Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das war zu erwarten.
Früh am nächsten Morgen verabschiedete sich Tom von Rose und machte sich auf den Weg nach dem Ariosto, um die Verladung seiner Möbel zu überwachen. Es traf sich so, daß gleichzeitig mit ihm auch Lina Grickel das Haus verließ, und er wagte die Frage: »Wohin gehen Sie?«
»Ich gehe nach der 39. Straße in der Nähe der 7. Avenue. Ich gebe um Neun dort Stunde.«
»Und ich gehe nach der 42. Straße nicht weit vom Broadway. Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, können wir zusammen gehen.«
»Das freut mich. Es ist immer sehr angenehm, Gesellschaft auf der Straße zu haben – finden Sie nicht?«
Tom versicherte, er teile ihre Ansicht. Bis sie die 5. Avenue erreicht hatten, gingen sie schweigend nebeneinander her.
»Sie nehmen es mir nicht übel, Miß Grickel,« begann Tom wieder, »wenn ich es sage – aber Ihr Herr Vater hat einen ganz merkwürdigen Eindruck auf mich gemacht. Sein Gesicht ist eines der bedeutendsten, der edelsten, die ich je gesehen habe.«
»O, im Gegenteil, es freut mich, das von Ihnen zu hören. Mein Vater ist ein merkwürdiger Mann und sein edles Antlitz ist wirklich der Spiegel seiner Seele. So weit ein menschliches Wesen dies hohe Ziel erreichen kann, ist er ein Heiliger. Er ist so gütig, daß viele Leute meinen, er gehe darin zu weit. Sie sind wohl der Ansicht, es entspreche nicht der menschlichen Natur, gleichzeitig sehr gut und weise zu sein?«
Tom lachte und stimmte zu. »Ja, ja, ich weiß, derartige skeptische Anschauungen sind jetzt sehr in der Mode.«
»Und doch nennen sich dieselben Leute, die meinen Vater auslachen und ihn ›Querkopf‹ schelten, Christen. Die christlichen Zeitungen – ich meine die religiösen Wochenblätter, wenigstens einige davon – schmähen ihn und machen ihn lächerlich – o, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie grausam. Auch einige der jüdischen Zeitschriften haben das gethan, aber das war am Ende nicht anders zu erwarten.«
»Aber weshalb, aus welchem Grunde?«
»Nun, wegen seiner religiösen Ansichten. Wie Sie wissen, ist er des Glaubens, wir sollten die Lehren Christi buchstäblich befolgen. Ja, buchstäblich. Wir sollen die linke Wange hinhalten, wenn wir einen Schlag auf die rechte empfangen haben, und wir sollen uns nicht gegen das Uebel wehren, und so weiter. Das mag Ihnen an einem Juden sonderbar vorkommen. Allein er ist kein orthodoxer Jude und betrachtet Christus als den größten der Propheten. Er behauptet, die einzig mögliche Errettung der Welt von der Sünde und dem Elend, die sie jetzt bedrücken, liege in der buchstäblichen Befolgung der sittlichen Lehren Christi. Wenn alle Menschen, Mann wie Weib, in ihrem Leben die Gebote Christi buchstäblich zur Wahrheit machten, so hätten die Sünde und alle Leiden, die ihre Folgen sind, ein Ende. Das ist sein Glaube, und weil er diesen Glauben hegt und predigt, wird er geschmäht und von allen Seiten gehöhnt. Haben Sie mal einen seiner Vorträge gehört?«
»Nein, nie, – ich – ich wußte nicht, daß er Vorträge hält; ich weiß überhaupt sehr wenig. Während der letzten zwei Jahre bin ich von New York abwesend gewesen und bin deshalb nicht so ganz auf dem Laufenden. Wo hält er seine Vorträge und wann?«
»Jeden Sonntag morgen in Stonering Hall. Er hat eine Art von Gemeinde oder Gesellschaft von freisinnigen Juden um sich versammelt, deren Führer er ist. Aber auch einige Christen gehören dazu, und bei den Vorträgen sind immer sehr viele Christen anwesend. Das veranlaßte mich dazu, Sie zu fragen, ob Sie ihn schon gehört hätten. Es wäre ja doch möglich gewesen. Die Gesellschaft nennt sich: ›Humanitätsgesellschaft‹. Außer den wöchentlichen Vorträgen unterhält sie eine Anstalt zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen, eine Schule, wo arme Kinder sich eine tüchtige englische Elementarbildung aneignen und ein Handwerk lernen können, und einen Kindergarten für kleine Kinder, und außerdem haben sie ihre ›Krankenpflege‹, wie sie's nennen, das heißt, ihre ausgebildeten Krankenwärterinnen besuchen und pflegen Arme, die krank sind, in ihren Wohnungen, – solche, die aus dem einen oder andern Grunde nicht ins Hospital gehen können. Herren und Damen, Mitglieder der Gesellschaft, begleiten die Pflegerinnen und sehen, ob es den Kranken nicht an Nahrungsmitteln, Feuerung oder Kleidung oder sonst was mangelt, und dann hilft die Gesellschaft. Die Gesellschaft hat nebenbei auch einen ›Geheimen Unterstützungsfonds‹, woraus solche Leute unterstützt werden, deren Selbstgefühl geschont werden muß und von denen es nicht bekannt werden darf, daß sie Unterstützung empfangen, zum Beispiel ein achtbarer Handwerker, der durch Krankheit oder aus einem andern Grunde ohne sein Verschulden brotlos wird. Wollte er sich an irgend eine öffentliche Wohlthätigkeitsanstalt wenden, so müßte er seinen Stolz in einem Grade überwinden, der vielleicht nachteilig auf seinen Charakter wirken würde. Da tritt nun die Gesellschaft ein und hilft ihm aus ihrem geheimen Fonds, und niemand außer dem Verwalter dieses Fonds erfährt etwas davon. Das Geld, das er erhält, wird als Darlehn betrachtet. Es wird weder Sicherheit verlangt, noch werden Zinsen berechnet; es wird aber von dem Schuldner erwartet, daß er das Darlehn nach und nach in kleinen Abzahlungen, je nachdem er dazu im stande ist, zurückzahlt. Unglücklicherweise geschieht das fast nie, aber dann und wann kommt es doch vor, und die Gesellschaft ist der Ansicht, daß diese ehrenhaften Ausnahmen genügen, das System zu rechtfertigen.«
»Jetzt fällt mir ein, daß ich doch schon von der Gesellschaft gehört habe, allein ich wußte nicht, daß Ihr Herr Vater an deren Spitze steht.«
»Ja, mein Vater ist ihr Begründer und widmet ihr sein Leben. Man hat ihm eine Entschädigung für seine Dienste angeboten, allein er meint, es wäre unrecht, etwas anzunehmen, und deshalb muß er noch andre Dinge treiben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er schreibt alle Besprechungen über Werke der auswärtigen Litteratur für Martingales Monatshefte; auch für verschiedene deutsche Zeitschriften liefert er Beiträge, ferner gibt er Privatstunden im Hebräischen, und endlich ist er der Verfasser einer deutschen Grammatik, die ihm alle Jahre noch etwas einbringt. Sie sehen, ich bin sehr stolz auf ihn, und es macht mir keine Bedenken, mit ihm zu prahlen.«
»Sie haben auch alle Veranlassung, stolz auf ihn zu sein. Was Sie mir eben erzählt haben, ist ganz außerordentlich interessant. Ich werde den nächsten Vortrag, den er hält, gewiß nicht versäumen.«
»Der ist übermorgen um Elf. Sie würden mir kaum glauben, wenn ich Ihnen alle die Schimpfnamen nennen wollte, womit man ihn überhäuft hat. Querkopf, Heuchler, Pharisäer, Ungläubiger – alles, was seine Feinde nur an Unwahrem und Beschimpfendem ersinnen konnten. Er steht eben zwischen zwei Feuern. Die Christen verachten ihn und sagen, er sei schlimmer als ein Jude, und die Juden erklären ihn für einen Abtrünnigen.« –
Toms unangenehmes Geschäft hielt ihn bis gegen zwölf Uhr im Ariosto fest. Als er durch das Comptoir ging, um das Haus zum letztenmal und endgültig zu verlassen, ereignete sich ein unbedeutender, aber lächerlicher Vorfall. Ein Junge kam von der Straße herein und schrie, ohne sich an eine bestimmte Persönlichkeit zu wenden, mit der vollen Kraft seiner Lungen: »Gardiner!«
Tom trat zu ihm. »Was soll's?«
»Gardiner?« wiederholte der Junge.
»Ja, ich heiße Gardiner, was willst du?«
Der Junge reichte ihm ein kleines, länglich viereckiges Päckchen mit einer offenen Rechnung: »Zwei Dollars zwanzig.«
Es stellte sich heraus, daß das Päckchen Visitenkarten enthielt, und Tom entsann sich jetzt, daß seine Frau an dem Tage, wo sie in den Ariosto eingezogen waren, ihm erzählt hatte, sie habe sich Karten bestellt. Die Probekarte, die er aus dem Päckchen zog, lautete:
Mrs. Thomas Gardiner.
Ariosto
|
Ariosto! West, 42. Straße! Wahrhaftig! Das Schicksal erlaubt sich manchmal wirklich seltsame Scherze! Es blieb natürlich weiter nichts übrig, als die Karten anzunehmen und die Rechnung zu bezahlen, was Tom auch that.
Als er nach Beekman Place zurückkam, fand er, daß Rose während seiner Abwesenheit nicht müßig gewesen war. Sie hatte von ihren Bildern so viele aufgehängt, als an den Wänden Platz fanden, und die paar Nippsachen, die sie von der Versteigerung ausgeschlossen hatten, hier und da im Zimmer verteilt.
»Wie schön und wohnlich hast du das Zimmer gemacht!« rief er vergnügt.
»O, ist das dein Ernst?« fragte sie mit dem befriedigten Ausdruck eines für seine ehrliche Mühe belohnten Arbeiters. »Das freut mich sehr!«
Du hast ein wahres Schmuckkästchen aus dem Zimmer gemacht. Wir werden uns hier so behaglich fühlen, wie Könige, du –«
* * *
Wollte ich immer ausführlich schildern, wie diese jungen Leute jede sich darbietende Gelegenheit benutzten, äußere Beweise ihrer Liebe auszutauschen, so würde meine Erzählung sehr eintönig werden. Ich werde mich deshalb für die Zukunft darauf beschränken, diese lästigen Unterbrechungen durch einen ausgiebigen Gebrauch von Sternchen anzudeuten. Also:
* * *
»Aber wo sind die Bücher?« fragte er nach einer Weile.
»O, dort sind sie – in den Kisten da drüben. Ich habe sie noch nicht ausgepackt, weil ich nicht wußte, wo ich damit hin sollte. Ich weiß wirklich nicht, was wir damit machen sollen; einerseits meine ich, es wäre doch schade, sie in den Kisten zu lassen, anderseits aber haben wir keinen Bücherschrank, und kaufen können wir keinen.«
»Auf keinen Fall wollen wir sie eingepackt lassen. Wir könnten ja eine Ecke des Fußbodens zur Bibliothek machen. Was meinst du dazu? Hübsch aussehen würde das freilich nicht, es wäre auch nicht gerade bequem, aber es ist das Beste, was mir einfallen will. Wir könnten sie alle in diesem Raum unterbringen.« – Dabei grenzte er einen Winkel in der Nordwestecke des Zimmers ab. – »Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht. Es wird ein bißchen unordentlich aussehen. Indessen – ja, ich glaube, es ist am Ende doch besser, als sie in den Kisten zu lassen.«
Er zog den Rock aus und machte sich an die Bücher.
»Du bist sehr fleißig gewesen, kleines Frauchen, daß du alle die Bilder in der kurzen Zeit aufgehängt hast. Du mußt ja gearbeitet haben, wie ein Pferd. Hoffentlich hast du dir nicht zuviel zugemutet.«
»O nein, ich habe es nicht allein gethan. Allein hätte ich's nicht fertig gebracht. Miß Lina hat mir geholfen. Sie hat ebensoviel gethan als ich.«
»Miß Lina? Wie ist denn das möglich? Sie hat ja mit mir zugleich das Haus verlassen.«
»Ja, das hat sie mir erzählt; sie ist aber bald nach Zehn wieder nach Hause gekommen, und dann ist sie hier gewesen und hat mir geholfen, bis alles fertig war. Natürlich wollte ich's nicht annehmen, sie bestand aber darauf. War das nicht freundlich?«
»Sehr.«
»Sie ist ein furchtbar nettes Mädchen, Tom – gescheit und liebenswürdig und so hübsch. Findest du nicht auch, daß sie hübsch ist?«
»Ganz entschieden. Ihr schwarzes Haar und die Art, wie sie errötet, gefallen mir sehr gut, auch hat sie prachtvolle Augen. Die Augen hat sie von ihrem Vater.«
»Und sie ist musikalisch bis in die Fingerspitzen. Wir haben sehr viel über Musik gesprochen. Sie arbeitet sehr angestrengt – jeden Tag gibt sie Stunden und zwar manchmal von morgens bis abends – und dann muß sie natürlich auch noch üben. – Horch! – Jetzt übt sie. Sie hat einen sehr modernen Geschmack zum großen Leidwesen des Professor Zacchanelli, der, wie sie sagt, sehr altmodisch ist. Wagner ist ihre große Schwärmerei. Darin stimmt sie mit Mr. Pearse überein – Kommt Mr. Pearse heute abend nicht hierher?«
»Ich weiß nicht. Ich habe ihm ein paar Worte geschrieben, ihm mitgeteilt, wo wir unsre Federn hingeblasen haben, und ihn gebeten, recht bald mal zu kommen. Aber ich habe den heutigen Abend nicht besonders genannt, und er kann ganz wohl was andres vorhaben.«
»Hoffentlich nicht; ich möchte ihn gern mit Lina bekannt machen, wenn er kommt. Wir wollen sie bitten, den Abend bei uns hier im Zimmer zuzubringen. Du, Tom, weißt du, was ich denke?«
»Nein, was denn?«
»Nun – ich meine – sie und Mr. Pearse würden sehr gut zusammen passen. Was meinst du? Es wäre doch zu hübsch – du weißt ja, Tom.«
»Aha! Ehestifterin, was?« Tom, der mit dem Ordnen der Bücher beschäftigt, am Boden kniete, blickte empor und lachte. »Das Geschlecht verleugnet sich nicht! Du bist also auch nur ein Weib!«
»Du hast mich doch hoffentlich nicht für etwas andres gehalten?«
»Nein, aber ich habe immer gehört, daß Frauen – ganz besonders jung verheiratete – unverbesserliche Ehestifterinnen seien, und es ist immer interessant, wenn man eine allgemein verbreitete Ansicht auf Grund eigner Beobachtungen bestätigen kann.«
»Ich kümmre mich nicht um allgemein verbreitete Ansichten, und ich sehe gar nicht ein, warum Frauen keine Ehestifterinnen sein sollen, wenn sie Lust dazu haben. Wenn man zwei junge Leute kennt, die man für zu einander passend hält, scheint es mir einfach Pflicht zu sein, sie zusammenzubringen.«
»Ja, und sie in das bewegte Meer einer Liebesgeschichte zu stürzen – mit allen ihren Aufregungen, Beklemmungen und Unruhen.«
»Nach deiner sehr deutlichen Sprechweise sollte man annehmen, daß du aus Erfahrung redest. Hast du viel Aufregungen, Beklemmungen und Unruhe durchzumachen gehabt?«
»Nun, vielleicht weniger als die meisten andern, aber ich habe dennoch genug gelitten – bis du der Sache ein Ende machtest und Ja sagtest. Allein unsrer treuen Liebe Pfad war ganz unzweifelhaft glatt. Wir waren Ausnahmen von der Regel. Dafür haben wir jetzt nach dem Gesetz der ausgleichenden Gerechtigkeit unsre Sorgen. Der arme Pearse! Er ist so glücklich, hat so gar keine Ahnung von dem Geschick, das du ihm bereiten willst. Unser Schicksal arbeitet, während wir schlafen, sagt man. Weißt du denn, ob er in der Lage ist, heiraten zu können? Du möchtest doch nicht, daß er sich in Miß Grickel oder sonst jemand verliebt, wenn er sie nicht heiraten kann – vorausgesetzt, daß sie ihn liebte, wie?«
»Das weiß ich doch nicht. Es ist für einen jungen Mann sehr gut, wenn er ein nettes Mädchen liebt; das ist vom besten Einfluß auf ihn. Es gibt ihm einen Lebenszweck, etwas, wofür er arbeiten kann. Ich wollte, jeder Mensch auf der Welt könnte jemand lieben, der es verdient.«
»Welch ein Wunsch! – Aber was Pearse und Lina anlangt – sie ist Jüdin, und er Christ.«
»Das hat gar nichts zu bedeuten. Miß Lina hat mir diesen Morgen gesagt, eine große Menge Juden sei entschieden gegen eine Verbindung der beiden Rassen, aber sie und ihre Angehörigen seien ganz andrer Ansicht und dafür. Und wenn Mr. Pearse ein Mädchen liebt, wird er gewiß nicht danach fragen, darüber ist er erhaben.«
»Zugegeben. Aber meinst du, Mrs. Grickel würde ihm als Schwiegermutter gefallen? Sie ist ja eine sehr brave Frau und so weiter, aber weißt du, nach Pearses Geschmack ist sie ganz gewiß nicht.«
»Sie ist eine liebe, gute Dame, trotz ihrer komischen Sprache. Und dann – man heiratet doch seine Schwiegermutter nicht.«
»Das ist ja richtig, aber ich möchte doch wissen, was diese beiden arglosen jungen Leute sagen würden, und wie ihnen zu Mute wäre, wenn sie wüßten, in welcher Weise du über ihre Herzen verfügst. Ob sie wohl deine wohlmeinende Absicht zu würdigen verständen?«
»Aber ich will doch weiter nichts, als sie miteinander bekannt machen. Das ist doch gewiß nichts Schlimmes. Dann wird die Sache ihren eignen Gang allein weiter gehen.«
»O, ihr Arglosen! Ihr armen Opfer!« murmelte Tom. »Es war einmal ein Fuchs, Mrs. Gardiner, und der Fuchs verlor durch einen Unfall seinen Schwanz, und von da an zog er in der Welt umher und versuchte die andern Füchse zu überreden, ihre Schwänze ebenfalls abzulegen, und versicherte, kein Fuchs könne im Leben glücklich sein, der noch seinen Schwanz habe. Kennst du die Geschichte?«
»Die Pointe dieser geistreichen Fabel ist mir noch nicht klar geworden.«
»Ihre Bedeutung liegt in ihrer Nutzanwendung.«
»O, du meinst wohl, ich wäre der Fuchs, und ich wünsche jedermann verheiratet zu sehen, weil ich es selbst bin. Meinst du das?«
»Ich bewundre deinen Scharfsinn, du kommst der Sache jetzt schon näher.«
»Nun, ich gebe es zu: ich fühle mich so glücklich im Ehestande, daß ich alle Welt gern ebenso glücklich sehen möchte. Mr. Pearse und Miß Lina sind wie füreinander geschaffen, und ich kann es gar nicht mehr begreifen, wie jemand glücklich sein kann, wenn er nicht verheiratet ist. Ich habe gar nicht gewußt, was es eigentlich heißt, glücklich zu sein, bis –«
* * *
»Lina hat uns schon erzählt,« sagte Mrs. Grickel am Abend desselben Tages nach der Mahlzeit zu Rose, »wie schen Se haben zerecht gemacht Ihre Stube, Mrs. Gartiner, un vielleicht werden Se uns erlauben, mitzegeh'n un se mal anzeseh'n – ja?«
Rose beantwortete diese Frage dadurch, daß sie die Anwesenden einlud. Alle folgten, und als sie das Zimmer erreicht hatten, gaben sie ihrer Bewunderung den lebhaftesten Ausdruck.
»S' is einfach ellegant,« meinte Mrs. Grickel. »Da sieht mer, was mer kann erreichen, wenn mer's nur versteht anzefangen. Wenn mein Sohn Adolf un seine Frau, wenn die's seh'n, se werden's nit erkennen wieder, ich wette, was Se wollen – 's is zu fein. Nit wahr, Vadder? Schen, Herr Perfessor, was? Ach Gott, Mrs. Gartiner, was Se haben vor'n Geschmack!« Sie faltete ihre dicken Hände über dem Kissen, das die Natur unmittelbar unter ihrer Brust für sie bereitet hatte, und wiegte ihren Kopf hin und her, um zu zeigen, wie tief bewegt sie war.
Professor Zacchinelli klopfte Tom leise auf die Schulter: »O, Sie sein eine glücklick Mann – zu 'abe solch ein Frau. Es mir macken Lust, selbst noch ßu 'eirat,« murmelte er.
»Aber Sie müssen etwas haben, um die Bücher aufzustellen,« meinte Mr. Grickel. »Mama, haben wir nicht noch einen leeren Bücherschrank oben?«
»O ja. Da is der alte Schrank, wo frieher stand unten im Eßzimmer, wo du hattest deine spanischen un italienischen Biecher, eh de se hast verkauft. Der steht oben auf'm Boden un is leer. Meinst de, daß das ging. Schen is er nit.«
»Wir wollen jedenfalls mal hinaufgehen und ihn ansehen,« entgegnete Mr. Grickel.
Er führte Tom nach dem Boden, und zeigte ihm den in Rede stehenden Schrank, ein ziemlich großes Möbel von dunklem Nußholz und, wie Mrs. Grickel sehr richtig bemerkt hatte, nicht sehr schön, ja, wie er so dastand, leer und mit Staub bedeckt, sah er geradezu häßlich aus. Allein Toms Einbildungskraft füllte ihn sogleich mit seinen Büchern, und er sah mit seinem inneren Auge, daß er dann nicht mehr abstoßend häßlich sein werde. Einem geschenkten Gaul sieht man ohnehin nicht ins Maul, und ein unschöner Bücherschrank ist immer noch besser als gar keiner. Nachdem Mrs. Grickel ihn innen und außen gründlich abgestäubt hatte, wodurch er schon erheblich gewann, trugen die beiden Herren ihn zusammen hinab und stellten ihn in Toms Zimmer auf. Hierauf empfahlen sich die Besucher alle, mit Ausnahme Linas, die von Rose zum Bleiben genötigt wurde.
»Bleiben Sie, bitte, und leisten Sie uns etwas Gesellschaft. Ich möchte Ihnen meine Noten zeigen, die jetzt ausgepackt sind.«
Lina blieb, und die beiden Damen beschäftigten sich mit Roses Musikalien, während Tom sich sofort daran machte, seine Bücher vom Fußboden zu nehmen und in den Bücherschrank zu räumen.
Nach einiger Zeit hörten sie, wie die Klingel der Hausthür ertönte und Rose warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihren Gatten. Dann traten einige Minuten gespannter Stille ein, die durch ein Klopfen an der Stubenthür unterbrochen wurde.
»Herein!« rief Rose.
Das Dienstmädchen trat ein und überreichte Rose eine Karte.
»Mr. Pearse ist da, Tom,« sagte die junge Dame, »willst du nicht hinuntergehen und ihn heraufführen?«
Tom ging, und auch Lina Grickel erhob sich. »Gute Nacht,« sagte sie dabei.
»O nein, Sie dürfen nicht gehen,« widersprach Rose. »Es ist ja nur einer von Mr. Gardiners Freunden. Bleiben Sie nur. Es würde mir leid thun, wenn Sie mich schon verlassen wollten. Bitte – behalten Sie doch Platz.«
Lina setzte sich wieder.
Von Tom geleitet, trat gleich darauf Pearse ins Zimmer, freundlich lächelnd und, wie dies seine Gewohnheit war, errötend. Im Augenblick jedoch, wo er sich der Anwesenheit einer ihm fremden jungen Dame bewußt ward, verlor er seine Unbefangenheit, und seine Haltung nahm etwas Gezwungenes und Verlegenes an. Rose stellte ihn sofort der fremden jungen Dame vor.
»Mr. Pearse ist ein ebenso begeisterter Wagnerschwärmer wie Sie, Miß Lina,« fügte sie hinzu.
»Wirklich?« fragte Miß Lina freundlich.
»Ah!« erwiderte Pearse bis unter die Wurzeln seiner Haare errötend. »Sie sind also eine von den Erleuchteten!« Die Worte waren ja ganz hübsch, aber Ton und Wesen waren die eines blöden Menschen, der nur schwer seinen Mund zu öffnen vermag.
Ein Schweigen trat ein und alle blieben stehen.
»Wir wollen uns setzen,« sagte Rose endlich und gab das Beispiel, dem die übrigen folgten.
»Es freut mich sehr, daß Sie den Weg hierher gefunden haben, Mr. Pearse,« begann Rose nach einiger Zeit. »Wir hofften halb und halb, Sie würden heute abend kommen.«
»Natürlich war das meine Absicht. Ihr habt wirklich einen schönen Stadtteil gefunden und habt euch, glaube ich, durch den Tausch wesentlich verbessert.«
»Ja, es gefällt uns ausgezeichnet, und es ist mir eine solche Erleichterung, daß wir der Herrschaft Watsons entronnen sind. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie verhaßt mir alles geworden war, was mit dem alten Ariosto zusammenhing. – Miß Grickel und ich haben eben meine Noten durchgesehen. Ich wollte, Sie hätten Ihr Cello mitgebracht. Mr. Pearse spielt nämlich Cello, Miß Lina.«
»Ah, Cello?« erwiderte Miß Lina.
»Ich spiele ein bißchen mit dem Cello,« verbesserte Pearse.
Und darauf trat abermals Schweigen ein.
»Nun, Pearse,« hob Tom an, der die Verpflichtung fühlte, das Eis zu brechen, »wie ist's dir ergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben? Es scheint mir ein Jahrhundert her zu sein.«
»Es ist auch ziemlich lange her, wenigstens achtundvierzig Stunden. O, es ist mir soweit ganz gut gegangen, danke der Nachfrage – ich habe ein bedeutendes Buch gelesen.«
»So, was für eins denn?«
»›Ein ähnlicher Fall‹.«
»›Ein ähnlicher Fall‹? – Das ist Northrups neuestes Werk, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hat's dir gefallen?«
»Gefallen? Nein. Ein derartiges Buch gefällt einem nicht, dazu ist's zu furchtbar wahr, als daß es einem Menschen gefallen könnte. Es ist einer der besten Romane, die ich je gelesen habe – sicher der bedeutendste, der je in Amerika geschrieben worden ist.«
»Was?«
Es darf nicht vergessen werden, daß Pearse diese Meinung zu einer Zeit aussprach, wo »die Familie Pork« und die späteren Werke Northrups noch nicht erschienen waren.
»Ja,« fuhr er fort. »Es ist mein voller Ernst. Wenn du es liesest, wirst du mir zustimmen. ›Ein ähnlicher Fall‹ ist der große amerikanische Roman, worauf die Welt gewartet hat, ein furchtbares Trauerspiel. Ich bin niemals einer lebenswahreren Charakterzeichnung begegnet, als der des Charakters Morton Tuckers, noch einer, die von tieferer und zeitgemäßerer sittlicher Bedeutsamkeit wäre. Er ist die Verkörperung einiger der schlimmsten Züge unsrer amerikanischen Zivilisation, der schlimmsten und am häufigsten zu Tage tretenden. Es gibt Hunderte von Menschen, die genau so sind, wie er, und denen man jeden Tag begegnet. Diese Geriebenheit, diese gemeine, gewissenlose Bereitwilligkeit zu allem, und dieser niederträchtige, schamlose Materialismus der Denk- und Handlungsweise – es ist wirklich wunderbar, wie Northrup es verstanden hat, sie dem Leser vor Augen zu stellen und abscheulich erscheinen zu lassen.«
»Ich habe das Buch noch nicht gelesen,« erwiderte Tom, allein ich verstehe doch nicht ganz –«
»So geht die Geschichte nicht,« dachte Rose. »Diese Idee von Tom, ihn in ein Gespräch über Northrup zu verwickeln, während ich wünsche, daß er sich mit Lina unterhalten soll!« Aber solange Pearse sprach, konnte sie natürlich ihr Ruder nicht einlegen. Ihrem Mann gegenüber brauchte sie diese Rücksicht aber nicht zu nehmen, und als Tom bis zu den Worten »nicht ganz« gelangt war, unterbrach sie ihn: »O, Mr. Pearse,« sagte sie, »Miß Grickel und ich haben eben über Grieg gesprochen. Kennen Sie etwas von ihm? Miß Grickel spielt seinen ›Hochzeitszug‹.«
»Ich habe mehrere seiner Kompositionen gehört,« antwortete Pearse, »aber der ›Hochzeitszug‹ ist die einzige, womit ich wirklich vertraut bin. Soviel ich weiß, ist er der beste von den skandinavischen Tondichtern. Er ist namentlich groß in der Tonmalerei.«
»Wie sonderbar von ihm, daß er mich anstatt ihrer anredet,« dachte Rose, »und wie ungefällig von ihr, daß sie mich allein reden läßt. – O ja, ausgezeichnet,« sagte sie laut, »›Tonmalerei‹, das ist sehr bezeichnend; aber der aufgehende Stern unsrer Zeit ist doch Raff – meinen Sie nicht, Miß Lina?«
»Ich – ich weiß – nicht,« erwiderte Lina mit der Betonung und Bedachtsamkeit eines Menschen, der sich seine Worte vorher genau überlegt hat.
»Was meinen Sie, Mr. Pearse?«
»Raffs Musik gefällt mir sehr gut, aber wer der aufgehende Stern unsrer Zeit ist, das ist doch schwer zu sagen.«
Und wiederum fiel der Ball des Gesprächs matt zu Boden.
»Die zwei sind aber auch wirklich greulich,« dachte Rose. Weshalb wollen sie denn nicht miteinander sprechen? Jeder Versuch, den ich mache, sie in Gang zu bringen, mißlingt. Ich muß die Sache wohl falsch angefaßt haben. Worüber soll ich nur sprechen? – Warte mal, jetzt hab' ich's. Ich will Mr. Pearse über seinen alten Northrup reden lassen, soviel er will, aber er soll mit Miß Lina über ihn sprechen. – Miß Lina, lesen Sie Northrups Romane gern? Mr. Pearse ist ja ganz begeistert davon.«
»Ich muß leider gestehen,« bekannte Lina, »daß ich noch keinen einzigen gelesen habe.«
Das Interesse, das sich in Pearses Zügen gemalt hatte, erstarb wie ein ausgelöschtes Licht, und Rose fühlte, wie kalte Verzweiflung ihre Seele erfaßte.
Dann trat wieder eine verlegene Pause ein.
Endlich fing Pearse an, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rücken. »Die Aussicht ist hier gewiß sehr schön,« wagte er zu bemerken.
In der Hoffnung, Lina werde antworten, zögerte Rose einen Augenblick. Allein Lina machte keine Anstalten dazu, und so erwiderte denn unsre arme Freundin: »Ja, in der That. Morgens, mittags und abends, immer ist sie reizend, und am schönsten soll sie bei Mondschein sein. Sie sind an diese Aussicht von Kindheit an gewöhnt, Miß Lina, nicht wahr? Sie wohnen schon sehr lange hier?«
»Ich bin hier geboren,« stimmte Lina zu.
»Es ist die netteste Ecke von New York, die ich kenne,« fiel Tom ein, »eine Art von rus in urbe. Sie bietet die Ruhe des Landes, und doch ist man nicht mehr als eine halbe Stunde Wegs von den wichtigsten Punkten der Stadt entfernt.«
»Den Vorzug hat auch Harlem,« bemerkte Pearse, der dort wohnte.
»Wie lange brauchst du, um von deiner Wohnung nach deinem Geschäftszimmer zu gehen?« fragte Tom.
»Wie kann man nur so dummes Zeug fragen!« stöhnte Rose innerlich.
»Ungefähr fünfunddreißig Minuten von Hausthür zu Hausthür,« entgegnete Pearse. »In frühern Zeiten, ehe die Straßenhochbahn gebaut war, kostete es beinahe einen Tag.«
Nach dieser ungeheuerlichen Uebertreibung erfüllte Schweigen, das bekanntlich Gold ist, das Zimmer.
Jetzt endlich lieferte Miß Lina den ersten freiwilligen Beitrag zu den Reden der Sitzung. »Ich glaube, ich muß jetzt gehen, Mrs. Gardiner,« sagte sie, sich erhebend. »Gute Nacht.«
»O, bleiben Sie doch noch ein wenig,« bat Rose schwach.
»Es thut mir sehr leid, aber ich muß wirklich gehen, meine Mutter erwartet mich. Also gute Nacht.«
Und sie ging.
Die Thür hatte sich kaum hinter ihr geschlossen, als Tom – der Elende! – eine theatralische Haltung annahm, einen tiefen Seufzer ausstieß und in hochtragischem Tone ausrief: »O, über die Eitelkeit menschlicher Pläne!«
Rose war entsetzt. War es wirklich möglich, daß ihr Gatte ihren geheimsten Plan jetzt in Gegenwart eines der ausersehenen Opfer enthüllen werde? Konnte er so herzlos, so unzart, so taktlos sein? Sie schoß einen Blick auf ihn, der ihn mit Unaussprechlichem bedrohen sollte, allein er, nicht im geringsten gerührt, ging aus dem tragischen in den gewöhnlichen Gesprächston über: »Die Geschichte wollte nicht klappen, wie, Schatz?«
»Was meinst du?« fragte Rose mit leiser, aber von zurückgedrängtem Zorn bebender Stimme und mit einem abermaligen vernichtenden Blick.
»Na, dein hübscher kleiner Plan, du weißt ja, die kleine Intrigue, die du dir ausgesonnen hattest, um das Walten des Geschicks etwas zu lenken und zu unterstützen. Kein besonders glänzender Erfolg, wie?«
Pearse sah verständnislos von einem zur andern.
»Ich habe keine Ahnung, was du eigentlich willst,« entgegnete Rose hochmütig.
»O, mein lieber Schatz, sei nur nicht niedergeschlagen. Eine kleine Schlappe am Anfang darf dich nicht entmutigen. Man muß die Flinte nicht gleich ins Korn werfen; kein Baum fällt auf den ersten Hieb. Nur immer wieder versuchen. Geduld überwindet Hutzelbrüh. Labor vincit omnia.«
»Du scheinst mir wirklich ein bißchen blödsinnig zu werden. Was soll ich mit ihm anfangen, Mr. Pearse?«
»Ich – ich weiß nicht –« begann Pearse.
»Einen Augenblick,« fiel Tom ein. »Pearse kann dir keinen zweckentsprechenden Rat geben, solange er nicht alle Umstände des Falles kennt. Warte, bis ich ihm das Nötige beigebracht habe. Also, Pearse, die Sache ist –«
» Tom!« rief seine Frau.
»Nun, mein Schatz?« rief Tom mit empörender Ruhe.
Rose hörte nicht auf ihn. »Ist das Wetter nicht ganz wundervoll für diese Jahreszeit, Mr. Pearse? Es ist wirklich Sommerwetter, und für den Altweibersommer ist's doch eigentlich noch zu früh. Der kommt doch erst im November, nicht wahr? Ich bin so lange von Amerika fort gewesen, daß ich ganz vergessen habe, wie der Winter hier ist. Hoffentlich wird es nicht so früh kalt. Kaltes Wetter haben Sie gewiß auch nicht gern. Der Winter soll in Amerika recht unangenehm sein.«
»Bis Mitte Dezember werden wir voraussichtlich ziemlich mildes Wetter haben,« entgegnete Pearse beruhigend. »Dann und wann natürlich einen kalten Tag, aber keine anhaltende Kälte. Ich kenne einen alten Farmer in Massachusetts, der zu sagen pflegte: ›Unse Winter fängt nit extry bald an, awer wenn hä anfangt, dann fängt hä bö-a-bö uf einmal an.‹«
»Da wir gerade von den Jahreszeiten sprechen, mein Schatz, so ist diese vielleicht deinen Plänen nicht günstig,« fing Tom wieder an. »Was meinst du, wenn du die kleine Angelegenheit bis zum Frühjahr verschöbest? Im Frühling, weißt du, ist ein junger – Was? Ich soll stille sein? Gut, dann werde ich schweigen. Ich wollte eben nur sagen, daß der Herbst keine günstige Jahreszeit ist; aber wahrscheinlich –«
»Mr. Pearse, ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, daß der Mann unsrer Hauswirtin eine Art von Gemeinde hat, der er jeden Sonntagmorgen Vorträge hält, und –«
»Was! Sie wollen doch nicht sagen, daß Ihrer Hauswirtin Gatte Raphael Grickel ist?«
»Ja, das ist sein Name!«
»Und die junge Dame war seine Tochter?«
»Freilich.«
»Wie? Raphael Grickel – ich bin ja einer seiner begeistertsten Anhänger und besuche seine Vorträge ganz regelmäßig. Seine Wirksamkeit hier in New York ist höchst segensreich. Er ist der glänzendste Kanzelredner, den ich je gehört habe. – Und die junge Dame war seine Tochter, eine Tochter Raphael Grickels? Was Sie sagen! Und sie hatte noch nichts von Northrup gelesen!«
»Nein, – sie hat so viel mit ihren Klavierstunden zu thun, aber jetzt wird sie wohl etwas von ihm lesen, ganz gewiß. Ich werde ihr morgen ›Bertha Mills‹ leihen und sie bitten, es zu lesen. Aber was ich sagen wollte, Tom und ich haben die Absicht, nächsten Sonntag Mr. Grickel zu hören. Wollen Sie sich uns nicht anschließen? Es ist so angenehm, wenn man mit Bekannten geht.«
»Sie werden mich um dreiviertel Elf an der Eingangsthür des Saales finden, dort will ich Sie erwarten.«
»O, besten Dank, das ist sehr schön.«
Nachdem Rose auf diese Weise das Gespräch in andre Bahnen gelenkt hatte, machte Tom keinen weiteren Versuch, auf das gefährliche Thema zurückzukommen. Aber als Pearse gegangen und das junge Ehepaar allein war – – – –! Nun, wer absichtlich Wind säet, dem sagt ja die Heilige Schrift, was er zu erwarten hat.
»Trotz alledem,« sagte er, als es ihm endlich gelang, zu seiner Verteidigung zu Worte zu kommen, »Ehen werden im Himmel geschlossen, und es wäre viel besser, wenn du es dabei ließest. Mit der echten, im Himmel gefertigten Ware kannst du doch nicht konkurrieren, ganz besonders, da es keinen Schutzzoll gibt, der sie aus dem Lande hält und diesen besonderen Zweig des heimischen Gewerbfleißes unterstützt. Ich bin der Ansicht, daß ein Ehestifter nur eine besondre Abart der Unheilstifter ist. Du wirst dir die Finger verbrennen und alle andern in die Patsche bringen.«
»Ach, Tom, stelle dich doch nicht so gräßlich weise an.«
»Und dann muß ich noch sagen, daß Pearse und Lina für Leute, die angeblich füreinander geschaffen sein sollen, nicht besonders zusammenstimmen. Hast du das nicht auch gefunden?«
»Das war nur, weil du die ganze Zeit geschwätzt hast und niemand anders zu Worte kommen ließest. Aber warte nur, du wirst schon sehen, es ist noch nicht aller Tage Abend.«
»O, ohne Zweifel werd' ich noch viel zu sehen kriegen, wenn ich nur warte.«
»Wenn du nicht,« fuhr sie, ohne auf seine Zwischenrede zu achten, »wenn du nicht alles verdorben hast, und das scheint mir beinahe so. Pearse hat doch natürlich deine dummen Winke und Andeutungen verstanden, und damit wird die Geschichte wohl zu Ende sein.«
Aber die Zeit hatte einen süßen Trost für unsern kleinen Ränkeschmied in Bereitschaft. Am nächsten Sonntag machte der ganze Haushalt die Reise nach Stonering Hall in Gemeinschaft, wo Pearse sie, seinem Versprechen gemäß, am Eingange erwartete. Rose verstand geschickt zu manövrieren und brachte es zuwege, daß er und Lina während des Vortrags nebeneinander saßen, und nach dessen Beendigung wußte sie es so einzurichten, daß, als die Gesellschaft den Rückweg die 5. Avenue hinauf antrat, Lina und Pearse zusammen voraus und von den Uebrigen etwas getrennt gingen. Wie man sich denken kann, war es ihr keine geringe Genugthuung, als sie beobachtete, daß die beiden jungen Leute sehr vertraulich und lebhaft miteinander plauderten.
Der Gegenstand, den Mr. Grickel in seinem Vortrag behandelt hatte, war die Kreuzigung gewesen, und Tom war ganz voll davon.
»Welche Ueberzeugung, welcher Ernst, welche Beredsamkeit!« rief er. »Wer konnte. merken, daß er ein Fremder ist! Nach den ersten paar Sätzen verschwand sein Accent vollständig, oder man wurde von dem, was er sagte, so gefesselt, daß man ihn überhörte. Und seine Sprache! Kein rhetorischer Unsinn, keine Floskeln! Nichts als einfaches, ehrliches, natürliches, alltägliches Sprechen! Vieles von dem, was er sagte, war allerdings so fein, so scharfsinnig, daß es für einen großen Teil seiner Zuhörer zu hoch war. Wieviel davon mag wohl seine Frau verstanden haben, was meinst du? Wie zart und doch wie eindrucksvoll erzählte er die Geschichte der Kreuzigung und legte dar, wie das Werkzeug, womit Christus getötet worden ist, zum Sinnbild des neuen Glaubens, zum Zeichen, in dem er gesiegt hat, geworden ist. Mit dem, was für ihn die Hauptsache war, mit seiner Schlußfolgerung und Nutzanwendung kann man allerdings nicht einverstanden sein. Dem Christen predigt das Kreuz doch noch etwas andres, als nur die Lehre, daß in diesem Leben nur das zu thun der Mühe wert ist, wofür es sich lohnt zu sterben, wenn es nötig ist. ›Wählet,‹ sagte er, ›zum Lebenszweck etwas, von dem ihr vollkommen überzeugt seid, daß es der Mühe wert ist, dafür zu leben, und dann bleibt ihm treu, haltet fest daran, unerschütterlich fest, und wenn es euch das Leben kostet. Darin erkennt die Bedeutung der Kreuzigung.‹ Wie gesagt, man kann darin nicht mit ihm übereinstimmen, aber die Art, wie er seiner Ueberzeugung Ausdruck gab, war wirklich wunderbar. Mir traten wahrhaftig die Thränen in die Augen.«
Rose schenkte, wie ich fürchte, dieser Rede ihres Herrn und Gebieters nur geringe Aufmerksamkeit. Es machte ihr mehr Vergnügen, Pearse und Lina, die augenscheinlich großes Interesse aneinander fanden, siegesgewiß zu beobachten. Als das genannte Paar die Ecke der 51. Straße erreicht hatte, blieb es stehen und wartete auf Mr. und Mrs. Gardiner.
»Es ist ein so prachtvoller Tag,« begann Pearse, »und ich möchte gern, daß ihr und Miß Grickel mit mir speistet. In der Nähe von High Bridge ist ein sehr gutes Restaurant, und es ist heute warm genug, daß wir unser Mittagsmahl al fresco, auf der Veranda einnehmen können.«
Das junge Ehepaar nahm Pearses Einladung ohne Umstände an, aber Lina zögerte.
»Seien Sie meine Fürsprecherin,« bat der Gastgeber Rose, »überreden Sie sie.«
Das that Rose mit gutem Erfolg. »Ich muß meine Mutter fragen,« sagte Lina. »Wenn sie es gestattet, wird es mir viel Vergnügen machen.«
Mrs. Grickel, die inzwischen herangekommen war, gab ihre Einwilligung, und unser Quartett wurde von der Straßenhochbahn rasch nach High Bridge befördert.
Sie waren sehr vergnügt während ihres Mahles im Freien, und als es beendet war, machten sie einen Spaziergang am Fluß. Pearse und Lina gingen wieder zusammen, und als Mrs. Gardiner spät am Nachmittag nach Hause kam, konnte sie sich sagen, sie habe ein gutes Tagewerk vollbracht.
Am folgenden Tage fand die Versteigerung statt. Tom hatte anfänglich die Absicht gehabt, ihr beizuwohnen; allein er meinte schließlich, es sei besser, wenn er es unterlasse. Seine Anwesenheit konnte nichts nützen; er vermochte weder den Versteigerer beredter, noch die Bietenden kauflustiger zu machen. Warum sollte er also Zeuge eines für ihn immerhin peinlichen Vorgangs sein? So blieb er denn zu Hause.
Am Dienstag brachte ihm die Post den Bericht des Versteigerers. Nach Abzug der diesem zustehenden Gebühren stellte sich der Reinertrag des Verkaufs auf – zweihundertneunundsechzig Dollars siebenunddreißig Cents.