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Erstes Kapitel

»Ich, Galileo Galilei, verpflichte mich, sowohl in meinem als auch im Namen meines jüngeren Bruders, Michelagnolo Galilei, dem verehrten Herrn Taddeo Galletti eintausendachthundert Dukaten auszuzahlen – den Dukaten zu sechs Lire und vier Soldi gerechnet – und zwar wie folgt: ich gebe meiner Schwester Livia sechshundert Dukaten in bar und für ihren Haushalt Wäsche im Werte von zweihundert Dukaten. Die noch verbleibenden tausend Dukaten habe ich in Teilbeträgen von jeweils zweihundert Dukaten innerhalb von fünf Jahren zu zahlen, und zwar dergestalt, daß der ganze Betrag fällig wird, falls ich mit einer Rate im Verzug bleibe. Im Namen sowohl meiner Erben und Rechtsnachfolger als auch der meines obengenannten Bruders erkläre ich, daß wir für diese Mitgift mit unserem jetzigen oder künftigen und sonstwo auffindbaren Vermögen haften. Sobald einer von uns beiden die Zahlung irgendeiner Note versäumt, kann der andere in vollem Umfange für die gesamte Schuld herangezogen werden. Gesonderte Abkommen oder gerichtliche Urteile, die diesen Vereinbarungen widersprechen, sind für die vertragschließenden Parteien bereits heute ungültig.«

 

Er hatte also auch Livia verheiratet. Das Mädchen hatte sich zuerst mit einem jungen Mann namens Baldi verlobt, von dem man jedoch so viel Schlechtes erfuhr, daß Galileo seine Zustimmung zu dieser Ehe verweigerte. Livia fügte sich alsbald und war auch mit ihrem zweiten Freier zufrieden, einem jungen florentinischen Adeligen namens Galletti, der zwar zunächst noch in keiner gesicherten Stellung war, aber in Venedig gute Verbindungen hatte. Dort wollte er sich niederlassen und behauptete steif und fest, er würde große geschäftliche Pläne verwirklichen, wenn er bestimmt auf die Mitgift rechnen könne. Der Ehekontrakt wurde bei einem Notar in Venedig abgeschlossen. Das Brautpaar war dorthin gefahren, weil Galileo nicht nach Florenz kommen wollte. Er hegte den Verdacht, daß ihn Schwager Landucci sofort dem Gericht ausliefern würde. Als er nämlich die Bürgschaft für die große Mitgift Livias übernahm, war er noch mit einem beträchtlichen Teil von Virginias Mitgift im Rückstand. Woher er überhaupt diese Unsummen nehmen sollte, wußte er heute noch nicht. Aber es wird schon irgendwie werden, – besänftigte er seine eigenen Sorgen. Und wenn ihm Bedenken kamen, daß er aus geschwisterlicher Liebe und als sorgendes Familienoberhaupt unerfüllbare Verpflichtungen auf sich nahm, so suchte er sich damit zu beruhigen, daß er ja auch von seinem jüngeren Bruder Unterstützung erwarten könne.

Michelagnolo hatte nämlich eine Anstellung erhalten. Seine in Polen gewonnenen Verbindungen pflegte er durch regen Briefwechsel weiter, und eines schönen Tages erklärte er, daß er die Möglichkeit habe, in dem Orchester eines der reichsten polnischen Magnaten, des in Litauen wohnenden Fürsten Radziwill, unterzukommen. Er schnürte sein Bündel und machte sich abermals auf den weiten Weg. Aus Krakau schrieb er einige flüchtige Zeilen, weitere Lebenszeichen gab er aber nicht mehr von sich. Später hörte die Familie durch Zufall, daß er aus Lublin einem seiner Freunde, Segni mit Namen, geschrieben und diesen habe wissen lassen, er führe von dort nach Wilna. Seitdem hörte man nichts mehr von ihm. Da er aber nicht zurückkehrte, konnte man annehmen, daß er seine Stellung tatsächlich angetreten habe. Die beiden Brüder hatten vereinbart, daß Michelagnolo sofort nach seiner Ankunft in Litauen einen beträchtlichen Vorschuß aufnehmen und das Geld unverzüglich an Galileo schicken solle. Dieses Geld blieb aber aus. Galileo wartete und wartete, der Zahlungstermin rückte immer näher, nichts kam. Schließlich mußte er sich an einen Wucherer wenden und für ein Darlehen mit hohen Zinsen einen kurzfristigen Wechsel ausstellen. Und das Geld aus Litauen ließ nach wie vor auf sich warten. Da wandte er sich in seiner Bedrängnis an seine vornehmen Freunde. Sagredo und Venier, der Abkömmling einer Dogenfamilie, bezahlten den Wechsel. Jetzt stand er also bei denen in Schuld. Das quälte ihn aber mehr als die Wucherschuld. Er wollte nun wenigstens von Michelagnolo eine schriftliche Anerkennung der Mitgiftsbürgschaft erhalten und schrieb deshalb in kürzeren und längeren Abständen mehrmals nach Litauen, aber Michelagnolo ließ alle vier Briefe ohne Antwort.

Es blieb nichts übrig, er mußte sich damit abfinden, daß er auch diese Last allein zu tragen hatte. Was er einst seinem Vater in die Hand versprochen, nämlich für seine Geschwister treu zu sorgen, das bewahrte er tief in seinem Herzen. Aber auch ohne dieses Versprechen hätte er nicht anders gehandelt. Er hing an den Seinen mit fast krankhafter Liebe und hatte auch eine stolze Freude daran, daß die ganze Familie nur auf ihn blickte, auf ihn, den berühmten Gelehrten, und von ihm allein Hilfe erwartete. Man konnte von ihm verlangen, was man wollte, schon beim ersten Wort übernahm er alles. Vor dem Fälligkeitstermin stellten sich dann die Kopfschmerzen ein. Irgendwie gelang es ihm aber stets, über alle Unannehmlichkeiten hinwegzukommen. Und als er sah, daß es nie zu ernsten Schwierigkeiten kam, übernahm er bei der nächsten Gelegenheit eine womöglich noch höhere Bürgschaft. Geld war ja dazu nicht notwendig, nur seinen Namen mußte er irgendwohin schreiben. Livia fiel ihm dankbar um den Hals, und er konnte in voller Ruhe zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten und Schriften zurückkehren.

Wenn er jetzt aber bei seinen Studien in der alten klassischen Literatur nachblättern wollte, konnte er nicht mehr zu dem guten, alten Pinelli gehen, um nach Herzenslust in der großen Bibliothek herumzustöbern; denn Pinelli war gestorben. Das Haus war seiner Verwandtschaft in Neapel als Erbe zugefallen, und der Nachlaßvollstrecker hatte alles versiegelt. Der alte Schwärmer von Padua und dem Bo wurde in der Kirche Santo Antonio beigesetzt. Die Professoren des Bo, die lange Jahre hindurch in seinem gastfreundlichen Hause gegessen und getrunken, debattiert und seine Bücher benutzt hatten, wollten gleich eine Geldsammlung für ein würdiges Marmordenkmal einleiten. Allein ein Verwandter Pinellis, der Fürst Accerenza, der zum Begräbnis gekommen war, wies diesen pietätvollen Freundschaftsdienst zurück. Er erklärte, daß er das Denkmal allein auf seine Kosten errichten würde. Galilei und Sarpi, die den Gedanken aufgebracht hatten, zogen sich bescheiden zurück.

Und Galilei grübelte weiter über seine wissenschaftlichen Probleme und wartete auf das Wunder. Er hatte das Gefühl, Christus selbst müßte eingreifen, damit dieses Wunder geschehe: daß er einen unwiderlegbaren Beweis für die Richtigkeit der kopernikanischen Lehre finde. Gelänge ihm das, dann könnte ihn auch die allgewaltige Macht der Kirche nicht mehr hindern, öffentlich hervorzutreten. Auch die Kirche hatte ihre Gelehrten, wie Clavius, und handgreifliche Beweise mußten auch diese überzeugen. Nur eben diese Beweise fehlten noch. Vielleicht würden sie nie zu finden sein. Und Galileo Galilei würde sterben, nachdem er sein Leben lang vom Katheder herunter etwas gelehrt hatte, was er für falsch hielt. Es war ein überaus demütigendes Bewußtsein, kaum noch zu ertragen. Davor mußte er zu den kleinen Freuden des Alltags flüchten.

Das große Haus hatte auch einen Weingarten. Galilei gab sich mit Eifer der Pflege des Gartens hin. Er gewöhnte sich daran, morgens viel früher aufzustehen als bisher. Sowie er aus dem Bett sprang, wusch er sich schnell, warf sich etwas über und eilte in den Garten, Jeden Tag entdeckte er eine neue, erregendere Sache in dem kleinen Weingarten. Einen Strohhut auf dem Kopf, einen kleinen Gärtnerkorb mit den Geräten um die Hüften gebunden, so ging er zwischen den Rebstöcken umher. Die wurden seine persönlichen Freunde und nahmen menschliche Eigenschaften an. Es waren Rebstöcke da, die hörten auf gute Worte, waren bereitwillig und folgsam. Es waren aber auch solche da, die sich störrisch und feindselig zeigten und die er umsonst behutsam hochgebunden hatte. Unverbesserlich, wie sie waren, gingen sie ihren eigenen Launen nach und schlugen jede Ermahnung in den Wind. Dann gab es Rebstöcke, die vor Gesundheit strotzten, schelmische, lustige Triebe; die wuchsen von der Kraft der Sonne, daß es eine Freude war, es mit anzusehen. Und daneben gab es schmächtige und kränkliche, die zärtlicher Pflege bedurften; täglich mußte man sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen. Es war ein wundersamer Zeitvertreib, das Werden der grünen Traube zu beobachten, an der sich die kleinen grünen Kügelchen bildeten. Allmählich schwellen die Kügelchen immer mehr an. Dann kommt die Zeit, wo aus dem Haufen von Kügelchen eine Traube wird, noch herb und ungelenk wie ein junges Mädchen. Nach und nach bekommen die schwellenden Honigkugeln immer mehr Farbe, man kann die Beeren schon kosten und abschätzen, wie viele Eimer der ganze Garten geben wird. Und eines Tages erscheinen auf dem Tisch die ersten Trauben des Jahres. Es folgen die Aufregungen der Traubenernte, die viele Arbeit mit den Wannen und dem Most, während der bittersüße, herbstliche Duft der Hefe die Gegend durchzieht. Dann kleiden sich die beraubten Reben in eine rotlila Farbenpracht, traurig versonnen lassen sie ihre Blätter fallen, und endlich bereiten sie sich mit schwarzem Körper darauf vor, den Winter durchzufrieren, bis der Tag kommt, wo sie wieder die erste zarte, grüne Ranke zeigen. Und im taufrischen Morgen geht der Gelehrte mit dem Strohhut auf dem Kopf zwischen den Reben umher, und während er sie betreut, sind seine Gedanken mit mathematischen Problemen beschäftigt.

Mit klingenden, feilenden Geräuschen begann zugleich die Arbeit am anderen Ende des Hofes in der Werkstatt Mazzolenis. Diese Werkstatt konnte Galilei, wenn er es gewollt hätte, auch als seine eigene Fabrik bezeichnen. Fleißig stellte Mazzoleni die Zirkel her, die guten Absatz fanden. Aber nicht nur Zirkel verfertigte diese Werkstatt. Meister Mazzoleni arbeitete mit zwei Gehilfen; sie verfertigten Winkelmesser, Sextanten und Quadranten, einzelne Teile von physikalischen Apparaten und Ständer für verschiedene Geräte, die zu Experimenten bestimmt waren. Die Kunden dieser kleinen Fabrik waren reiche Dilettanten, die sich für die Wissenschaft interessierten, hohe Militärs, Vermögensverwalter reicher Grundbesitzer und gutgestellte ausländische Studenten.

Etwas später kam dann auch Messer Silvestro, der bezahlte Schreiber dieses Hauses. Die kleine Fabrik verkaufte nämlich mit den Zirkeln auch eine Gebrauchsanweisung, aber keine gedruckte – denn das hätte den Privatstunden Abbruch getan – sondern nur handgeschriebene. Messer Silvestro begann seine Arbeit früh am Tage, tauchte den Gänsekiel in die Tinte und kopierte die Gebrauchsanweisungen bis Mittag. Nach dem Essen setzte er sich wieder hin und kopierte bis Sonnenuntergang. Manchmal schrie er gereizt durchs Fenster und heischte Ruhe, weil er in seiner Zerstreutheit auch die Worte der draußen herumtobenden Schüler mit in den Text hineinschrieb.

Die Studenten kamen und gingen. Es gab kaum freie Zimmer in den beiden Stockwerken. Manche kamen nur für zwei Tage, um sich in die Grundlagen der Befestigungslehre einführen zu lassen, manche saßen aber auch schon seit drei Jahren da und arbeiteten fleißig für das Baccalaureat des Bo. Beim Mittag- und Abendessen herrschte fröhlicher Lärm an der großen Tafel, Galilei saß am oberen Ende des Tisches und lachte herzlich mit seinen Studenten mit.

Wenn ihm die Privatstunden Zeit übrigließen, war er Gast im Palazzo Cornaro. Seit Pinelli gestorben war, wurde dieses Haus das Heim der gelehrten Welt. Außerdem hielt die Akademie regelmäßig ihre Sitzungen ab; sie waren über alle Maßen langweilig, aber die Akademie bestand trotzdem weiter, und wer noch nicht Mitglied war, sah es für eine große Auszeichnung an, aufgenommen zu werden.

Und nach dem Abendessen war dann Marina an der Reihe, in ihrer von Kindergeschrei erfüllten Häuslichkeit. Genau ein Jahr nach der Geburt der kleinen Virginia war ein zweites Mädchen angekommen. Sie erhielt den Namen Livia. Galileo hatte Marina vorgeschlagen, als Rufnamen einen Namen aus ihrer Familie zu wählen, aber Marina zuckte nur die Achseln. Sie wußte niemanden, nach dem sie die Kinder hätte nennen wollen. Ihre Mutter hatte sie kaum gekannt, sie erinnerte sich ihrer nur ganz blaß, weibliche Verwandte hatte sie weiter nicht. So ergriff Galilei mit Freuden die Gelegenheit, sein zweites Kind Livia zu taufen.

Wenn er in der Wohnung erschien, pflegte er stets zuerst zu fragen, wie es den Kindern gehe, und dann, ob es etwas Neues gebe. Immer mit denselben Worten. Und Marina antwortete gleichfalls immer mit denselben Worten: den Kindern gehe es gut, und es gebe nichts Neues. Dann hob der Vater das größere Kind auf seinen Schoß und spielte mit ihm. Er kitzelte es, lehrte es sprechen, streichelte sein Köpfchen. Wenn er davon genug hatte, stellte er das Kind wieder auf die Beine, zündete sich seine Pfeife an und zog ein Buch aus der Tasche. Marina machte sich hier und dort zu schaffen, legte die Kleinen schlafen, setzte sich in den zweiten Lehnstuhl und nahm eine Handarbeit vor. Manchmal redeten sie stundenlang kein Wort miteinander.

So vergingen die Tage, nach den Tagen die Monate, nach den Monaten die Jahre. Das Buch des Kopernikus lag so tief unter dem Haufen der inzwischen neu hinzugekommenen Bücher, daß es eine gute Weile gedauert hätte, bis man es hervorgesucht hätte. Aber es fiel ihm gar nicht ein, es hervorzusuchen. Sein Leben verlief in ruhigen bürgerlichen Bahnen. Er war Professor in Padua und lehrte Euklid und Almagest. Von seinem alten Draufgängertum war nur soviel zurückgeblieben, daß er, wenn er die Probleme der Mechanik erörterte, lebhaft den Standpunkt des Aristoteles widerlegte und seine eigenen Forschungen über die Beschleunigung der freien Fallgeschwindigkeit erörterte. In seinem geruhsamen Leben war die einzige Abwechslung, daß er öfter nach Venedig fahren mußte, um in der Gunst der Riformatori zu bleiben. Er unternahm wohl auch mit seinen alten Kameraden Zorzi, Magagnani und Boccalini Ausflüge in die Umgegend. Manchmal kam auch Sagredo aus Venedig herüber oder Fra Paolo Sarpi besuchte ihn. Dann sprachen sie sich gründlich aus und danach lief sein Leben in der alten gewohnten Bahn weiter.

In dieser Eintönigkeit war es ein Ereignis, daß zwei Fremde in der Stadt erschienen waren. Ein Fechtlehrer namens Capra und sein Sohn. Ihr Ruf verbreitete sich bald, und in Kürze hatten sie sehr viele Schüler. Auch Galilei suchte sie auf, weil ihn der Mangel an Körperbewegung drückte und außerdem ein innerer Instinkt in ihm arbeitete, sich wenigstens auf diese Weise gründlich auszukämpfen. Schon nach der ersten Unterrichtsstunde war er begeistert, besuchte die weiteren Stunden mit wachsendem Eifer und bildete sich schnell zum gewandten Fechter aus. Wenn es ihm einmal gelang, dem Meister Capra selbst einen Hieb zu versetzen, schrie er stolz vor Freude auf. Hinterher aß er wie ein Wolf, trank mächtig und fand, daß Speise und Trank und die Schönheit Marinas das Leben doch recht angenehm gestalten könnten.

So näherte er sich seinem vierzigsten Jahre. Diesen Geburtstag verbrachte er aber im Krankenzimmer, da er schon im Januar bettlägerig geworden war. Schon früher hatte er, hauptsächlich bei Wetterumschlag, gespürt, daß etwas in seinen Gelenken rumorte, hatte das aber nicht weiter beachtet. Jetzt meldeten sich die gleichen Schmerzen im linken Handgelenk und in beiden Knien, und zwar hundertmal stärker als zuvor. Die Gelenke schwollen an, und die geringste Bewegung tat ihm so weh, daß er laut stöhnen mußte. Erst glaubte er, daß er bald geheilt sein werde, aber sein Zustand verschlechterte sich immer mehr. Endlich entschloß er sich, einen Arzt zu holen, den alten Professor Fabrizio in eigener Person. Der untersuchte ihn, schüttelte den Kopf und fragte:

»Habt Ihr einmal Halsschmerzen gehabt? Aber natürlich, ich erinnere mich ganz gut daran.«

»Nun und? Was geht denn mein Hals meine Knie an?«

»Sehr viel. Der Wissenschaft ist es längst bekannt, daß Halsentzündung eine Krankheit ist, die sehr oft nur äußerlich heilt, in Wahrheit sich aber nur vom Hals entfernt und in den Gelenken versteckt, um nach Jahren wieder zum Vorschein zu kommen. So lächerlich es also auch klingen mag, glaubt nur der Wissenschaft, Euer Gnaden, Ihr habt in Euren Gelenken Halsentzündung.«

»Ich glaube es Euch, wenn Euer Gnaden mir glauben wollen, daß die Erde sich um die Sonne bewegt.«

Der alte Professor lachte.

»Ihr macht sogar noch Späße, wenn Ihr leidet. Dies ist doch wahrlich eine schmerzhafte Krankheit.«

»Und wie lange dauert so eine Krankheit?«

»Warum sollte ich Euch belügen: das ganze Leben lang. In einigen Wochen, vielleicht auch schon in einigen Tagen, kann sie vergehen, nächstes Jahr aber kann sie wiederkommen. Manchmal setzt sie viele Jahre hintereinander aus, dann fängt alles wieder von vorn an. Aber man kann dabei, wenn es gut geht, hundert Jahre alt werden.«

»Das ist ja ein lieblicher Trost. Und wie sollen wir sie behandeln?«

»Wir machen heiße Kleie-Umschläge, das wird gut tun. Ich schicke Euch den Stadtarzt, Grosso, er mag täglich nach Euch sehen. Was habt Ihr denn da für ein Buch?«

»Das? Mein Lieblingsdichter.«

»Ach so, Ariosto.«

»Nein, Ariosto kommt erst in zweiter Linie. Das hier ist Berni.«

»Natürlich Berni. Ich habe seinen Namen schon gehört, aber noch nie was von ihm gelesen.«

»Dann hört Euch einmal dieses Gedicht an, Euer Gnaden. Es heißt: ›Sonett an meine Frau‹. Ein schönes, erhabenes Gedicht. Man muß es so vortragen, wie ich es Euch jetzt vortragen werde.

Ihr Haar ist silbern, borstig und zerzaust,
Die Nase hängt gleich einer reifen Dolde
In einem Angesicht von rotem Golde,
Daß selbst dem Tod, dem bleichen, vor ihr graust.

Von Amors Pfeilen ist sie nicht umsaust.
Die Augen stehn in zweier Herren Solde,
Denn niemals blickt geradeaus die Holde.
Aus feistem Arm wächst eine mächt'ge Faust.

Weit klafft der Mund und wie aus Ebenholz
Erglänzen drin vereinzelt ihre Zähne –
Ein Anblick ohnegleichen, unbeschreiblich!

Ihr aber, die ihr schwärmt für alles Schöne
Und huldigend vor allem kniet, was weiblich, –
Wißt: meine Liebste schildert' ich mit Stolz!

Was sagt Ihr dazu, Euer Gnaden, ist es nicht reizend? Dieser Mensch hat in Florenz gelebt, als das verstiegenste Pathos und der üppigste Pomp dort triumphierten. Und da wagt er es, solch ein Sonett zu schreiben! Und wie modern es ist, als ob es heute geschrieben wäre, meint Ihr nicht auch? Ich will Euch schnell noch eins vorlesen, ehe Marina kommt; denn ich erwarte sie. ›Sonett gegen die Ehe‹.

Dürres Geflügel, fette Rinderlende –
Und keinen Becher Wein, um nachzuspülen!
Nach Geld vergebens in den Taschen wühlen,
Doch zahlen, zahlen müssen ohne Ende!

Im Jänner schwitzen, um des Jahres Wende,
An heißen Sommertagen sich verkühlen,
Im Festgedränge Rippenstöße fühlen,
Doch gar nichts sehn! In bergigem Gelände.

Mit einem Stein im Schuh nur humpeln können!
Im Strumpf ein Floh, der sich am Blute weidet!
Vor Ungeduld beim Warten schier verbrennen,

Ermattet keine Lagerstatt sich gönnen!
Ein Bein bestrumpft, das andre unbekleidet …
Und solltet Ihr noch größ're Übel kennen,
Mögt Ihr getrost sie nennen!

Allein von allen schlimmen Schicksalsgaben
Bleibt doch die schlimmste: eine Frau zu haben!

»Wirklich, sehr lustig«, lachte der alte Professor, »das möchte ich meiner Frau vorlesen. Könntet Ihr mir diesen Band nicht leihen?«

»Gott behüte, ich habe ihn selbst gestohlen. Ich habe ihn mir seinerzeit von unserem armen seligen Pinelli geholt und ihn den Erben nicht wieder zurückgegeben. Ich gebe ihn auch nicht zurück. Ohne Berni könnte ich die Schmerzen gar nicht ertragen. Es wundert mich nicht, daß dies das Lieblingsbuch Michelangelos war.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Michelangelo soll diesen Berni einfach den Göttlichen genannt haben. Aber dieses Sonett gegen die Ehe will ich Messer Silvestro in die Feder diktieren und es Euer Gnaden als ärztliches Honorar schicken.«

»Das ist recht. Also nur Kopf hoch, die warmen Packungen werden schon helfen. Morgen kommt Grosso und dann beginnt die Kur.«

Während der Professor sich verabschiedete, klopfte es. Aber es war nicht Marina, sondern zur größten Überraschung des Kranken kamen der Fechtmeister und sein Sohn, Azerlio und Baltassare Capra. Sie waren noch nie bei ihm gewesen, sie verkehrten gar nicht miteinander. Der alte Capra zeigte sich sehr teilnahmsvoll, fragte den Kranken eingehend über die Symptome seines Leidens aus, und schließlich verriet er, was sein Herz bedrückte.

»Ich kam, um Euer Gnaden nicht nur als Fechter, sondern auch als Patienten zu gewinnen. Ich will nämlich Mediziner werden. Ich habe schon bei Seiner Gaden, dem Herrn Grosso, mehrere Unterrichtsstunden gehabt. Er lehrt mit außerordentlicher Selbstlosigkeit und behauptet, daß ich ein bewunderungswürdiges Gefühl für die medizinische Wissenschaft hätte.«

»Was Ihr nicht sagt, Messer Capra! Also wenn Ihr ein fertiger Mediziner seid, dann hätte ich nichts dagegen, wenn Ihr mich heilen würdet, denn ich habe unmenschliche Schmerzen.«

»Ich werde alles daransetzen. Außerdem kam ich noch in einer anderen Angelegenheit. Ich möchte meinen Sohn Eurem Wohlwollen empfehlen. Er will nämlich jetzt seine Bildung nachholen, weil in Mailand, unserm früheren Wohnort, niemand war, von dem er hätte lernen können. Wir dachten uns also, mein Sohn Baltassare könnte als Ausgleich für die Fechtstunden hierherkommen, um mathematischen Unterricht zu erhalten. Insbesondere würde ihn der berühmte Zirkel interessieren. Wir haben gehört, daß Euer Gnaden ihn hier im Hause herstellen.«

»Jawohl.«

»Könnte man bei der Herstellung nicht einmal zuschauen, nur aus Neugierde?«

»Es tut mir leid, Messer Capra, aber Ihr seid zu einer schlechten Zeit gekommen. Wir haben augenblicklich keine Zirkel in Arbeit. Wenn ich aber wieder gesund bin, will ich Euch gerne den Gebrauch dieses Zirkels erklären. Die Kosten des Unterrichts sollen Euch keine Sorgen machen, wir werden schon miteinander einig.«

Da trat Marina ein. Die beiden Capras grüßten höflich, sprachen noch ein paar Worte und entfernten sich dann mit tiefen Verbeugungen. Marina brachte heiße Kleie in einer Waschschüssel und Handtücher. Auf dem Wege hierher hatte sie Fabrizio getroffen und ausgefragt – und nun ging sie ohne viel Umstände gleich ans Werk.

»Zeige deine Knie her«, forderte sie ihn auf, »ich will sie dir verbinden. Hab' keine Angst, ich gebe schon acht, daß es nicht weh tut. Aber sage einmal, was haben diese zwei Taugenichtse hier gesucht?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe mich auch gewundert, daß sie mich besuchten. Narren sind sie alle beide. Der Vater will Arzt werden, der Junge Astronom. Wenn mein Fuß nicht so schmerzte, würde ich jetzt aus ganzem Herzen über sie lachen.«

»Lache lieber nicht! Die beiden sind Spione.«

»Spione? Bist du denn auch schon närrisch? Was sollten sie hier ausspionieren? Aaah, das tut aber wohl, dieses heiße …«

»Das werde ich dir gleich verraten. Kennst du den Simon Mayr?«

»Freilich. Er ist ein armer Mathematiker. Er beendete seine Studien hier in Padua vor meiner Zeit, er war noch ein Schüler Molettis. Dann kehrte er aber nicht nach Hause zurück, sondern blieb hier. Er erteilt Schulkindern Rechenunterricht. Der wirbelt nicht viel Staub auf.«

»Doch, das tut er. Weißt du nicht, daß dieser Simon Mayr über dich schimpft, wo er nur kann?«

»Ich habe so etwas läuten hören, aber auch gleich wieder vergessen. Natürlich schimpft der arme Wicht über mich. Er bekommt für eine Privatstunde nur wenige Soldi. Und mein Haus ist voll gutzahlender, reicher Studenten. Und da soll er nicht auf mich schimpfen?«

»Und weißt du auch, wer sein bester Freund ist? Der junge Capra. Bei jeder Gelegenheit hocken sie zusammen. Du, Galileo, die wollen etwas von dir.«

»Was können die schon wollen? Der Junge ist auf den Zirkel neugierig. Nun, ich werde ihn schon unterrichten, wenn ich wieder gesund bin. Wie geht es den Kindern?«

»Es geht ihnen gut. Morgen bringe ich sie dir, damit sie dir zum Geburtstag gratulieren können. Sie sind schon ganz aus dem Häuschen.«

»Sonst gibt es nichts Neues?«

»Doch. Eine frühere Magd hat mich besucht und mir von einem ungeheuren Skandal in Venedig erzählt. Kannst du dich noch an Leonardo Pesaro erinnern?«

»An den Duellhelden? Natürlich. Sagredo hat mir viel von ihm erzählt. Was ist denn los mit ihm?«

»Er hat sich jetzt endlich den Hals gebrochen. In der Familie Minotto di Barba feierte man neulich eine große Hochzeit mit Maskenball. Er war auch geladen. Und hier traf er den Paolo Lion, auf den er es schon seit langem abgesehen hatte. Er fing mit ihm Streit an. Aber Paolo Lion sprach gerade mit seiner Braut Lucrezia Baglione, er wollte einen Skandal vermeiden und wies Pesaro zurecht. Pesaro verließ daraufhin den Ball, trommelte einige seiner berüchtigten Freunde zusammen, unter anderem auch diesen Camillo Tresivan …«

»Ja, ja, Sagredo erwähnte ihn auch.«

»Kurz und gut, er sammelte seine Kumpane und kehrte mit ihnen auf den Ball zurück, wo das Fest im vollen Gange war. Er ging geradeswegs auf Paolo Lion zu und zog seinen Degen. Lucrezia trat vor Angst bebend zwischen die beiden. Pesaro schlug Lucrezia nieder, focht dann mit Lion und erstach ihn. Die Gäste schlugen Lärm und wollten fliehen, der Gastgeber rief nach einem Arzt, vielleicht wäre Lion noch zu retten gewesen. Niemand konnte aber den Palast verlassen, weil die Kumpane Pesaros die Ausgänge bewachten. Lion verblutete. Pesaro und seine Spießgesellen rannten mit blankem Degen in den Sälen auf und nieder. Es entstand eine gräßliche Schlägerei, die Gäste hatten natürlich keine Waffe bei sich und griffen zur Abwehr nach den Stühlen. Schließlich gelang es doch jemandem, sich aus dem Hause zu schleichen und Hilfe herbeizuholen. Sie schlugen Pesaro mit einem Stuhl nieder und fesselten ihn. Minotto di Barba suchte sofort ein Mitglied des Zehnerrates auf, weil man es nicht wagte, Pesaro, der einen sehr vornehmen Freundeskreis hatte, zu verhaften. Der Ratsherr befahl, ihn bis zum Morgen zu bewachen. Am nächsten Morgen erstattete man dem Dogen selbst Bericht, um ihm die Entschließung zu überlassen. Der Doge soll gesagt haben, bei Pesaro sei das Maß nun voll, man möge ihn in die Bleikammer schaffen. Dorthin ist er nun auch gebracht worden. Jetzt werden sie ihn hinrichten. Bist du ihm schon einmal begegnet?«

»Gott sei Dank noch nie.«

»Ich habe ihn ganz gut gekannt. Auf einem Ball hat er mir sogar einmal den Hof gemacht und ich dachte schon, ich wäre verloren, aber inzwischen betrank er sich derartig, daß er einschlief und man ihn fortschaffen mußte. Sitzt der Verband richtig? Hast du alles? Willst du, daß ich hierbleibe?«

»Nein, danke. Wenn du es mir nicht übelnimmst, möchte ich jetzt lieber allein sein.«

»Warum sollte ich dir das Übelnehmen. Ich komme später noch einmal vorbei, um dir einen neuen Verband anzulegen. Aber sei bloß vor diesen Capras auf der Hut!«

»Schon gut, schon gut«, sagte er gereizt, »ich werde schon auf sie aufpassen, geh nur.«

Marina küßte den Kranken flüchtig auf die Stirn, dann ging sie. Er griff unbeholfen, aber begierig nach seinem Buch. Er blätterte und vertiefte sich abermals darein. Mit halbem Bewußtsein ertrug er geduldig die gräßlichen Schmerzen und genoß dabei trotzdem noch die Poesie. »Sonett an den Bischof von Florenz.« Während er das Gedicht las, knirschte er vor Schmerz mit den Zähnen und lächelte gleichzeitig vor Entzücken. Er blätterte weiter und entdeckte ein kleines Prosastück: »Gespräch unter Dichtern.« Jetzt hatte er die Schmerzen ganz vergessen …

»Ach, Messer Marco«, sagte Giovanni, der witzige Hauptheld dieses Dialoges, »Ihr seid so nett; aber ich weiß, daß diese Poeten ein übles Volk sind!«

Er genoß diese Zeilen wie eine köstliche Speise. Und mit einem Male begriff er, was er an diesem Dichter so liebte: daß er so ganz Florentiner war. Die liebliche, würzige Mundart drang ihm tief ins Herz hinein und ließ die geheimsten Saiten seiner innigsten Kindheitserinnerungen erklingen, so wundersam, wie eine Glasscheibe unerwartet und überraschend erklingt, wenn ein bestimmter Ton angeschlagen wird. Er ließ das Buch auf die Decke gleiten und dachte an Florenz, an seine angebetete Stadt, und sein Herz weitete sich. Er sah die Ufer des Arno vor sich, die Reihe der Juwelierläden am Ponte Vecchio. Er stellte sich das friedliche, geruhsame Leben zu Hause vor.

»Nach Hause, nach Hause!« seufzte er, vom unbeschreiblich süßen Schmerz des Heimwehs überwältigt.


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