wir hinunter, Abendbrot essen. Hörst du nicht?«
Der Vater schlug ihm von hinten leicht auf die Schulter. Offenbar hatte er schon früher etwas gesagt, aber der Junge hatte es beim Stimmengewirr der Straße nicht gehört. Sie schlossen die Fenster und gingen hinunter. Aber sie aßen nicht im selben Hause, der Vater führte ihn einige Straßen weiter. Sie kehrten in einer kleinen Schenke ein, wo keine Zigeuner waren. Das Kind konnte sich nur mit brennendem Herzen dreinfinden. Um sie herum an den mit rotem Tuch gedeckten Tischen saßen viele Leute. Auch hier hörte man die deutsche und die ungarische Sprache durcheinander. Der Kellner, der zu ihrem Tisch trat, sprach deutsch. Müde saßen sie und wortkarg. Kaum hatten sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt, da klopfte auch schon der Vater mit dem Ring gegen das Bierglas.
»Wir müssen morgen früh aufstehen! Es ist höchste Zeit, daß wir zu Bett gehen. Du wirst morgen üben, ich habe sehr viel zu erledigen.«
Dem Jungen tat es gar nicht leid, daß sie schon zu Bett gehen sollten, da ja doch keine Zigeuner da waren … Aber in ihrem Zimmer konnte man auch jetzt noch etwas von der irgendwo in der Nähe erklingenden Zigeunermusik vernehmen. Sehr leise, sehr gedämpft, aber doch deutlich hörbar. Und eingewiegt von diesen sonderbaren, heimlich geliebten Klängen schlief der Junge in dieser seiner ersten Pester Nacht ein.
Von der Stadt bekam er sehr wenig zu sehen, sowohl am nächsten Tage, als auch später. Der Vater ließ ihm schon früh am Morgen ein Klavier in das Zimmer stellen. Er mußte bis Mittag üben. Mittags kam dann ein französischer Sprachlehrer, denn der Vater ließ den Unterricht nicht einen einzigen Tag ausfallen. Nachmittags erledigten sie Verschiedenes in einer Notenhandlung, in einer Druckerei, bei einer Zeitung und in irgendeinem Amt. Er verstand von alledem nicht viel. Sein Vater sprach stets an seiner Stelle. Er begriff lediglich das eine, daß man ihn, der den Namen Franz Liszt trug, in der Sprache seines Heimatlandes »Liszt Ferenc« nannte. Er fand es sonderbar, aber es gefiel ihm, und er sprach es häufig vor sich hin, Liszt Ferenc, Liszt Ferenc … Diese umgedrehte Reihenfolge und der eigentümlich klingende Rufname bargen irgendeinen fremden Zauber in sich. »Ferenc« fand er viel reizvoller als »Franz«. Er ergötzte sich an diesem neuen Namen, wie wenn er ihn statt einer roten Blume ins Knopfloch hätte stecken können. Er hatte kaum Zeit, dem Verkehr in einzelnen Straßen zuzusehen, sich nach ein paar Kutschen umzudrehen, auf deren Bock ein prächtiger Husar neben einem mit Metallknöpfen gezierten Kutscher thronte, sich darüber zu wundern, daß hier die Mähnen der Kutschpferde bunt gefärbt waren, – da ging es schon wieder nach Hause zum Üben. Er arbeitete ununterbrochen bis abends, und dann war der Tag zu Ende. Er klagte aber nicht, nicht einmal vor sich selbst. Er verstand, daß das so sein mußte. Vor einem Konzert täglich mindestens sechs bis sieben Stunden üben, – das war selbstverständlich, das lag einfach in seinem Beruf begründet … Am dritten Tage brachte der Vater Plakate mit nach Hause. Sie kamen frisch aus der Druckerei und waren noch ganz feucht. Es war eine in ungarischer Sprache verfaßte Ankündigung, und er verstand davon keine Silbe. Der Vater übersetzte es ihm:
»Hoher, gnädiger Adel!
Löbliches k. k. Militär!
Verehrungswürdiges Publikum!
Ich bin ein Ungar und kenne kein größeres Glück, als die ersten Früchte meiner Erziehung und Bildung meinem teuren Vaterlande als das erste Opfer der innigsten Anhänglichkeit und Dankbarkeit vor meiner Abreise nach Frankreich und England ehrfurchtsvoll darzubringen; was diesen noch an Reife mangelt, dürfte ein anhaltender Fleiß zur größeren Vollkommenheit führen und mich vielleicht einstens in die glücklichste Lage versetzen, auch ein Zweig der Zierden des teuren Vaterlandes geworden zu sein.«
Unter dieser Erklärung stand in großen Buchstaben sein Name: Liszt Ferenc.
»Gehen wir auch nach England?« fragte er neugierig.
»Selbstverständlich gehen wir dorthin, wenn Moscheles auch dorthin gegangen ist. Aber sonst hast du dafür kein Wort übrig? Ist das der Dank, daß ich soviel für dich tue?«
»Es ist fabelhaft … es ist wirklich sehr schön … ich danke vielmals …«
»Nun? Warum stockst du? Mißfällt dir etwas daran?«
»Nein, nein, es gefällt mir sehr gut. Es ist wirklich prachtvoll …«
»Aber?«
»Aber warum sagen wir selbst von mir, daß es meiner Ausbildung noch an Reife mangelt? Czerny hat doch gesagt, ich könnte von ihm nichts mehr lernen. Ist er denn nicht reif genug? Der Mann, dem Schubert vorgespielt hat, nicht reif genug …?«
Der Vater wurde unruhig.
»Sei nur nicht so überklug! Du willst immer mehr wissen als alle anderen. Dir ist anscheinend der Ruhm schon zu Kopf gestiegen. Wie kann ein elfjähriges Kind sich unterstehen zu behaupten, es sei schon reif! Da bleibt einem wahrhaftig der Verstand stehen. Na ja, natürlich! Jetzt heulst du wieder. So ist's recht! Der reife Herr Künstler heult. Marsch zum Klavier, üben. Anderthalb Stunden übst du jetzt, dann komme ich zurück, hole dich ab, und wir gehen zusammen ins Deutsche Theater.«
Der junge Künstler übte unter langsam versiegenden Tränen das Klavierkonzert von Moscheles und die Ouvertüre von Schneider. Dann holte ihn der Vater ab, schalt ihn abermals aus und nahm ihn ins Theater mit. Sie gingen durch den hinteren Eingang auf die Bühne. Da wurde gerade eine Gluck-Oper geprobt. Der Vater, der offenbar schon hier gewesen war, suchte die für das Konzert noch mit verpflichteten beiden Künstler auf, Herrn Babnigg und Fräulein Teyler, um ihnen seinen Sohn, wie es sich schickte, vorzustellen. Die beiden unterhielten sich mit ihm in dem scherzhaften, liebevoll überlegenen Tone, den man kleinen Kindern gegenüber so gerne anschlägt. Und das haßte er aus tiefster Seele. Es verletzte sein Selbstbewußtsein, wenn man ihn als Baby behandelte, und die Erwachsenen, die so kindlich taten und mit ihm nicht wie Erwachsene sprachen, sah er für außerordentlich dumm an. Sein Herz krampfte sich zusammen, und inmitten der gurrenden Melodien der Fagotts der Gluckschen Musik fühlte er sich unbeschreiblich einsam, verkannt und traurig …
Das Konzert fiel auf den ersten Mai, einen Donnerstag. Es fand in dem Saale ihres Gasthauses statt. Der Saal füllte sich bis auf den letzten Platz. Und die Ouvertüre entschied bereits den Erfolg. Nach den Moscheles-Variationen setzte ein Beifall ein, wie er ihn nicht einmal in Wien erlebt hatte. Die Zuhörerschaft wirkte diesmal ganz anders auf ihn. Hier erfaßte den ganzen Saal eine leidenschaftliche Spannung. Die Hörer gingen ganz in der Musik auf, und der Beifall war wie ein versengendes Feuer. Die Gesichter, auf die er vom Podium herabsah, strahlten und glühten. Schon während des Spieles fühlte er, daß die Stimme seines Klavieres mitten ins Herz traf. Und wenn er in Wien die Erfahrung gemacht hatte, daß es ein geheimes Gemeinschaftsgefühl gibt, in das er, um Erfolg zu haben, die ganze Zuhörerschaft oft mit harter Mühe um jeden Preis hineinziehen mußte, so erlebte er hier, daß dieses geheimnisvolle Einssein in einem einzigen Augenblick aufflammen kann. Hier fühlte er sein eigenes Feuer von der Zuhörerschaft zu sich zurückfluten. Aus dem donnernden Beifallslärm waren die »Eljen«-Rufe deutlich herauszuhören. Dieses Wort war ihm bekannt. Und während er sich immer wieder frohlockend verneigte, mußte er an die unbefriedigte, sich ins Ungewisse sehnende Stimmung seines ersten Abends denken. Jetzt hatte er das Empfinden, als bekäme er in diesem Augenblick, wonach er sich unbewußt gesehnt hatte …
Erst am Tage darauf sah man aber den starken Erfolg sich voll auswirken. Noch im Laufe des Vormittags empfing Adam Liszt drei Besucher, die mit ihm über weitere Konzerte verhandeln wollten. Bis Mittag hatte er daher den Entschluß gefaßt, noch zwei Wochen in Pest zu bleiben. Am Nachmittag mußte man die Frist noch verlängern, denn das Kind wurde zu weiteren Konzerten aufgefordert. Einladungen zu Jausen und Mittagessen kamen in Menge. Unbekannte Familien schickten Torten, Spielzeug, gestickte Tücher und allerlei andere Geschenke. Eine begeisterte Dame trat plötzlich in das Zimmer, umarmte und küßte das Kind stürmisch und erklärte erst in der Türe:
»Weiter wollte ich nichts!«
Als sie die Treppe hinunterstiegen, trat ihnen eine Dame in Trauer entgegen, entschuldigte sich bescheiden wegen der Störung und überreichte Adam Liszt einen Rosenkranz.
»Geben Sie ihn Ihrer Frau, mein Herr, und sagen Sie ihr, eine unglückliche Mutter schicke ihn einer glücklichen; sie möge für einen dahingeschiedenen Knaben beten.«
Sie brach in Tränen aus und eilte weg.
Beim Portier fing sie ein junger Mann ab, stellte sich vor und erbot sich, mit ihnen nach Paris und London zu fahren. Seine Auslagen würde er natürlich selbst bestreiten, er wolle lediglich Zeuge der Triumphe seines kleinen Landsmannes sein. So ging das auf Schritt und Tritt. Staunend fragte der Knabe den Vater: »Warum sind denn bloß die Pester so?«
»Es ist eine viel kleinere Stadt als Wien, mein Sohn. Und da spricht sich eine Neuigkeit viel schneller herum, die Menschen stehen einander näher. Und dann wohnen hier Ungarn. Und die Ungarn sind schon so.«
»Wohin gehen wir jetzt?« fragte der Junge, als sie auf die Straße traten.
»Ich nehme dich jetzt zum Kloster der Franziskaner mit, wo ich einmal Ordensbruder werden wollte. Ich möchte, daß du dort zu dem ›heiligen Franz‹, deinem Schutzheiligen, betest, damit er dich auch weiterhin unter seiner Obhut behalte.«
Nach dem Lärm der Straße nahm sie die Kühle und die segnende Stille der mit Steinfliesen ausgelegten Klostergänge auf. An den schneeweißen Mauern Heiligenbilder, Kruzifixe, Weihwasserbecken. Adam Liszt ging, seinen Sohn an der Hand, den vertrauten Weg nach dem Zimmer des Priors.
»Ich will doch gleich sonst was sein, wenn das nicht der Adam Liszt ist«, rief laut und fröhlich ein sonniger, alter Pater, der mit starker, ungarischer Betonung deutsch radebrechte.
»Ich bin es, mein Vater. Ich habe Ihnen meinen Jungen gebracht, Sie sollen ihn segnen.«
»Aber, aber, nur nicht so hastig! Ohne ein Gläschen Slibowitz lasse ich dich nicht wieder fort, mein Sohn. Und die Brüder aus deiner Zeit, – wie werden die sich erst über deinen Anblick freuen! Nimm Platz. Und du, kleiner Mann, komm mal näher zu mir heran!«
Der Prior griff nach dem bestickten Glockenband. Dann setzte er sich und zog den Jungen zwischen seine Knie:
»Ein hübscher Kerl, es wäre wahrlich schade gewesen, wenn du Mönch geblieben wärst. Aber nur der liebe Gott weiß, ob jemand zur Freude oder zum Leid auf diese Welt kommt.«
Adam Liszt erwiderte irgend etwas von den unerforschbaren Wegen Gottes, und mit einem Male war der Junge wieder aus der Unterhaltung ausgeschaltet. Bescheiden trat er zur Seite. Der Prior brachte ein Pfeifensieb, Pfeife und Likörgläser und gab dem auf sein Läuten eintretenden jungen Mönch Anweisungen. Nach einer kleinen Weile kam eine ganze Schar Patres in die Stube. Alle begrüßten Adam Liszt mit herzlicher Freude. Das Kind wurde der Reihe nach vorgestellt und küßte jedem die Hand. Eine fröhliche Unterhaltung begann. Der Junge zog sich in eine Fensternische zurück und beobachtete die Herren. Sie waren alle ganz verschieden: klein, dick und mit dröhnender Stimme, schmächtig und mit funkelnden Augen, schweigsam, hager, dürr und ernst. Und doch waren sie sich irgendwie alle ähnlich: die tiefe Innigkeit der Gebete und der Friede der Abgeschiedenheit verband sie alle miteinander. Adam Liszt stach grell von ihnen ab.
Der Junge ließ sie nicht aus den Augen und sann über sie nach. Er malte sich ihr Leben aus, das ein ununterbrochenes Gebet und Orgelspiel sein müßte, also die zwei schönsten Dinge der Welt. Die weißgetünchten Klostergänge waren so schön, das Kruzifix so herzergreifend, und auf der Orgel könnte ein junger Mönch inmitten der süßen Weihrauchdüfte mit soviel Hingabe das » Tantum ergo« spielen … Ob es nicht gut wäre gleich zu sagen, daß auch er Priester werden möchte? Doch da fiel ihm das mit unbekannten Geheimnissen lockende Paris ein und Moscheles in London, mit dem er sich messen mußte, und die Sonaten, die Sinfonien, die herrliche Welt des Partiturlesens, und der sagenhafte Cherubini, der nur auf ihn wartete, und die Diabelli-Variationen, die sicherlich schon erschienen sein würden, wenn sie nach Wien zurückkehrten … Nein, er konnte doch nicht Priester werden …
Die Mönche verabschiedeten sich mit herzlicher Liebenswürdigkeit von Adam Liszt und nahmen ihm das Versprechen ab, mit seinem Sohne zum Abendessen in das Ordenshaus zu kommen. Der gemütvolle Prior drehte dem Jungen ein Hörnchen am Kopf und schenkte ihm ein blankes Zwanzighellerstück.
Sie kehrten noch in der Kirche ein, um zu beten. Als sie wieder heraustraten, starrte ihnen eine elegant gekleidete junge Frau ins Gesicht und blieb zögernd stehen:
»Ist das nicht der kleine Klavierkünstler?«
»Jawohl«, antwortete Adam Liszt, »mein Sohn, Franz Liszt.«
Die junge Frau umarmte den Jungen hastig, faßte ihn an den Schultern, sah ihm ins Gesicht und rief entzückt:
»Weißt du, daß du ein sehr schöner Knabe bist? Ich habe einen so schönen, blonden Jungen noch nicht gesehen …«
Der Junge errötete geschmeichelt, während der Vater mit gereizter Stimme dazwischen fuhr:
»Verzeihung, aber derartige Bemerkungen dürften dem Kinde kaum nützen.«
Die Dame richtete sich auf und sagte mit gurrender Taubenstimme, den Blick unverwandt auf das Gesicht des Jungen gerichtet:
»Trotzdem bist du ein sehr schöner Junge …«
Lächelnd wandte sie sich ab und ging, ohne Adam Liszt auch nur zu beachten, eilends weiter, wie jemand, dem ein Streich geglückt ist. Der Vater ergriff hastig die Hand seines Sohnes, und schweigend setzten sie ihren Weg fort. Verschmitzt und ein bißchen schadenfroh sah der Sohn den Vater verstohlen an. »Du versuchst es umsonst vor mir zu verheimlichen, daß ich schön bin, das weiß ich selber schon lange«, sagte sein Blick.