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Mitte November; Anfang des neuen Semesters. Der Hauptpedell fragt, was er in den neuen Stundenplan einschreiben solle, Euklid oder Almagest. Galilei erwiderte:
»Keines von beiden. Schreibt hinein, daß der Titel meiner Vorlesung ›Die Planeten‹ lautet.«
»Wie, bitte?«
»Ich habe es doch deutlich genug gesagt. ›Die Planeten‹ Das wird man doch den Studenten vortragen dürfen, und wenn ich in einer oder zwei Stunden den Anfängern die Grundbegriffe beigebracht habe, werde ich drei Vorlesungen über den neuen Stern halten.«
Der Hauptpedell schüttelt würdevoll sein greises Haupt.
»Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Die Aula der Juristischen Fakultät wird auch nicht mehr ausreichen. Schließlich werden wir so weit kommen, daß Euer Gnaden nur unter freiem Himmel Vorlesungen halten können. Tausende und aber Tausende werden hierherströmen, und die Türen werden sie mir bestimmt einbrechen.«
In der Tat, als die Kunde sich verbreitet hatte, daß Professor Galilei über den neuen Stern lesen wolle, bemächtigte sich aller eine wilde Aufregung. Von früh bis abends ließ man ihm keine Ruhe. Seine Kollegen klopften alle Augenblicke bei ihm an, teils aus Neugierde, teils weil sie ernsthaft seine grundsätzliche Meinung und seinen Standpunkt kennenlernen wollten. Es war ihnen natürlich schon bekannt, daß er dem kopernikanischen Wahn zugetan war; als sie sich aber überzeugt hatten, daß er seinen Studenten das Almagest im Geiste des Aristoteles und Ptolemäus vortrug, betrachteten sie sein Interesse für Kopernikus als unschuldige Torheit. Cremonini, der Hauptperipatetiker, mit dem ihn eine innige Freundschaft verband, der für ihn auch einmal eine Bürgschaft übernommen und ihn allem Anschein nach sehr gern hatte, machte ab und zu eine spitze Bemerkung über die verdrehten Ideen des Mathematikers, doch nicht um zu streiten, sondern nur, um den Freund zu necken. Das Auftauchen des neuen Sternes erschreckte aber die Kollegen: Galilei brachte es fertig, diese wundersame und unerklärliche Erscheinung irgendwie zugunsten des Kopernikus zu deuten, und daraus konnte ein fürchterlicher Skandal entstehen, dessen Mittelpunkt der Bo in Padua sein würde. Ebenso erregt war der junge Cornaro, der in seiner Ruhmsucht alles auf seine Gründung der Ricovrati-Akademie bezog. Er wollte die aufregende Frage im Palazzo Cornaro in abendlichen Sitzungen der Akademie erörtern lassen. Andere Professoren wiederum wollten nichts weiter als den Stern sehen. Da sie sich aber auf der Sternkarte nicht auskannten, wollten sie sich das Ereignis vom Fachgelehrten zeigen und erklären lassen. Aber nicht nur Professoren besuchten das Galilei-Haus, auch allerlei andere Herren aus Padua. Das war am Ende ganz natürlich; denn wenn schon am Himmel von Padua ein geheimnisvoller neuer Stern erscheint, so liegt nichts näher, als daß man sich um Auskunft an den amtlich angestellten Paduaner Astronomen wendet.
In den ersten Tagen nach dem Ereignis war die Aufregung besonders groß. Sogar das Stadtbild hatte sich verändert: die Menschen gingen nicht schlafen, sondern standen in Gruppen auf den Straßen herum und starrten gen Himmel. Es verbreitete sich die Mär, daß das Ende der Welt nahe sei; andere sahen es wiederum als sicher an, daß es Krieg geben würde. Der Fleischer, der nahe beim Hause Galileis wohnte und bislang nur durch seinen Geiz berühmt war, ging mit einem Male vollständig aus sich heraus, hielt jeden Abend in dem benachbarten Wirtshaus große Gelage ab, streute das Geld mit beiden Händen aus, um schnell noch das Leben zu genießen, ehe die Welt unterging. Vor den Beichtstühlen drängten sich in dichten Reihen die Erschrockenen, um sich noch in letzter Minute ihr Seelenheil zu sichern. Mehrere Geistliche priesen diesen Stern von der Kanzel herab mit feurigen Reden als himmlisches Zeichen, das Venedig mahnen sollte, mit der alleinseligmachenden Kirche Gottes keinen Streit vom Zaune zu brechen.
Die Welt ging nicht unter, das Volk gewöhnte sich an den neuen Stern, und das Leben kehrte in seine alten Bahnen zurück. Aber die Aufregung der Professoren ebbte nicht ab. Galilei war gezwungen, sich tagelang einzuschließen, um nicht fortwährend gestört zu werden. Der neue Stern machte ihm viel zu schaffen. Der Umfang seines Briefwechsels stieg auf das Dreifache, da er seine Erfahrungen und Beobachtungen mit den Astronomen anderer Universitäten, die er persönlich oder dem Ruf nach kannte, austauschen wollte. Es war ihm wichtig, zu wissen, ob sich in Städten anderer Breiten- oder Längengrade dieser Stern anders zeigte. Nebenher mußte er auch das Material für seine neue Vorlesung vorbereiten, insbesondere die drei Vorträge, die er über den neuen Stern zu halten gedachte. Und sobald am Abend die Gestirne aufleuchteten, mußte er sich mit diesem neuen Wunder befassen, sich vor den Quadranten stellen und beobachten oder den glänzenden Punkt mit bloßem Auge anschauen, bis seine Augen vor Anstrengung sich mit Tränen füllten.
Zu Hause wurde er dauernd gestört, so daß er gezwungen war, von dort zu flüchten. Den größten Teil des Tages und des Abends verbrachte er in dem an die Kirche Santa Giustina anstoßenden Benediktinerkloster. Hier hielt sich ein Benediktinermönch, Girolamo Spinelli, auf, kein gelehrter Astronom, aber ein nüchterner Mensch mit gesundem Verstand. Mit ihm und dem jungen Castelli verbrachte Galilei seine Stunden, lehrte sie die grundlegenden Regeln der Astronomie, und mit ihnen gemeinsam beobachtete er jeden Abend den geheimnisvollen Lichtpunkt. Sowohl seine eigenen Beobachtungen als auch die Briefe, die er aus anderen Städten erhielt, bestätigten, daß der neue Stern kaum merklich von seinem Glanz verlor und kleiner zu werden schien. Seinen Platz behauptete er aber.
Am Tage vor der ersten Vorlesung über den neuen Stern ließ ihm Cremonini mitteilen, daß er ein ernstes Wort mit ihm zu reden habe. Obwohl Galilei sehr viel Arbeit hatte und kaum noch wußte, wo ihm der Kopf stand, wollte er die Bitte des Freundes nicht abschlagen. Zur bestimmten Stunde erschien Cremonini mit ernstem und sorgenvollem Gesicht, legte ab und ging sogleich auf das Ziel los.
»Ich bin gekommen, Galilei, um deine Auffassung kennenzulernen. Ich bange um dich, um den Bo und auch um den mir heiligen Ruf der Wissenschaft. Du neigst zu Phantastereien und schießest leicht über das Ziel hinaus. Überdies weiß ich, daß du den altehrwürdigen Grundsätzen der Wissenschaft ein unerklärliches Mißtrauen entgegenbringst.«
»Keineswegs. Ich mißtraue nur dem Aristoteles, habe aber volles Vertrauen zu Plato und Pythagoras.«
»Das sind Zwerge neben dem Giganten. Aristoteles ist das A und O der Wissenschaft. Sage mir nur, was du als letzte Konsequenz von diesem angeblichen Stern ableiten willst.«
»Angeblich …?«
»Weil es meiner Meinung nach gar kein Stern ist. Es wird eine glänzende Gasmasse sein, die sich von der Erde losgelöst hat und die in die sogenannte elementare Sphäre geriet. Wie ein Irrlicht über dem Sumpf, das ein Kind für Feuer ansieht. Aristoteles waren derartige Naturerscheinungen bekannt, ich kann dir die Stelle angeben …«
»Nicht nötig, ich kenne sie auswendig. Das ist aber kein Irrlicht, Alter, sondern ein Stern.«
»Behaupte doch nicht, daß es ein Stern sei, wenn es gar kein Stern sein kann.«
»Natürlich kann es einer sein, warum sollte es keiner sein können?«
»Und das fragst du, der Professor? Weil der Sternenhimmel ursprungslos und unwandelbar ist.«
»Sagt dein Aristoteles. Aber er irrt sich. Ich habe ihn schon öfters bei Irrtümern erwischt. So auch diesmal. Der Sternenhimmel ist nicht unwandelbar. Und nichts anderes will ich auf der Universität erklären: die Mechanik des Aristoteles habe ich schon widerlegt, jetzt will ich mit Hilfe dieses neuen Sternes beweisen, daß sein Weltsystem falsch ist.«
»Du willst also ernstlich den Aristoteles verleugnen, du, der Gelehrte?«
»Ja, und zwar gründlich.«
»Fühlst du denn nicht, wie ungeheuerlich das ist? Wie wenn ein Geistlicher die Bibel verleugnen würde.«
Galilei unterbrach ihn heftig.
»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Die Bibel ist eine Sache des Glaubens, dies hier aber eine Sache des Wissens. Hast du selbst nicht dein ganzes Leben lang die Theologie von den exakten Wissenschaften zu trennen gesucht? Du sprichst ja jetzt gegen dich selbst, Cremonini! Der Glaube und das Wissen haben ihre strengen Grenzen, ich schlage dich mit deinen eigenen Worten! Solange ich weiß, daß dieses gewisse Etwas dort oben kein Irrlicht ist, sondern ein Stern, solange sprich mir nicht von der Bibel.«
»Gut, du verleugnest also Aristoteles, die ewige Quelle, das Größte. Du genießest ein ungeheueres Ansehen. Und nun zertrümmerst du die Grundlage des Wissens! Du sprengst ein wissenschaftliches System! Und was gibst du als Ersatz? Was gibst du den denkenden Menschen als Ersatz für das zerstörte? Kopernikus nicht; denn du hast selbst des öfteren behauptet, daß du mit ihm nicht vor die Öffentlichkeit treten kannst, ehe du nicht alles bewiesen hast. Mit Worten zerstörst du alles, aber den Aufbau bleibst du schuldig? Und steh doch: alle Gelehrten der Welt, wir alle lehren auf Grund der peripatetischen Wissenschaft. Hunderte und Tausende von uns verkünden diese Lehren Hunderttausenden, Millionen suchender Menschen. Was wir unseren Schülern sagen, nehmen sie folgsam und blind an, weil Aristoteles es gesagt hat. Unsere Gelehrsamkeit hat eine feste Grundlage, auf der allein Ordnung und Disziplin gedeihen können. Und das willst du in die Luft sprengen?«
»Ja, das will ich. Weil diese Grundlage der Fluch der Welt ist. Damit kommt man nicht vorwärts. Jeder denkt mit dem Kopf des Aristoteles, statt mit seinem eigenen. Die Welt selbst entwickelt sich immer weiter, aber das Wissen der Welt bleibt auf einem Fleck stehen. Du kannst an deinen Fingern abzählen, wer seit zweitausend Jahren wagte, sein eigenes Gehirn zum Nachdenken zu benutzen. Wenn es aber einmal einer wagte, dann wurde sofort Großes geschaffen! Kopernikus wagte es: er gebar das neue Weltsystem. Giordano Bruno wagte es: er gebar die neue Metaphysik. Ich wagte es, und die neuen Fallgesetze waren da! Und je heftiger ich den Aristoteles, euren falschen Götzen, von seinem Thron verdränge, um so mehr Menschen werden ermutigt, selbst zu denken.«
»Um so mehr, ja. Ein um so größeres Chaos tritt an die Stelle unserer schönen und weisen Ordnung. Soviel Menschen, soviel Meinungen, und keine Autorität, die in diesem fürchterlichen Chaos Ordnung schafft. Galilei, ich bitte dich flehentlich, gehe in dich. Jetzt ist es noch nicht zu spät, überlege es dir. Verkünde deinen Schülern was du willst, aber behaupte nicht, daß diese neue Erscheinung alles über den Haufen wirft, wovon wir bis jetzt überzeugt waren. Zähme dein rebellisches Blut, sei diszipliniert und treu. Denke doch an die menschliche Seele in der heutigen Welt, wie erleuchtend, wie seligmachend das Bewußtsein der Festigkeit und der Gesetzmäßigkeit in dieser einander ergänzenden Zweiheit ist: der Glaube ist der Glaube der Kirche, und ihr Haupt ist der Papst, das Wissen ist das Wissen der Peripatetiker, und ihr Haupt ist Aristoteles. Das ist ein ewiger und friedlicher Zustand. Warum arbeitest du dagegen?«
Galilei sah den Kollegen an und schüttelte den Kopf.
»Hast du bei der letzten Sitzung der Sachverständigen nicht mit Sarpi gestimmt? Also gegen den Papst? Ist das der ewige und friedliche Zustand? Siehst du denn nicht ein, daß meine Fallgesetze den Aristoteles gründlich widerlegen? Ist das der ewige und friedliche Zustand? Es ist wirklich erstaunlich, wie widerspruchsvoll ihr seid, ihr Peripatetiker! Ihr schließt eure Augen und haltet euch die Ohren zu! So wisse du denn, daß das menschliche Gehirn von der zweitausendjährigen Knechtschaft genug hat. Der menschliche Geist rebelliert. Diese Rebellion hatte ihre geheimen Schüler, aber auch ihre Märtyrer. Tartaglia, Leonardo, Moletti, Giordano Bruno! Jetzt bin ich da und Kepler. Wir ruhen nicht eher, als bis die Wissenschaft frei ist, um sich weiter entwickeln zu können. Ich weiß, daß es nicht leicht ist, gegen die ganze Welt zu kämpfen. Ich bilde mir auch gar nicht ein, das ganze peripatetische Gebäude jetzt schon umstürzen zu können. Nur eine ihrer Säulen reiße ich nieder. Der Sternenhimmel ist nicht unveränderlich. Das weiß ich jetzt und werde es verkünden. Wer kann mir das verbieten? Hast du vergessen, mit welchen Worten du mich bei Pinelli damals als Fremden begrüßt hast? Du hast damals die Gedankenfreiheit des Bo gepriesen. Warum willst du mir jetzt diese Gedankenfreiheit verbieten?«
»Ich bin nicht mit einem Verbot zu dir gekommen, Galilei, sondern mit einer Bitte. Ich will dich bitten, nichts gegen die wissenschaftlichen Ideale der Menschheit zu unternehmen. Spalte die Wissenschaftler des Bo nicht in zwei Lager. Was soll denn werden, wenn wir uns teilen?«
»Wir brauchen uns nicht zu teilen, lehre doch dasselbe wie ich.«
»Ich soll den Aristoteles verleugnen? Eher sterbe ich!«
»Und ich bleibe dabei, daß der Sternenhimmel nicht unveränderlich ist.«
Cremonini erhob sich. Erschüttert blickte er vor sich hin. Seine Hände zitterten. Dann zuckte er die Achseln.
»Dann trennen sich unsere Wege. Ich bedauere das aus ganzem Herzen.«
Er wandte sich ab und ging langsam hinaus. Galilei starrte noch lange die Türe an, nachdem sie sich hinter Cremonini geschlossen hatte. Auch ihn schmerzte es, daß er diesem guten und braven Manne so weh tun mußte. Aber dann fiel ihm ein, daß er keine Zeit habe, darüber zu grübeln, und er stürzte sich von neuem in seine Arbeit.
Am anderen Tage war das Gedränge im Hörsaal in der Tat lebensgefährlich. Auch die draußen bleiben mußten, bildeten eine stattliche Gruppe. Der Professor selbst konnte nur so in den Hörsaal gelangen, daß ihm die Universitätsdiener einen Weg bahnten. Mit Mühe und Not arbeitete er sich bis zum Katheder durch, das in der rechten Ecke des Saales stand und das man ihm vor nunmehr dreizehn Jahren in größter Eile aus ungehobelten Brettern zusammengezimmert und noch immer nicht durch ein neues ersetzt hatte. Im dichtgedrängten Auditorium erblickte er ganz vorne Capra, der einen selbstbewußten Stolz zur Schau trug. Seit jenem denkwürdigen Oktobertag wandelte der junge Mann in Padua wie ein Columbus einher; denn er hatte ja den neuen Stern entdeckt, betrachtete ihn sozusagen als sein Eigentum und erschien zu der Vorlesung wie ein stolzer Vater bei der Doktorpromotion seines Sohnes: der berühmte Galilei sollte über seinen Stern einen Vortrag halten von einem der berühmtesten Katheder der Welt. Auch ein oder zwei Professoren hatten sich in dem Gedränge Platz verschafft, aber die überzeugten Peripatetiker fehlten. Cremonini war an diesem Tag nach Venedig gefahren.
Galilei hatte auch schon über die Form seines Vortrags nachgedacht. Er wollte eine feierliche Ansprache halten, nicht in seinem gewohnten, unvermittelt scherzhaften Ton, sondern in gewähltem Latein, damit man die Vorlesung gleich drucken könne. » Testes vos estis, numerosa juventus, qui huc convolastis …«
»Ihr seid meine Zeugen, ihr zahlreich versammelten Jünglinge, die ihr hergekommen seid, um mich von dieser wundersamen Erscheinung reden zu hören. Einzelne erschüttert und von eitlem Aberglauben durchdrungen, um zu erfahren, was dieses Unglaubliche Schlimmes verheiße, andere neugierig, ob es wohl ein wirklicher Stern am Himmel sei und nicht nur eine flammende Ausdünstung der Erde, – aber allesamt eifrig und erregt debattierend über die Materie dieser Erscheinung, ihre Bewegung, ihren Standort und ihren Sinn. Bei Gott, eine großartige Anteilnahme und würdig eurer Begabung
In dieser Art wollte er weiter fortfahren, spürte jedoch bald mit dem sechsten Sinn des geborenen Redners, daß seine Worte allgemeine Enttäuschung hervorriefen. Es war sehr viel Bewegung, Hüsteln und Unruhe in der Menge. Sofort änderte er den Ton und sprach frisch von der Leber weg. Das Hüsteln hörte auf.
Auf alles unnatürliche Pathos verzichtend, erklärte er in seiner lebhaften, anschaulichen Art, daß dieses Wunder gar kein so großes Wunder sei. Eingehend berichtete er von Aufzeichnungen, nach denen vor zweiunddreißig Jahren, also im Jahre fünfzehnhundertzweiundsiebzig, ebenfalls ein neuer Stern am Himmel aufgetaucht, eine ganze Zeitlang sichtbar gewesen und dann wieder verschwunden sei. Die Astronomie spreche ungern darüber; denn dieses Thema sei unbequem. Aristoteles habe behauptet, daß die Sternkarte ein für alle Male gültig und unveränderlich sei. Was sollen also die Anhänger des Aristoteles mit einem solchen neuen Stern anfangen, der ihre Grundsätze über den Haufen wirft? Sie können nichts anderes tun, als ihn so schnell als möglich verleugnen, und wenn er verschwunden ist, bestrebt zu sein, die ganze Sache auf dem schnellsten Wege vergessen zu lasten. Denn es gibt Gelehrte, die die greifbare Wirklichkeit nicht gebrauchen können, weil sie ihren Lehrsätzen widerspricht. Sie passen ihr Wissen nicht der Wirklichkeit an, die ihnen fast die Augen aussticht, sondern bekritteln die Wirklichkeit nach ihren Lehrsätzen. Und wenn ihnen dann etwas nicht in den Kram paßt, verkünden sie ganz einfach, daß der Mond gar nicht am Himmel stehen könne. Umsonst fleht der Laie sie an, sie mögen doch hinauf zum Himmel blicken, da könnten sie den Mond ja deutlich sehen. Sie halten aber den Blick gesenkt und behaupten, daß der Mond nach ihren Lehrsätzen dort nicht stehen könne, folglich sei er auch nicht da. Und damit basta! Schluß!
Hier erdröhnte der erste Beifall. Galileis Mut wuchs. Er berichtete nun ausführlich von den Beobachtungen über das bisherige Verhalten des Sternes und las die Briefe vor, die er von den Astronomen fremder Städte erhalten hatte. Überall, auch in der Fremde, hatte man diesen Stern übereinstimmend festgestellt, genau an der gleichen Stelle des Himmelsgewölbes, und überall meldete man einstimmig, daß der Stern kaum merklich kleiner und blasser werde, seinen Standort aber nicht verändere. Mit einer Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse schloß er seinen ersten Vortrag und gab bekannt, daß er in der nächsten Stunde alle Erklärungen, die ihm zu Ohren gekommen seien, aufzählen und gleichzeitig beurteilen würde.
War schon beim ersten Vortrag der Saal überfüllt, so war beim zweiten das Gedränge noch viel größer. Galilei hatte einen Schüler bei sich wohnen, namens Colalto, den Sohn steinreicher Eltern aus Montepulciano, der um die Erlaubnis gebeten hatte, einen Landsmann, einen Privatgelehrten und Liebhaber-Astronomen, Lorenzini mit Namen zu dem Vortrag mitbringen zu dürfen. Capra und Simon Mayr, die beiden stolzen Entdecker, saßen auch wieder da.
Galilei stellte die Frage: ist der neue Stern wirklich ein Stern? Es gibt Leute, die ihn für brennenden Dunst der Erde halten! Lang und breit erklärte er, daß dies nicht der Fall sein könne. Er entwickelte die Geschichte der Hypothese von den brennenden Erddünsten vom Altertum bis heute und griff sie heftig an. Offenbar tauchte in jedem Jahrhundert ein neuer Stern auf, um dann wieder zu verschwinden. Es gebe keinen Grund zu denken, daß ein solches Ereignis innerhalb von zweitausend Jahren nur zweimal eingetreten wäre, und zwar nur innerhalb der letzten siebenunddreißig Jahre. Die verkalkte peripatetische Wissenschaft habe sich diese Theorie wohl ausgedacht, um das heilige Gesetz von der Unveränderlichkeit des Sternenhimmels nicht umstoßen zu müssen. Dann sprach er von der Hypothese, daß dieser Stern seit je auf seinem Platz gestanden haben könne, daß man ihn aber erst jetzt bemerkt habe, der ganze Sternenhimmel sich also nicht verändert habe, sondern nur die menschliche Beobachtung vollkommener geworden sei. Diese »Beobachtung« verspottete er. War es denkbar, daß seit zweitausend Jahren dieser böse Stern Millionen und aber Millionen wachsamer Augen beharrlich aus dem Wege gegangen wäre? Er zählte noch eine Menge ähnlicher Hypothesen auf, widerlegte sie allesamt und sprach zum Schluß noch von einer Deutung aus jesuitischer Quelle: der Herrgott habe an dieser Stelle eben erst einen neuen Stern geschaffen; denn nach den Lehrsätzen des Aristoteles könnten sich die astronomischen Gesetze des Sternenhimmels zwar nicht verändern, Gott aber sei allmächtig. Hier begann Galilei den weisen Standpunkt seines Kollegen Cremonini, des großen Peripatetikers, zu preisen, wonach man Gott ehren müsse und seine Offenbarungen nicht mit der Sprachlehre, Geometrie und Astronomie vermengen dürfe. Die Theologen sollten, wenn sie zum Himmel aufsehen, über den Sternen Gott suchen, die Sterne unterwegs jedoch in Ruhe lassen.
»In meinem dritten Vortrag lege ich dar, was ich selbst von diesem Stern halte und welche Folgerungen ich daraus ziehe.«
Ein Beifallssturm begleitete diese Ankündigung. Und zum dritten Vortrag erschien der Podesta selbst, mehrere hohe venezianische Herren und die beiden Rektoren. Eine gespannte Erregung hing in der Luft. Waren die ersten beiden Vorlesungen auch den weniger Eingeweihten leicht verständlich, so hatten sie am dritten nicht viel Freude. Galilei gab sich streng wissenschaftlich. Er füllte die Tafel mit konzentrischen Kreisen und zog allerlei unverständliche Querlinien dazwischen. Den Planeten gab er ihre astronomischen Zeichen, er schrieb also nicht das Wort Venus hin, sondern zeichnete einen kleinen Kreis und gleich anschließend darunter ein kleines Kreuz. Den Mars bezeichnete er ebenfalls durch einen kleinen Kreis, aus dem rechts oben ein kleiner Pfeil heraussteht. Der Jupiter sah aus wie eine arabische Vier, der Saturn wie der Buchstabe h, oben durchgestrichen. Technische Fachausdrücke schwirrten durch die Luft, Ellipsen, Parallaxen und Apogäen. Auch von den Studenten konnten nicht alle dem Vortrag folgen. Nur die Zusammenfassung verstanden sie: der neue Stern ist tatsächlich ein Stern, er glänzt dort oben am Himmel in einer für den menschlichen Verstand unvorstellbaren Entfernung. Denn es läßt sich wissenschaftlich beweisen, daß sich sein Standort in der äußersten Sphäre außerhalb des Reiches der Planeten befindet. Dieser Stern steht nur für das menschliche Auge still, in Wirklichkeit bewegt er sich, und zwar in einer uns entgegengesetzten Richtung. So geheimnisvoll, wie er gekommen, wird er auch wieder verschwinden. Die Richtung aber, in der er sich entfernt, liegt in der gleichen Richtung mit der Achse der Erde. Deshalb meinen wir, daß er an einem Punkt feststeht, deshalb scheint es uns aber auch, daß seine Größe und sein Licht immer kleiner und schwächer werden. Und plötzlich wird er ganz unsichtbar werden, aber die weltbewegende Lehre bleibt, die er der Menschheit hinterläßt.
»Hört jetzt gut zu, was ich mit lauter Stimme verkünde: ich leugne, was Aristoteles behauptet, nämlich daß der Sternenhimmel unveränderlich sei. Vieles am Sternenhimmel ist ständig und unwandelbar, vieles aber auch beweglich. Die Sonne wird offensichtlich niemals über uns verschwinden, aber Himmelswunder gleich dem jetzigen waren immer und werden immer sein. Aristoteles hat sein Weltsystem entworfen, und auch ich lehre euch dieses Weltsystem in der Darstellung des Ptolemäus. Aber es ist nicht sicher, hört mir gut zu, daß dieses Weltsystem absolut richtig ist. Vergeßt nie, wenn ich euch von jetzt an von Astronomie spreche, daß alles, was ich sage, nur bedingt richtig ist. Und einmal wird eine neue Vorstellung kommen, eine Vorstellung von diesem Weltsystem, die natürlicher, übersichtlicher und richtiger sein wird als die bisherige, die nicht mehr zu zittern braucht, daß ein einziger am Himmel auftauchender Lichtpunkt das ganze Gebäude umreißen könnte. Wenn ich euch Euklid vortrage, so überlegt nicht erst, sondern nehmt es als gewiß an: die Summe der Winkel eines Dreiecks ist gleich einhundertachtzig Grad. Das ist keine Hypothese, das kann sich jedes Kind aus Papierstückchen zusammenlegen. Aber wenn ich das Almagest vortrage, so setzt in Gedanken vor jeden meiner Sätze: ›Soweit und solange es kein besseres Weltsystem als das des Aristoteles gibt.‹ Gott geleite euch!«