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Bartoluzzi bewahrte auch nach Marinas Tode das gute Verhältnis zu Galilei. In dieser Freundschaft lebte seine unvergängliche Liebe zu Marina weiter. Jetzt erkundigte er sich bei dem großen Gelehrten nach dem Geheimnis der Kometen, die die ganze Welt immer noch in Atem hielten. Aber er war nicht der einzige Frager. Zu Hunderten liefen Anfragen von weither ein; das war schon während seiner Krankheit so gewesen. Wen sollten sie auch befragen, wenn nicht ihn? Er aber antwortete nicht, und zwar weil er mit gutem Gewissen nichts erklären konnte: er wußte nicht, was für eine Bewandtnis es mit diesen drei Kometen hatte. Er sprach sehr viel mit Guiducci darüber, aber etwas anderes als Hypothesen konnte er nicht aufstellen, und die waren in seinen Augen unzulänglich. Die Antwort auf den allgemeinen Sturm blieb er also schuldig.
Schließlich wurden aber von zwei Seiten Fragen laut, die er nicht unbeantwortet lassen konnte.
Die eine Frage stellte der Hof. Eines schönen Tages ließ die Großherzogin-Mutter den Hofastronomen rufen. Sie empfing ihn in Gesellschaft. Die beiden Hoheiten, Schwiegermutter und Schwiegertochter, saßen im Bewußtsein ihrer Erhabenheit da, mehr denn je; denn erst vor kurzem war der Kaiser Matthias gestorben, und sein Vetter, der bisherige Thronfolger Ferdinand, ein Bruder der Großherzogin, war jetzt Kaiser des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation, unumschränkter Herrscher unabsehbarer Gebiete der Deutschen, Böhmen, Kroaten und Ungarn. Am Hofe war jetzt fast nur noch vom Kaiser die Rede. Die Großherzogin fand immer einen Grund, in ihre Unterhaltung einflechten zu können: »Se. Majestät der Kaiser, mein Bruder.« Auch die Kinder nannten Onkel Ferdinand den Imperator. Sogar der Großherzog Cosimo sagte gern: »Unser Schwager, Se. Majestät der Kaiser.«
Se. Majestät der Kaiser hatte zunächst einen sehr schweren Stand. Die Böhmen wollten ihn nicht als König anerkennen und wählten statt seiner den Kurfürsten von der Pfalz, Friedrich V., das Haupt der protestantischen Union. Und ein anderer Protestant, der berühmteste Sproß eines altungarischen Geschlechts, Gabór Bethlen aus Siebenbürgen, griff ihn gar mit einer großen Streitmacht an und bedrohte bereits die Festung Wien. Alle diese Ereignisse riefen am Hofe von Florenz eine nicht geringe Erregung hervor. Deswegen hatte man den Hofmathematiker auch kommen lassen.
»Sagt uns, Messer Galilei, aber ganz aufrichtig, was diese drei Kometen zu bedeuten haben? Der Heilige Krieg, den Se. Majestät der Kaiser zur Ausrottung der Ketzer unternommen hat, erfüllt unser Herz mit bangen Sorgen. Und man hört so viel über die geheimnisvolle Erscheinung dieser Sterne am Himmel, daß Ihr uns darüber berichten müßt.«
»Hoheit«, erwiderte Galilei, »dies ist eine metaphysische Frage. Leider befasste ich mich nicht mit der Deutung dieser Sterne. Das gehört in das Fach der Astrologen und Theologen.«
»Es ist mir bekannt«, erwiderte die Schwester des Kaisers Ferdinand kühl, »daß Ihr niemals ein Horoskop stellt, aber wir dachten, daß, wenn es sich um Se. Majestät den Kaiser, meinen Bruder, und um die Religion handelt, Ihr dann doch etwas gesprächiger würdet. Könnt Ihr uns denn gar nichts über diese Sterne sagen?«
»Etwas Bestimmtes kann auf dieser Erde darüber niemand sagen, Hoheit. Die Wissenschaft hat bislang das Rätsel noch nicht gelöst, aus welcher Substanz so ein Komet besteht. Diese glänzenden Erscheinungen tauchen in unregelmäßigen Zeitabständen am Himmelskörper auf und verschwinden nach einiger Zeit wieder. Es ist unmöglich, ein System in diesen Vorgängen zu entdecken …«
»Wieso unmöglich«, fiel die Großherzogin ein, »die Kometen erscheinen stets zu Zeiten eines Krieges, das weiß doch jedes Kind.«
»Selbstverständlich, Hoheit; denn es hat noch keine Minute gegeben, in der irgendwo auf unserer Erde kein Krieg war. Ganz gleich also, wann ein solcher Komet auftaucht, er erscheint bestimmt zu Zeiten eines Krieges. Ich habe bereits eine Vermutung, aber ich kann für ihre Richtigkeit nicht bürgen. Es ist möglich, daß diese Kometen gar keine Sterne sind, sondern eine brennende Gasmasse, die sich vom Luftkörper der Erde losgelöst hat und sich so weit von uns entfernen kann wie zum Beispiel der Mond. Ihren Lichtschweif können wir durch optische Gesetze und durch die Unvollkommenheit unseres Sehvermögens einigermaßen erklären. Diese Gasmasse brennt nach einer bestimmten Zeit aus, und der Komet ist wieder verschwunden. Ich habe einstmals genau das Gegenteil gelehrt, jetzt aber ist dies meine Meinung. Ich glaube also, daß dieser Komet kein Stern ist, sondern eine Gasmasse.«
»Ja, ja, aber was hat er zu bedeuten?« fragte die Großherzogin-Mutter ungeduldig.
Galilei verfiel auf einen rettenden Gedanken.
»Eure Hoheit, mir hat Seine Heiligkeit der Papst persönlich verboten, mich mit theologischen Fragen zu befassen. Wenn sich aber Eure Hoheit an den Heiligen Stuhl wenden würden, damit diese Verfügung …«
»Nein, nein!« unterbrach ihn erschrocken die Großherzogin-Mutter. »Wenn Seine Heiligkeit das befohlen hat, dann lassen wir es. Etwas anderes wollten wir jetzt auch nicht fragen.«
Nach solchen Audienzen suchte Galilei regelmäßig den Kanzler Picchena auf, um über jedes Wort Bericht zu erstatten und ihn unter Umständen um Rat anzugehen. Von Sorgen belastet, schwieg Picchena, endlich sagte er:
»Kennt Ihr den Ritter Cioli?«
»Nur oberflächlich. Ich habe das Gefühl, daß wir einander nicht besonders angenehm sind.«
»Ich würde Euch raten, befleißigt Euch, je früher desto besser, in ein freundschaftliches Verhältnis mit ihm zu gelangen. Ich habe Gründe, anzunehmen, daß wir einer sehr schweren Zeit entgegensehen. Ihr befaßt Euch nicht mit Politik, ich weiß, aber aus einigen Andeutungen werdet Ihr vielleicht verstehen können, was jetzt auf der ganzen Welt vorgeht. Die große Zeit der Abrechnung ist gekommen. Das Papsttum rechnet mit dem Protestantismus ab. Der mächtigste Herrscher Europas, Se. Majestät der Kaiser, ist ein überzeugter und keinen Widerspruch vertragender Katholik. Er will die Ketzer vom Erdboden fegen. Ich könnte mich darüber ja nur freuen, denn ich bin selbst ein guter Katholik, aber die weltliche Herrschaft der Pfaffen sagt mir nicht zu. Dieser Krieg aber bedeutet die weltliche Macht der Jesuiten auf der ganzen Welt. Ihr müßt wissen, daß die Jesuiten die ganze Gegenreformation, alles, was dem gegenwärtig tobenden mächtigen Kampfe vorausging, entfacht und organisiert haben. Und der Kaiser Ferdinand ist ein Zögling der Jesuiten. Unsere Großherzogin auch. Die Großherzogin-Mutter gleichfalls. Se. Hoheit Cosimo nicht und ich auch nicht. Mit dem Großherzog kann ich ausgezeichnet arbeiten. Solange er lebt, werden wir zum Heiligen Stuhl stets in einem freundschaftlichen Verhältnis stehen, aber unser eigener Herr bleiben. Solange er lebt. Zu meinem unbeschreiblichen Schmerz muß ich aber damit rechnen, daß wir ihn in der vollsten Blüte seines Lebens verlieren werden. Dann kommt für mich eine schlimme Zeit, Messer Galilei. Ich werde meine Stellung sofort verlieren, weil die Jesuiten das verlangen werden. Die Macht wird in den Händen zweier Frauen liegen, die meinen Nachfolger schon gefunden haben. Das ist der Ritter Cioli, der Liebling der Jesuiten, der unterwürfige Sklave Roms. In Florenz werden die Jesuiten herrschen, Messer Galilei, nehmt den Rat zu Herzen, den mir meine Zuneigung eingegeben hat: sucht Cioli zu gefallen, und wenn Euch ein Jesuit in den Weg läuft, so behandelt ihn wie ein rohes Ei!«
»Ich habe keine Scherereien mit den Jesuiten zu befürchten«, entgegnete Galilei, »ich habe sogar sehr gute Freunde unter ihnen. In Padua habe ich mich an den Kämpfen des Bo gegen die Jesuiten nie beteiligt. Pater Clavius, Gott gebe ihm die ewige Ruhe, war mein väterlicher Freund. Eine ganz besondere gegenseitige Hochachtung verbindet mich mit Pater Grienberger. Kardinal Bellarmin, der größte Jesuit, macht aus seinem Wohlwollen mir gegenüber keinen Hehl. Sogar zwischen Pater Scheiner, dem Jesuiten-Astronom in Ingolstadt, meinem wissenschaftlichen Gegner, und mir herrscht ein außerordentlich herzlicher, respektvoller Ton, wenn wir miteinander debattieren.«
»Das sind nur einzelne. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die jesuitische Weltorganisation Eure kopernikanisch interessierte Person mit freundlichen Blicken betrachten könnte. Hört auf mich: achtet auf die Jesuiten!«
Galilei versprach, diesen wohlgemeinten Rat zu beherzigen. Da richtete man in der Angelegenheit der Kometen eine zweite Frage an ihn, auf die es sehr schwer war, zu schweigen. Der Jesuitenpater Grassi hatte im römischen Kollegium eine Vorlesung über die Kometen gehalten und lang und breit auseinandergesetzt, daß dies keine gasartigen Erscheinungen, sondern richtige Sterne wären. Die Vorlesung befaßte sich auch eingehend mit der neuzeitlichen Entwicklung der Astronomie, vermied jedoch streng den Namen Galilei. Als ob es die Revolution der Erfindung des Fernrohres gar nicht gegeben hätte, als ob die Monde des Jupiter gar nicht existierten, als ob niemand etwas von den sonderbaren Erscheinungen der Venus und des Saturn wüßte.
Der Wortlaut der Vorlesung gelangte durch viele Manuskripte in die Öffentlichkeit, und so kam auch ein Exemplar nach Florenz. Entrüstet brachte es Guiducci seinem Meister.
»Messer Galileo, darauf muß geantwortet werden!«
»Nein, nein«, widersprach er heftig, »mit Jesuiten fange ich gar nicht erst an.«
»Also gut, dann werde ich antworten.«
In kurzer Zeit war die Antwortschrift fertig. Guiducci brachte sie seinem Meister. Der zögerte immer noch, als ob ihm sein Instinkt geraten hätte, die Finger davon zu lassen und Guiducci zum Schweigen zu bringen. Als er aber die Arbeit durchlas, erwachte der Fachmann in ihm. Er begann den Text zu verbessern und änderte hier und da die Satzordnung, wodurch das Ganze eine neue Tendenz, mehr Folgerichtigkeit und Konzentriertheit erhielt. Es machte ihm auch Freude, seinen eigenen Standpunkt festgelegt zu wissen. Schließlich redete er Guiducci doch nicht ab. Er war ja auch sein eigener Herr und trug die Verantwortung selbst. Der Meister gestattete also die Veröffentlichung. Die Akademie von Florenz gab die Schrift heraus.
Einige Wochen später kam eine Replik auf die Antwort Guiduccis. Ihr Verfasser nannte sich Lotario Sarsi Sigensano und die Schrift » Die astronomische philosophische Waage«. Lotario Sarsi Sigensano war nur ein Pseudonym, Pater Grassi hatte die Antwort selbst geschrieben.
Das war schon keine wissenschaftliche Debatte mehr, sondern ein leidenschaftlicher, heftiger Angriff. Die Kometen behandelte er der Form halber nur nebenbei. Die ganze Schrift befaßte sich ausschließlich mit der Person Galileis. Pater Grassi begann gleich damit, daß er ihn als Gelehrten nicht gelten lassen wollte. Er bezweifelte, daß Galileo Galilei jemals etwas erfunden oder entdeckt habe. Was er als seine eigenen Erfolge bezeichne, hätten entweder andere entdeckt oder schon vor ihm erfunden. Das Fernrohr habe nicht er erfunden, der Zirkel sei eine Erfindung von Capra. Die Jupitermonde habe Mayr entdeckt, die Sonnenflecken Pater Scheiner. Galilei sei, nur ein Maulheld und Plagiator. An diese Beleidigungen knüpfte er dann mit großem Geschick die Frage: was denn nun eigentlich mit der kopernikanischen Weltordnung wäre, auf die sich Guiducci zwar nicht beziehe, deren verschworener Anhänger aber Galilei sei? Ob er denn diese verdammte Lehre noch immer aufrecht halte oder nicht?
Diese Schmähschrift gab Galilei tagelang keine Ruhe. Er war unschlüssig, was er tun sollte. Wenn er antwortete, mußte er entweder den Hauptzweck seines Lebens verleugnen oder sich zu ihm bekennen; dann konnte er ebensogut gleich vor die Inquisition treten. Wenn er aber schwieg, mußte er in Schimpf und Schande die gegen ihn erhobenen Anklagen und Beleidigungen ungesühnt lassen. Picchenas Prophezeiung war eingetroffen: er stand im Kampf mit einem Jesuiten, hinter dem dank seiner erschreckenden Organisation die Weltmacht des Ordens geschlossen stand. Er wußte nicht, was er tun sollte. Jeder, mit dem er sich beriet, empfahl ihm etwas anderes. Die widersprechenden Ratschläge verwirrten ihn vollends. Er war aufs äußerste gereizt, schlug immer wieder mit der Faust auf den Tisch und schrie. Er fühlte deutlich, daß er nicht mehr imstande war, die Dinge nüchtern zu betrachten. Und gerade, als ihm klar geworden war, daß seine qualvoll angespannten Nerven keinerlei Belastung mehr ertrugen, kam eines Tages seine Schwester, Frau Landucci, schluchzend zu ihm gerannt. Die arme Frau weinte so sehr, daß sie lange Zeit kein einziges vernünftiges Wort über die Lippen bringen konnte.
»Weine doch nicht so sehr, um Himmels willen! Wie soll ich dir denn helfen, wenn du mir nicht sagst, was dir fehlt?«
»Benedetto … dieser Lump … Nach dreißigjähriger Ehe …«
»Nun? Was ist mit ihm? Hat er dir etwas getan?«
»Er ist durchgegangen. Er ist mit seiner Geliebten durchgegangen. Er hat mich im Stich gelassen mit meinen vier Kindern, mit Vincenzo, mit der Mutter, ohne einen Soldo –«
»Waaas? Wann ist er denn fort? Warum? Das ist ja unfaßbar!«
Langsam kam Virginia zu sich und erzählte der Reihe nach. Benedetto habe schon seit Monaten ein Verhältnis gehabt. In der letzten Zeit sei er zu Hause unausstehlich gewesen. Oft sei er zum Schlafen gar nicht mehr nach Hause gekommen. Sie hätten schon seit langer, langer Zeit nicht mehr miteinander gesprochen und sich nur Zettel geschrieben. Jetzt habe Benedetto seine Sachen gepackt, einen Wagen kommen lassen und sei fortgefahren. Nicht einmal von seinen Kindern habe er Abschied genommen. Er habe einen Brief hinterlassen, daß er dieses Leben nicht mehr ertragen könne und Florenz verlasse. Alles das hatte Virginia einigermaßen zusammenhängend erzählt und begann dann von neuem zu schluchzen. Ergriffen betrachtete Galilei seine Schwester, wie sie so vor ihm hockte und am ganzen Körper bebte. Virginia war siebenundvierzig Jahre alt, frühzeitig ergraut, eine korpulente, runzlige Frau. Landucci, der Musterbürger, der um seine Mitgift prozessierte, der Selbstbewußte, hatte sie in ihren alten Tagen im Stich gelassen. Galilei seufzte tief.
»Höre auf zu weinen! Du ziehst mit den Kindern und der Mutter sofort hierher. Solange ich lebe, brauchst du dich nicht zu sorgen.«
Immer noch schluchzend fiel Virginia ihrem Bruder um den Hals.
In der großen Villa war reichlich Platz, aber der Bewohner waren nun auch viele. In den ersten Tagen verursachte die Einrichtung der Wohnung und das Hin- und Herrücken der Möbel einen fürchterlichen Lärm. Als endlich alles halbwegs in Ordnung war, geriet die Mutter mit der Haushälterin in Streit. Sie stellte sich im Park hin und machte einen derartigen Krakeel, daß die ganze Gegend dröhnte.
Einen Monat lang hielt Galilei diesen Zustand aus, länger nicht. Als er eines Morgens erwachte und sein altes Leiden sich wieder meldete, sagte er kein Wort, ging in die Stadt und ruhte nicht eher, als bis er eine kleine Wohnung gefunden hatte. Sie lag in der Nähe des Arno am Abhang der Costa San Giorgio. Es war ein hübsches, einstöckiges Haus, vier Fenster breit. Auch ein kleines Gärtchen war dabei. Es stand leer und war sofort zu haben. Er handelte nicht lange, sondern mietete. Am anderen Tag schon zog er mit seiner Haushälterin um, um während seiner Krankheit einigermaßen Ruhe zu haben. Hier machte er abermals das Martyrium der schon so oft erlebten rasenden Schmerzen durch, stöhnend und röchelnd. Sobald seine Schmerzen für kurze Zeit nachließen, sann er darüber nach, was er mit den Jesuiten anfangen solle. Er konnte sich zwar noch nicht entschließen, neigte aber eher dazu, zu antworten. Die kopernikanische Frage würde er schon irgendwie zu umgehen wissen. Und schließlich, mochte geschehen was wolle, waren doch zwei große Herren vorhanden, die beide behaupteten, daß, solange sie lebten, Galileo Galilei kein Leid treffen könne: Papst Paul V. war der eine, Großherzog Cosimo II. der andere.
In einer Februarnacht läuteten unerwartet sämtliche Glocken der Stadt. Galilei riß so lange an der Klingelschnur und schrie dazu, bis die Haushälterin schlaftrunken hereinwankte. Er befahl ihr, festzustellen, was das Glockengeläute zu bedeuten habe. Alsbald kam sie zurück, vom Schrecken nun vollständig munter:
»Der Großherzog Cosimo ist gestorben.«
Der Kranke nickte bloß und entließ die Haushälterin. Er wollte allein sein mit seinen Gedanken. Er löschte das Licht aus und begann im Dunkeln leise zu weinen. Er beschwor das Bild des kleinen Thronfolgers von einst herauf, der mit seinem lieben, häßlichen Gesichtchen so aufmerksam dem Vortrag über den Zirkel folgte und in besten Augen die Freude des Verstehens so hell leuchtete. Er dachte zurück an den nächtlichen Park des großherzoglichen Palastes, wo er ihm die geheimnisvollen Sterne gezeigt und erklärt hatte, und der Knabe vom Hauch der Unendlichkeit ergriffen war. Dann begleitete er ihn in Gedanken durch sein ganzes kurzes Leben. Er rief sich alle ihre gemeinsamen Gespräche ins Gedächtnis, und aus allen diesen Erinnerungen tönte ihm im Dunkeln immer derselbe Widerhall entgegen: daß ein aufrechter, guter Mensch gestorben, der ihn sehr geliebt und den er, der alte Florentiner, ebensosehr wiedergeliebt und angebetet hatte.
Der Großherzog wurde in dem herrlichen Medici-Mausoleum zur ewigen Ruhe gebettet, in dem prächtigen Schmuckkasten mit seinen pompösen, düsteren Mauern und kostbaren Intarsien. Sein treuer Gelehrter konnte aber an dem Begräbnis nicht teilnehmen, weil er, von körperlichen Schmerzen gemartert, die sich überstürzenden Nachrichten aus der Außenwelt nur im Bett entgegennehmen konnte. Der zehnjährige Erbprinz bestieg als Ferdinand II. den großherzoglichen Thron. Durch ein ausführliches Testament hatte sein Vater dafür gesorgt, daß neben dem unmündigen Herrscher dessen Mutter und Großmutter die Regentschaft ausüben und ihnen auch ein vierköpfiger Regentschaftsrat zur Seite stehen sollte. Picchena war nicht lange Mitglied dieses Regentschaftsrates. Es kam alles genau so, wie er es vorausgesagt hatte: er wurde in den Ruhestand versetzt, und seinen Platz nahm der Ritter Cioli ein. Die Jesuiten hatten die Regierung Toskanas in der Hand.
Der Kranke mußte viel an Sagredo denken und an jenen Brief, den er von ihm erhalten, als er damals Padua für immer verließ. Jede Zeile seines Briefes, der aufrichtiger Liebe zu ihm entsprungen war, begann jetzt in Erfüllung zu gehen. Als Trost dachte er an den kleinen, spitz gedrehten Schnurrbart des eleganten venezianischen Kavaliers, sein kostbares Samtwams, seine mit glitzernden Schnallen gezierten Schuhe und sein immer zweifelndes, immer zum Necken bereites, sarkastisches Lächeln. Eine heftige Sehnsucht ergriff ihn, sich einmal wieder gründlich mit ihm auszusprechen. Sagredo hatte ihn schon immer auf eines seiner zahlreichen Güter eingeladen, aber nie war er bisher diesen Einladungen gefolgt. Jetzt beschloß er, gleich nach seiner Genesung ihn zu besuchen. Dieser Entschluß machte ihn ganz froh und ließ ihn sogar einen Tag lang seine Schmerzen leichter ertragen. Tags darauf erhielt er aus Venedig die Nachricht, daß Gianfrancesco Sagredo gestorben sei.
Er suchte die alten Briefe des treuen Freundes hervor und las sie durch, – als Mitteilungen eines Toten von weit über den Sternen her. Und auch von einem anderen Toten bekam er eine Nachricht. Eines Vormittags hörte er, daß vor seinem Hause eine Kutsche hielt. Wenige Minuten später kam die Haushälterin hereingestürzt, der Großherzog sei da. Und schon trat der zehnjährige Herrscher in Begleitung seines Erziehers, eines Jesuiten, und des Grafen Piccolomini ein. Der kindliche Herrscher trug ein schwarzes Galakleid mit einem gekräuselten, weißen Kragen und einen mit Edelsteinen besetzten, goldenen Dolch am Gürtel. Er trat zum Krankenbett und reichte Galilei die Hand zum Kuß. Nur mit äußerster Anstrengung konnte der Kranke diese große Auszeichnung entgegennehmen.
»Seine Hoheit, Unser seliger Vater«, sagte der jugendliche Herrscher, wie man es ihm eingebleut hatte, »hat Euch noch auf seinem Krankenlager Unserer Liebe empfohlen. Seinem Geheiß folgend, aber auch Unseren eigenen Gefühlen gehorchend, sind Wir hier erschienen, um Euch baldige Genesung zu wünschen und Euch Unseres Wohlwollens zu versichern.«
»Ich danke ergebenst, Hoheit.«
Damit geriet die Unterhaltung ins Stocken, aber der Graf Enea Piccolomini ergriff sofort das Wort und überbrachte die besten Wünsche seines Bruders, des einstigen Erziehers des seligen Großherzogs.
»Erinnert Ihr Euch noch an den kleinen Ottavio? Er war noch ein Knirps, als es ihm gestattet war, Eurem Unterricht beizuwohnen. Jetzt ist er schon Soldat. Er ist zwanzig Jahre alt. Er ist bei der Armee, die Toskana Seiner Majestät dem Kaiser Ferdinand gegen die Böhmen zu Hilfe sandte.«
Der Jesuit, der bis zuletzt kein Wort gesprochen hatte, gab einen Wink. Der Großherzog reichte abermals dem weltberühmten Gelehrten, den er von seinem Vater geerbt hatte, die Hand zum Kuß und dann gingen sie.
»Man wird eine Marmortafel an diesem Hause anbringen, Porzia«, sagte der Kranke zu seiner immer noch sprachlos dastehenden Haushälterin.
Dann fiel er wieder in seine düsteren Gedanken zurück. Immer wieder mußte er an den Tod denken, der ihn jetzt ständig umschwebte. Dabei haßte er schon den Gedanken an ihn. Seine Träume waren voller Alpdrücken, die Angst vor dem Nichtsein erschütterte ihn. Abends schlief er mit der Furcht ein, mit welcher Nachricht ihn wohl der Morgen empfangen würde.
Er mußte nicht lange warten. Eines Morgens kam Virginia wieder einmal schluchzend zu ihm gerannt. Mit ihr kam auch der nur aus Höflichkeit weinende Nencio, wie man Vincenzo in der Familie nannte.
»Galileo«, schluchzte Virginia, »Mutter ist gestorben.«
Diese Nachricht drang ihm bis ins Mark. Er verspürte einen entsetzlichen Schmerz in seinem Herzen. Die viele Schande, die Skandale, die ungezählten Schwierigkeiten, die er um der alten Frau willen hatte erleiden müssen, waren mit einem Male wie weggewischt. Er weinte und schüttelte sich in rasendem Schmerz, als ob er nicht siebenundfünfzig, sondern nur sieben Jahre alt gewesen wäre. Wie ein verirrter kleiner Junge rief er laut jammernd nach seiner Mutter und hielt mit seiner gesunden Rechten krampfhaft Virginias Hand umklammert. Erst viel später erfuhr er, daß es der alten Frau schon seit Wochen sehr schlecht gegangen war, daß man aber nicht gewagt hatte, es ihm zu sagen, aus Angst, ihn zu erregen. Die letzten Tage hatte sie vollständig besinnungslos verbracht und starb so, daß man gar nicht wußte, wann sie entschlief. Dreiundachtzig Jahre hatte sie gelebt. Ihr Begräbnis gestaltete sich sehr traurig. Livia und die Ihren konnten nicht rechtzeitig aus Venedig fort, Lena und ihr Mann wohnten in einem kleinen abgelegenen Dorf in den Bergen, Michelagnolo war in München, und die beiden Enkelkinder durften das Kloster nicht verlassen. Es waren jetzt sogar drei Enkelkinder im Kloster; denn auch die eine Tochter Landuccis war Nonne geworden: Suor Chiara. Galilei lag krank im Bett. Nur Virginia war da mit den vier Kindern, als man die alte Frau beerdigte.
Wer blieb ihm noch? Auf wen konnte er noch rechnen? Wer sollte seine Stütze sein, wenn er wieder gesund war und zu arbeiten anfing? Denn allmählich begann in ihm jetzt zu reifen, was er diesen Jesuiten antworten sollte. Keine Streitschrift, kein offener, heftiger Brief, sondern ein schönes, großes Werk, das das Lebensbekenntnis seiner Wissenschaft, seines befreiten, den Peripatetikern entgegengesetzten modernen Denkens sein sollte. Sein ganzes Können will er in dieses Werk hineinlegen, zugleich auch alles Schöne und Erhabene, was in der Welt in ihm und um ihn lebt und wirkt. Er wird es persönlich dem Papst Paul und auch dem Kardinal Bellarmin überreichen und erklären, worum es sich handelt: um ein gewaltiges, allumfassendes Problem, von dem die kopernikanische Frage nur ein kleiner Teil ist!
Behutsam machte er sich an die Arbeit. Bei jeder unbedachten Bewegung stöhnte er vor Schmerzen in seinen Gelenken tief auf. Seine Besucher vermittelten ihm täglich die Nachrichten der Außenwelt über den großen Krieg. An einem Novembertage brachten sie die Kunde von einem überwältigenden Sieg: die Katholiken hatten beim Weißen Berge über die Protestanten gesiegt. Auch der junge Piccolomini hatte an dieser Schlacht als Kommandeur eines Reiterregiments teilgenommen und sich hervorragend geschlagen. Der Hof in Florenz schwelgte in Glückseligkeit, und auch Rom befand sich im Siegestaumel, aus dem es jäh wieder herausgerissen wurde. Papst Paul hatte eine prunkvolle Dankprozession angeordnet, an der er persönlich teilnahm; in dem Wirrwarr und den Aufregungen dieser Prozession aber erlitt er einen Herzschlag und war sofort tot.
Eine entsetzliche Angst übermannte Galilei. Alle, an die er voller Anhänglichkeit und Freundschaft dachte, starben, als hätte er sie aus der Ferne mit seinen Gedanken vergiftet. Er wurde abergläubisch und murmelte Zauberworte, die er von seiner Haushälterin gelernt hatte. Aber auch diese Zauberformeln vermochten ihn nicht von der fürchterlichen Angst vor dem Tode zu befreien. In diesen Monaten schien er um zehn Jahre gealtert. Wenn er an seinem Schreibtisch saß und arbeitete, wenn er ruhte, immer zeigte sein Gesicht den Ausdruck eines ständigen Schreckens.
Zum Papst wählten die Kardinäle einen kränklichen Greis, Alessandro Ludovisi, der die Tiara als Gregor XV. auf sein Haupt setzte. An der Regierung nahm er keinen besonderen Anteil, sein Verwandter Ludovico Ludovisi riß die Macht an sich und vereinigte alle Einflüsse geschickt in seinen Händen. Nur einige angesehene alte Kardinäle behielten ihren Einfluß, darunter Bellarmin.
Galileis seelischer Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag, während sein körperliches Wohlbefinden sich besserte. Die Arbeit ging ihm immer leichter von der Hand, und besonders freute er sich, daß es ihm gelungen war, für sein Werk einen ausgezeichneten Titel zu finden. Grassi hatte sein Buch » Die astronomische und philosophische Waage« genannt. Sein Werk sollte den Namen » Il saggiatore« führen. Die Goldwaage. Ein feines und außerordentlich empfindliches Instrument, mit dessen Hilfe er untrüglich nachweisen wollte, was Gold und was nur ein mit eitlem Glanz funkelnder Kieselstein sei.
Inzwischen war es Sommer geworden, seine Nieren verursachten ihm keinerlei Beschwerden mehr, auch seine Gelenke waren wieder völlig geheilt. Das Buch ging mit Riesenschritten seiner Vollendung entgegen. Eines Nachmittags trat Guiducci bei ihm ein:
»Meister, ich habe soeben Nachricht aus Rom erhalten. Der Kardinal Bellarmin ist gestorben.«
Die Welt verfinsterte sich vor Galilei, die einzelnen Gegenstände verloren ihre Umrisse. Er sank vom Stuhl und fiel auf die Erde. Und auch in seiner Ohnmacht hielt er den Gänsekiel krampfhaft in seiner Rechten.