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Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.
Als Thomas Gardiner ein siebzehnjähriger Fuchs im Columbia College war, starb sein Vater, Rufus Gardiner, – ein Schlaganfall hatte in wenigen Tagen seinen Tod herbeigeführt. Seine Mutter war schon ein Jahr früher gestorben. Infolge dieser beiden Todesfälle hatte der junge Mann niemand mehr in der Welt, der ihm nahe stand, als einige Vettern und Cousinen zweiten oder dritten Verwandtschaftsgrades, die in Boston lebten, und gegen diese war er von einer herzlichen Abneigung beseelt.
Rufus Gardiner war der älteste Teilhaber der Firma Gardiner, Soule und Pinner, Advokaten und Rechtsanwälte, gewesen. Sein letzter Wille, der mit der üblichen Eingangsformel, daß der »Testator vollkommen gesund sei«, begann, war vom 10. November 1877 datiert. Genau vierzehn Tage später, am 24. November, wurde er dem Vormundschaftsgericht zur Prüfung und Gültigkeitserklärung unterbreitet.
Wenn man den Kern aus der Schale der juristischen Redensarten herausschälte, ergab sich, daß Rufus Gardiner durch diese Urkunde sein ganzes Vermögen seinem Testamentsvollstrecker, Marcus Cicero Pinner, mit der Bestimmung anvertraut hatte, die Zinsen oder »soviel als davon erforderlich sei« während der Minderjährigkeit seines Sohnes Thomas auf dessen Unterhalt, Erziehung und Ausbildung zu verwenden. Sobald Thomas mündig wurde, war Pinner verpflichtet, ihm die gesamten Zinsen in Vierteljahrsraten auszuzahlen, und Thomas erhielt das Recht der freien Verfügung darüber. So sollte es vier Jahre gehalten werden, bis Thomas das reife Alter von vierundzwanzig Jahren erreicht hatte, zu welcher Zeit Pinner das Kapital selbst dem Erben aushändigen mußte, dessen freies Eigentum »für immer« es dadurch wurde, während die durch das Testament eingesetzte Vermögensverwaltung damit aufhörte.
Ein Laie in juristischen Dingen mag dies für eine ganz einfache Testamentsabfassung halten, aber es hatte nicht weniger als drei eng beschriebene Seiten in Großfolio bedurft, um sie in juristischem Kanzleistil und rechtsverbindlicher Form »aufzustellen, zu verkünden und zu erklären«.
Nach dem Tode des alten Gardiner stellte es sich heraus, daß, mit Ausnahme der Bücher, Gemälde, Kleidungsstücke und andrer rein persönlicher Gegenstände, das Vermögen ausschließlich aus Schuldverschreibungen der Vereinigten Staaten im Nennwert von etwas über hunderttausend Dollars bestand. Nach Abzug der Pinner für seine Mühewaltung ausgesetzten Vergütung verblieb Thomas der hübsche Betrag von viertausend Dollars Jahreseinkommen. Da dieser »ein Kind von mehr als vierzehn Jahren« war, stand ihm nach amerikanischem Recht die Befugnis zu, sich seinen Vormund selbst zu wählen, und vielleicht eingedenk des Sprichworts: »Viele Köche verderben den Brei,« bestimmte er Pinner, auch dieses Amt zu übernehmen. Seine Abgangsprüfung vom Columbia College bestand er im Jahre 1881 mit Ehren, und am 30. Juni desselben Jahres feierte er den einundzwanzigsten Jahrestag seines Eintritts in die Welt. Es war eine sehr bescheidene Feier, die nur darin bestand, daß er seinen Freund und Klassengefährten Pearse einlud, mit ihm bei Moretti zu speisen. Nach dem Essen gingen sie zusammen ins Theater. Am nächsten Morgen machte er, erhaltener Aufforderung folgend, einen Besuch bei Pinner in dessen Geschäftszimmer.
»Na, Tom, jetzt bist du dein eigener Herr,« begann Pinner. »Deine Ausbildung ist nun vollendet; was wirst du jetzt anfangen?«
Marcus Cicero Pinner war ein kleiner Mann von etwa fünfzig Jahren. Er hatte einen dicken Hals, ein umfangreiches Doppelkinn, eine massige Kinnlade und einen kleinen, kugelrunden Kopf, dessen kahler, glänzender Scheitel von einem Kranz dünner rötlicher Haare umgeben war. Der mangelhafte Haarwuchs seines Hauptes wurde übrigens durch ein dichtes, schwarzes und borstenartiges Wachstum auf dem Rücken seiner Hände einigermaßen ausgeglichen. Sein Gesicht war schlaff, farblos und glatt rasiert, seine blauen Augen etwas trübe. Unmittelbar unter diesen Augen beutelte sich die Haut und hatte eine ungesunde rotblaue Färbung. Er sprach mit matter, klangloser Stimme und mit entschieden gewöhnlicher New Yorker Betonung, und diese Stimme kam aus einem großen, unschön geschnittenen Munde. Und doch hatte er ein lebhaftes, aufmerksames und gleichzeitig freundliches Wesen und galt allgemein für einen Mann, der, wenn auch nicht gerade ein großes Licht der Wissenschaft, so doch ein gewandter und tüchtiger Sachwalter war, und unter seinen Berufsgenossen erfreute es sich des Rufes eines »guten Kerls«. Um auch seine Stellung zur herrschenden Mode des Tages zu kennzeichnen, können wir noch erwähnen, daß er eine weiße Halsbinde trug.
»Also, Tom, was willst du nun anfangen?« hatte er gefragt. »Hals über Kopf in irgend ein Berufsstudium stürzen, oder das Leben eine Zeitlang auf die leichte Achsel nehmen?«
»Ich werde wohl zunächst eine Reise nach Europa machen,« antwortete Tom.
»Aha, nach Europa, hm! Schön! Guter Gedanke! Dich erst etwas in der Welt umsehen, dir die Hörner ablaufen, ehe du solid wirst, das ist ganz verständig. Reisen ist jedenfalls sehr gut für einen jungen Kerl wie du. Erweitert den Gesichtskreis. Habe da oben in Rochester einen Vetter, John Davis, Lebensversicherungsmensch, – der war im vorigen Sommer auch in Europa. Hat ihm höllisch gefallen. Schön! Und wenn du zurückkommst – Juristerei?«
»Nein, ich glaube nicht, daß ich mich dem Rechtsstudium widmen werde. Als Rechtsanwalt würde ich schwerlich viel leisten.«
»Na, das weiß ich denn doch nicht. Du bist deines Vaters Sohn, und Rufus Gardiner war einer der besten Advokaten in der Stadt New York. Als Verteidiger vor einer Geschworenenbank machte er freilich nicht viel, – war nicht gerade sein Forte. Aber in Beziehung auf Gründlichkeit und scharfe Auffassung kam ihm so leicht keiner gleich, und er schrieb vorzügliche Rechtsgutachten. Aber man kann ja nicht wissen. Viele gescheite Leute haben beschränkte Kinder – jedenfalls soll man einem jungen Menschen keinen Beruf aufdrängen; er mag seiner eigenen Neigung folgen, wenn er eine hat. Meinst du, daß dir Medizin besser zusagen würde?«
»O nein, die am allerwenigsten. Zu einem Doktor fehlt es mir an den nötigen Nerven.«
»Na, was willst du denn anfangen? Wirst doch hoffentlich kein Pfaffe werden wollen? Ha, ha, ha! Wie wär's mit der Technik? Heutigestags gehen viele jungen Leute zur Technik. Da ist Jim Horton – von Horton und Winslow – hat voriges Jahr sein Examen auf der Bergakademie gemacht und sofort eine Stelle gefunden, – da draußen in Mon-tanna.«
»Ich werde es einmal mit der Schriftstellerei versuchen,« entgegnete Tom, nicht ohne ein gewisses inneres Unbehagen, denn er hatte das Gefühl, als ob diese Antwort etwas einfältig wäre, und zweifelte, ob Pinner vollständig verstehen würde, was er meinte.
»Schriftstellerei? He? Was du sagst? Na, das ist gelungen! Es ist nur gut, daß du genug zum Leben hast, denn nach allem, was ich höre, soll dabei verflucht wenig herausspringen.« Dabei machte er die Bewegung des Geldzählens. »Wenigstens so lange nicht, als man nicht zu den Besten gehört. Der Chefredakteur einer großen Zeitung, wie der ›Tribüne‹ oder des ›Herald‹, wird freilich anständig bezahlt, aber ein gewöhnlicher Berichterstatter soll, wie man mir gesagt hat, kaum sein täglich Brot verdienen. Auf alle Fälle, Tom, ist diese Berichterstatterei ein höllisch schmutziges Stück Arbeit, und was ich von den Berichterstattern zu sehen bekommen habe, hat mir den Eindruck gemacht, als ob sie eine ziemlich schmierige Gesellschaft wären. Noch vor ein paar Tagen waren zwei oder drei von der Sorte hier in meinem Arbeitszimmer, um mich über den Prozeß Duggald auszufragen, wo wir die Verteidiger waren. Na, ich habe sie schön abfallen lassen, darauf kannst du Gift nehmen.«
»Von der Berichterstatterei weiß ich nicht viel,« erklärte Tom. »Ich wollte sagen, daß ich die Neigung habe, Geschichten, Romane zu schreiben. Natürlich erwarte ich nicht, daß ich dabei viel verdienen werde, – wenigstens zunächst nicht, aber Sie sagen ja selbst, daß ich genug zum Leben habe, – und – und ich möchte lieber ein armer Schriftsteller als ein reicher Sonstwas sein.«
»Ja, du hast genug, um leben zu können, und zwar ganz behaglich. Aber ich sollte denken, du müßtest doch den Wunsch haben, den Geldhaufen etwas zu vergrößern. Heutzutage wollen hunderttausend Dollars nicht viel sagen. Indessen wenn das deinen Neigungen entspricht, wird es wohl am besten sein, wenn du einmal den Versuch machst. Ich kümmere mich nicht viel um Romane und dergleichen Zeug, und weiß nicht, ob sich diese Arbeit bezahlt macht. Jedenfalls bist du dein eigener Herr und deines Schicksals Schmied, wie wir alle. Ich kann mir wohl denken, daß manche Romanschriftsteller ganz hübsch verdienen, – vielleicht wirst du einer von denen. Wie lange gedenkst du denn, da drüben auf der andern Seite zu bleiben?«
»O, das weiß ich noch nicht, das kommt darauf an. Ein oder zwei Jahre, vielleicht weniger, vielleicht mehr. Schriftstellern kann ich dort ebensogut wie hier, und wenn ich einmal dort bin, will ich mir zu allem die Zeit nehmen. Man sagt ja allgemein, daß ein junger Amerikaner nicht eher glücklich sei, als bis er seinen Europadurst ganz gestillt habe. Ich möchte mich am liebsten auf längere Zeit in Paris niederlassen, lange genug, um mich in der Sprache gründlich zu vervollkommnen und das Leben dort kennen zu lernen. Dann möchte ich natürlich auch noch London, Rom, Wien und Berlin sehen, und Bekannte von mir, die dort waren, haben mir gesagt, daß Budapest und Prag und andre mehr abseits gelegene Orte interessanter seien, als die großen Städte, die jedermann besucht.«
»Hm – ja – ganz richtig,« knurrte Pinner. »Höchst wahrscheinlich ist das so. – Na, dann komm einmal her, Tom.«
Während der nächsten Stunde beschäftigten sie sich mit allerhand Papieren und Rechnungsbüchern. »Du findest ja wohl alles in Ordnung,« meinte Pinner schließlich. »Hier hast du eine Anweisung auf neunhundertundfünfzig Dollars, dein Vierteljahrseinkommen; die nächste wird am 1. Oktober fällig. Nun laß uns gehen und irgend was genießen.«
Er führte sein ehemaliges Mündel nach einer nahe gelegenen Trinkstube. »Was soll's sein?« fragte er. Tom wählte Bier, indes Pinner, der einer derberen Generation von Amerikanern angehörte, Whisky trank.
»Na, Tom, prosit,« sagte er, »auf eine glückliche Reise, und wenn du in Paris bist, Tom, dann nimm dich hübsch in acht. Sei tugendhaft, und du wirst glücklich sein.« Diese Ermahnung war von einem verständnisinnigen Blinzeln begleitet, und ihr folgte ein Ausbruch lauten Lachens. »Ja, ja, junge Männer sind und bleiben Schwerenöter,« fügte er hinzu und leerte sein Glas. Und doch hatte Tom noch in keiner Weise seine Absicht zu erkennen gegeben, ein Schwerenöter werden zu wollen.
Einige Wochen später segelte unser junger Freund mit dem schriftstellerischen Streben an Bord des Dampfers »La Touraine« nach Havre. Von dort reiste er unverzüglich nach Paris, wo er gegen Ende August anlangte. Er mietete sich ein Zimmer in einem hauptsächlich von Studenten bewohnten Logierhaus, dem Hotel des Grands Miracles am Boulevard St. Michel, in geringer Entfernung vom Palais Luxembourg, denn er hatte » La Vie de Bohême« und Alfred Mussets » Contes« gelesen und hatte deshalb in seiner Wahl zwischen den beiden Ufern der Seine nicht lange geschwankt. Wir haben gehört, daß er gesagt hatte, er wolle seinen Aufenthalt in Paris zur Vervollkommnung seiner Kenntnisse im Französischen verwenden und um einen Blick in das Leben zu thun. Und diesen beiden lobenswerten Beschäftigungen wandte er sich nun sofort mit allem Eifer zu. In der ersten von beiden hatte er einen höchst merkwürdigen Erfolg. Er hatte schon eine gute Grundlage im Französischen mitgebracht; er las es ohne Schwierigkeit und sprach es fließend, wenn auch mit einem etwas schwerfälligen amerikanischen Accent. Diesen wurde er im Quartier latin sehr bald los, denn da er ein gutes Gehör hatte und sich Mühe gab, nicht nur die Aussprache, sondern auch den Tonfall der Franzosen, unter denen er lebte, nachzuahmen, brachte er es dahin, daß man ihn schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit für nichts anders als einen Gallier gehalten haben würde, wenn er nicht dann und wann einen kleinen Verstoß gegen die Feinheiten der Syntax begangen hätte. Er war ganz stolz auf diesen Erfolg und liebte es, seine Sprachgewandtheit zu zeigen, wenn immer sich ihm Gelegenheit dazu bot. Aber Hochmut kommt vor dem Fall. Bei einer vertraulichen Plauderei mit Madame la Comtesse de Mirepeaux, deren Bekanntschaft er inzwischen gemacht hatte, sagte ihm diese nämlich lachend, sein Accent, auf den er so stolz war, sei das Drolligste, was sie je gehört habe. Als er sich von dem Verdruß und Erstaunen, die diese Mitteilung ihm verursachte, einigermaßen erholt hatte, bat er um eine Erklärung: »Wieso? – Warum? – Was wollen Sie damit sagen?« – »Es ist die komischste Mischung des Accents eines garçon de café mit dem eines Bauern aus Südfrankreich – d'un campagnard du midi,« entgegnete sie. »Es ist gerade so, als ob ich eine Mischung von Londoner und irländischem Englisch sprechen wollte.«
Diese Bemerkung der Madame de Mirepeaux wirft auch auf die Fortschritte, die er in der andern Richtung – seinem Bestreben, etwas vom Leben der Franzosen kennen zu lernen – ein neues Licht. Die Franzosen, mit denen er am häufigsten verkehrte, waren einige Studenten der Medizin aus der Gegend von Marseille, die mit ihm unter demselben Dache wohnten, und ferner jene Herren in langen weißen Schürzen, welche in den Wirtschaften, die er besuchte, seine Befehle in Beziehung auf seines Leibes Notdurft ausführten. Die Studenten der Medizin und Tom waren die besten Freunde geworden. Sie gewährten ihm Zutritt zu ihrem cénacle, stellten ihm ihre stark geschminkten Mimis und Musettes vor, machten sein Zimmer zu ihrem Hauptquartier und behandelten ihn im allgemeinen in der großthuerischen Weise französischer camaraderie, gestatteten ihm gütigst, sie, so oft er Lust hatte, zum Essen oder zum Wein einzuladen, borgten sein Geld (ganz zu schweigen von seinen Röcken, Halsbinden, Briefmarken und Regenschirmen) in der brüderlichsten Weise, ohne jemals daran zu denken, ihn durch Zurückgabe des Entliehenen zu kränken. Auch mit einem Dutzend junger Kunstbeflissener, die in nächster Nähe wohnten – gutmütige, schäbige, leichtlebige Gesellen, mit denen er manchen famosen Jux ausführte, wobei sie ihm freundlichst überließen, die Kosten zu bestreiten, – war er näher bekannt geworden. Sie zeigten ebenfalls eine liebenswürdige Bereitwilligkeit, ihn als »Tante« zu adoptieren. Das Ausgabebuch, das er während seines Pariser Aufenthalts führte, ist in der That eine wunderbare Urkunde. Danach scheint es, daß er etwa zehn Franken täglich für seine eigenen Lebensbedürfnisse verbrauchte, während der Rest seiner Einnahmen durch das Freihalten seiner Freunde und deren Anleihen daraufging. Von Natur weichherzig und freigebig, liebte er die Geselligkeit, und er hatte es noch nicht gelernt, sich ein harmloses Vergnügen zu versagen oder sich eine Unbequemlichkeit aufzuerlegen, die er vermeiden konnte, wie zum Beispiel, auf eine flehentliche Bitte mit Nein zu antworten. Ueberdies war er der Ansicht, die Erfahrungen, die er machte, seien das ausgegebene Geld wert. Er las in dem Buche des Lebens, er ergründete die Welt, und dafür erschien ihm kein Preis zu hoch, besonders da er sich darauf vorbereitete, ein Schriftsteller zu werden, der in seinen Romanen das Leben schildern wollte. Eins ist gewiß, ob es ihm selbst klar ward oder nicht: es war eine schöne Zeit für ihn, eine Zeit, wie sie ihm so schön, so leicht nicht wieder zuteil werden, eine Zeit, an die er sich in spätern Jahren mit Sehnsucht erinnern würde. Jung, kerngesund, sein eigener Herr, weder von Sorgen, noch von Verantwortlichkeit bedrückt, im Besitz einer wohlgefüllten Börse, umgeben von fröhlichen Genossen, im angenehmsten Teil der vergnügungssüchtigsten Stadt Europas lebend – unter solchen Verhältnissen wäre es in der That wunderbar gewesen, wenn er sich seines Daseins nicht gefreut hätte.
Da wir aber einmal von Ausgaben sprechen, so muß erwähnt werden, daß bei weitem die teuerste, wenn auch nicht die wertvollste der Pariser Erfahrungen unsers Helden, aus dem vertrauten Verkehr hervorging, der sich bald zwischen ihm und jener schon genannten edlen Dame, Madame la Comtesse de Mirepeaux, entwickelte. Es war das eine ebenso bittersüße, als kostspielige Erfahrung, und sie ist bis auf den heutigen Tag ein wunder Punkt in den Erinnerungen Thomas Gardiners. Hast du, gütiger Leser, den Wunsch, ihn dahin zu bringen, ein sehr dummes Gesicht zu machen und ihn in Verlegenheit zu setzen, dann brauchst du ihn nur zu fragen, ob er lange keine Nachricht von seiner vornehmen Freundin, der Gräfin Mirepeaux, gehabt habe. Ich würde die ganze Geschichte mit Stillschweigen übergehen, wäre ich nicht der Ansicht, daß eine kurze Mitteilung viel zur Erkenntnis des Charakters des jungen Mannes beitragen wird.
Er traf sie in einer Gesellschaft bei einer zu den ständigen Mitgliedern der amerikanischen Kolonie in Paris gehörigen, in der Nähe des Parks Monceaux wohnenden Familie aus Chicago, mit der er zufällig bekannt geworden war. Diese Leute erzählten beständig von der Comtesse de Mirepeaux, deren Namen in allen ihren Unterhaltungen wiederkehrte. Bei jedem Gegenstand, der in ihrer Gegenwart besprochen wurde, von der Kochkunst Foyots bis zu den Lehren Flammarions, beriefen sie sich auf die Ansicht der Gräfin Mirepeaux. Mit einer Hartnäckigkeit, die einer bessern Sache würdig gewesen wäre, predigten sie es seinen Ohren und suchten seinem Hirn die Thatsache einzuprägen, daß Madame la Comtesse de Mirepeaux sie der Ehre ihrer Freundschaft würdige. Tom war zu unerfahren und zu wenig mißtrauisch, um den letzten Zweck dieser beständigen Wiederholungen zu ahnen. Andernfalls würde er wohl dahin gekommen sein, seine westlichen Landsleute als gemeines Pack anzusehen und seine Besuche in der Nähe des Parks Monceaux einzustellen.
Allein er setzte seine Besuche in jener Gegend fort, und eines Tages traf er die Comtesse de Mirepeaux in Person und hatte die Ehre, ihr vorgestellt zu werden. Sie war außerordentlich liebenswürdig, unterhielt sich sehr lebhaft und freundlich mit ihm, ermutigte ihn, auch seine Ansichten auszusprechen, hörte ihm dann mit der Miene gespanntester Aufmerksamkeit zu und setzte ihrer Liebenswürdigkeit dadurch die Krone auf, daß sie ihn, kurz ehe sie sich trennten, bat, ihr seinen Besuch zu machen. Daß er keine Zeit verlor, sich den Vorzug dieser Einladung zu nutze zu machen, bedarf kaum der Erwähnung. War ihm dadurch doch der Eingang in den Kreis der einheimischen Aristokratie eröffnet, jenen Zauberkreis, der sonst neunundneunzig unter hundert Ausländern erbarmungslos verschlossen bleibt. Damit will ich keineswegs andeuten, daß auch Tom zu den Leuten gehörte, die Vornehmen gegenüber kriechen, aber er war Amerikaner, und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Glanz, der Madames Rang und Titel umgab, nicht ohne Wirkung auf seine demokratischen Anschauungen blieb. Außerdem war sie eine schöne Frau mit einem gewissen tragischen Ausdruck, groß, mit geheimnisvollen Augen und blaß, und sie hatte in dem Gespräch mit Thomas diesen unterhalten und gefesselt und ihm zu schmeicheln verstanden.
Er machte also seinen Besuch.
Das Aeußere des Hauses, worin sie wohnte – ein gewöhnliches, nicht sehr sauberes Haus in der Nähe des Invalidenhotels, mit einer Kohlenhandlung im Kellergeschoß – bereitete ihm allerdings eine Enttäuschung. Fünf schmutzige Treppen, wo ein übler Geruch herrschte, mußte er emporsteigen, um zu ihrer Wohnung zu gelangen. Das Zimmer, worin sie ihn empfing, hätte sauberer und besser gelüftet sein können, und der weite rosa Morgenrock – schweigen wir darüber, es wäre kleinlich, wenn wir den Anzug einer Dame kritisieren wollten. Toms Stimmung wurde durch diese Wahrnehmungen etwas herabgedrückt, denn er hatte Eleganz und Luxus erwartet und sich die Umgebung einer Dame, die das Recht hatte, eine neunzinkige Krone über ihrem Wappen zu führen, anders vorgestellt.
Madame hieß ihn jedoch mit einer Liebenswürdigkeit willkommen, die ihm sofort zu Herzen ging und ihn ihre Umgebung übersehen ließ. » Ah, vous voici enfin!« rief sie, als ob sie seinen Besuch mit großer Ungeduld erwartet hätte, und dabei drückte sie seine Hand fest und lange. Sie hatte eine warme, kleine und wohlgeformte Hand, eine Hand, wie man sie gern festhält, und der weite rosa Morgenrock war jedenfalls kleidsam, was man auch sonst darüber sagen konnte. Auch das etwas wirre Haar trug zur Erhöhung des Reizes ihrer Erscheinung bei, und in ihren großen dunklen Augen brannte ein geheimnisvolles, lockendes Feuer.
Sie bot dem jungen Mann einen Sitz an ihrer Seite auf dem Sofa an, und dann ergoß sich eine Flut von Fragen, seine persönlichen Angelegenheiten betreffend, über ihn, die nicht nur eine sehr schmeichelhafte Teilnahme an seinem Wohlergehen verrieten, sondern auch ihr selbst – durch Toms Antworten – einen ziemlich richtigen Begriff von seiner Stellung in der Welt und seinen Verhältnissen verschafften, und dann wurde sie, auch ohne daß er das ihm gezollte Kompliment durch Stellung ähnlicher Fragen erwidert hätte, mitteilsam, und ehe sie sich trennten – hatte sie ihm wirklich ihre ganze traurige Geschichte erzählt: wie sie, figurez vous, als Kind von siebzehn Jahren der weihevollen Abgeschiedenheit des Klosters entrissen, vor den Opferaltar geschleppt und mit dem zwanzig Jahre älteren Monsieur le Comte vermählt worden sei, wie dieser Mensch, dieses durch das lasterhafte Leben vieler Jahre entartete Ungeheuer, sie anfangs vernachlässigt, dann mißhandelt und endlich verlassen hatte, wie er sogar noch gegenwärtig die Mitgift, die sie ihm zugebracht hatte, in Zerstreuungen verpraßte, von denen man nicht sprechen könne, während seine unschuldige und tief gekränkte Gattin in dem erbärmlichen Zustande leben müsse, den ihr Besucher vor Augen habe, und ihr oft, ma foi, selbst das zum Leben Unentbehrlichste fehle. Ihre Stimme wurde von Schluchzen erstickt, Thränen trübten ihre strahlenden dunkeln Augen; sie nahm ihre Zuflucht zu ihrem Taschentuch, das, ich weiß nicht was für einen durchdringenden Duft verbreitete.
Thomas hatte ein ritterliches Gemüt und ein noch unerschüttertes Vertrauen in die Frauen. Madame de Mirepeaux' Erzählung rief eine Entrüstung in ihm wach, die ihm Ehre machte. Der Graf, versicherte er, sei eine Bestie, ein Feigling, eine moralische Mißgeburt von unglaublicher Ungeheuerlichkeit. Nie habe er von einer ähnlichen Niederträchtigkeit gehört. O, es war entsetzlich, unerhört! Die Gräfin – so dachte er bei sich – ist ein geduldig leidender Engel – und dann, ihre rührende Einfalt, ihr Unglück, ihre Vornehmheit! Bei dieser ihrer ersten Zusammenkunft deutete sie mit keinem Wort, keiner Miene an, daß ein Darlehen willkommen sein würde, und er konnte es natürlich nicht wagen, etwas Derartiges anzubieten. Aber er wiederholte seinen Besuch bald, und dann wieder und wieder, und um die Sache kurz zu machen, hatte er der armen Dame in den ersten sechs Monaten nach Beginn der Bekanntschaft mit einem Gesamtbetrag von baren fünftausend Franken – mehr als der Hälfte seines Jahreseinkommens – ausgeholfen, ihr außerdem unzählige Diners gegeben, sie, so oft sie Lust bezeigte, ins Schauspiel oder die Oper geführt, und ihr von Zeit zu Zeit sinnige kleine Geschenke in Form von Handschuhen, Blumen und Bonbons gemacht.
Das war aber noch nicht alles. Nicht nur schüttete er den Inhalt seiner Börse in den Schoß, nein, er widmete ihr auch den kostbarern Schatz seiner Neigung, denn er bildete sich ein, sie zu lieben, und erklärte ihr dies in aller Form. Er flehte sie an, sich von dem Grafen scheiden zu lassen und dessen verhaßten Namen mit dem seinigen, Gardiner, zu vertauschen. Und sie gestand ihm mit glühenden Augen und wogender Brust, daß sie seine Neigung erwidre; ihre Seelen seien füreinander bestimmt, aber – aber, sie sei Christin, Katholikin; ihre Religion verbiete die Scheidung, und es bliebe ihnen nichts übrig, als sich dem grausamen, trostlosen Geschick, das sie auf ewig voneinander trenne, zu unterwerfen. Freunde aber könnten sie immer bleiben, fügte sie hinzu, und das Glück, sich zu sehen, so oft genießen, als sie wünschten. Freilich sei sie siebenundzwanzig Jahre alt, sagte sie, aber er beteuerte, daß der Unterschied der Jahre nichts zu bedeuten habe, wenn die Herzen zusammen stimmten. Nicht die Lebensjahre, sondern die Erfahrungen sollten der Maßstab für die Berechnung des Alters sein, meinte er, und er sei so viel erfahrener als sie! »Ja,« gab sie zu, »ich fühle für Sie manchmal die Achtung, die Verehrung, die eine Tochter für ihren Vater empfindet; Sie sind so gut, so weise!« – Und dann die Gedichte, die er ihr widmete! Ich brächte eins hier zum Abdruck, wenn ich nicht fürchtete, daß Tom mich bei nächster Gelegenheit niederschießen würde.
Natürlich konnte der Tag der Enthüllungen und Ernüchterung nicht ausbleiben, und zwar kam er folgendermaßen: Eines Abends erwähnte er unvorsichtiger-, aber doch glücklicherweise den Namen der Gräfin in Gegenwart einiger seiner französischen Freunde. Jacques Caquelard lächelte und machte eine unerhört achtungswidrige Bemerkung über sie. Tom fuhr in zorniger Entrüstung empor und verlangte augenblickliche Genugthuung von dem Verleumder, allein die andern Anwesenden mischten sich hinein und vermittelten einen Waffenstillstand. Darauf erzählte Caquelard eine Geschichte, deren Heldin die Gräfin war, und bei deren Anhören sich die Haare des Amerikaners sträubten. Die Gefährten bürgten für die Wahrheit, schworen, daß die ganze Welt sie kenne, und waren sehr erstaunt, daß ce pauvre Taum, cet excellent Gardunair sie noch nicht gehört hatte. Es fehlte auch nicht an inneren Anzeichen der Wahrheit, und sie klang überhaupt nicht wie eine Erfindung, sondern wie etwas Erlebtes. Die Geschichte selbst werde ich hier nicht wiederholen. Einer der weniger wesentlichen Punkte lief indes darauf hinaus, daß Madames Alter nicht unter vierzig Jahren sein könne. Tom sah sie nicht wieder, und er war selbst überrascht durch die Wahrnehmung, in wie kurzer Zeit das Feuer seines Herzens erlosch. Mehr als ein Jahr verfolgte sie ihn mit wilden, leidenschaftlichen Briefen. Die ganze Sache war natürlich sehr unangenehm und albern, denn wenn wir sie beim rechten Namen nennen wollen, so hatte sich Tom in der unglaublichsten Weise zum Narren halten lassen. Allein er war ja nur einundzwanzig Jahre alt, kaum den Knabenschuhen entwachsen, und ich glaube, die Weisen stimmen darin überein, daß aus einem Knaben, der sich niemals zum Narren macht, kein rechter Mann wird.
Toms Ehrgeiz war es, ein Held der Feder zu werden, und da liegt die Frage nahe, was hatte er während der ganzen Zeit gethan, um sich im Gebrauch des erwählten Rüstzeugs zu üben? Wie schon erwähnt, hatte er viele Verse an Frau de Mirepeaux gerichtet, aber diese Dichtungen konnten kaum in Betracht kommen, denn sie waren weiter nichts als der Ausdruck seiner persönlichen Empfindungen. (In späteren Jahren, als diese Empfindungen längst vergangen waren, versuchte er allerdings einiges davon zu veröffentlichen. Er schickte sie an verschiedene belletristische Zeitschriften und erhielt sie stets mit einer gedruckten Versicherung des aufrichtigsten Danks und Bedauerns des Redakteurs zurück. Ich würde, wie ich schon angedeutet habe, hier gern seinen damaligen Wünschen entgegenkommen, allein in seinem gegenwärtigen vorgeschrittenen Lebensalter betrachtet er die Mirepeaux-Dichtungen als eine seiner schriftstellerischen Jugendsünden und wünscht, daß diese mit den übrigen begraben bleiben mögen.) Die Frage ist also: Hatte er irgend etwas geschaffen, was als das Erzeugnis eines innern Kunsttriebs angesehen werden konnte? Die Antwort lautet: Er hatte viel begonnen, aber vollendet – nichts. Ein Gedanke, eine Fabel, ein Motiv für eine Abhandlung, eine kurze Erzählung, ein Roman, ein Epos, ein lyrisches Gedicht kam ihm plötzlich in den Sinn, und, entflammt von Begeisterung, setzte er sich hin, um zu schreiben. Aber Entwurf und Ausführung sind zwei himmelweit voneinander verschiedene geistige Vorgänge, wie männiglich bekannt ist. Jene ist eine plötzlich auflodernde, kurze Ekstase, diese eine lange, harte, mühsame Arbeit. Wenn er im ersten Feuer einige Seiten aufs Papier geworfen hatte, stieß er unvermeidlich auf eine Schwierigkeit, und die Arbeit geriet ins Stocken. Während er sich nun den Kopf zerbrach, um ein Mittel zu finden, die Schwierigkeit zu überwinden, schoß ihm ein neuer Gedanke, ein andrer Vorwurf, ein frisches Motiv blitzartig durchs Hirn, und er ließ das alte fahren, denn in solchen Dingen wenigstens ist die letzte Liebe die beste. Dann wurde das angefangene Manuskript verächtlich beiseite geschoben, und der Nachfolger trat seine ebenso kurze Herrschaft an. Wie man sieht, machte ihm nichts größere Freude, als litterarische Luftschlösser zu bauen, aber es fehlte ihm an Sitzfleisch, an der Geduld, sich Tag für Tag im Schweiße seines Angesichts abzumühen, bis es ihm gelungen wäre, einem von ihnen mit Feder und Tinte feste Gestalt zu geben. »Ich war selbst nur halb gar,« pflegte er später zu sagen, »und ich hatte die Gewohnheit, nur halb Gares auf den Tisch bringen zu wollen.« Wahrscheinlich war es eine doppelte Schwierigkeit, womit er zu kämpfen hatte. Er besaß ein ausreichendes und unabhängiges Einkommen; der schärfste aller Sporen zu schaffender Thätigkeit, der Hunger, fehlte ihm also. Und ferner, wenn er von dem günstigen Standpunkt seiner einundzwanzig Jahre in die Zukunft blickte, sah er kein Ende vor sich. Er hatte ja noch Zeit genug, der Gedanke an den Augenblick, wo der Wille zur Arbeit zu spät erwachen und er auf ein nutzlos vergeudetes Leben zurückblicken würde, beunruhigte ihn nie, denn er hielt sich durchaus nicht für träge und unthätig. Wenn er auch niemals etwas vollbrachte, so war er in seinen eigenen Augen doch stets im Begriff, etwas zu leisten. Immer hatte er den Vorsatz, seinen nächsten schriftstellerischen Versuch bis zum Schlusse durchzuführen. Auch sammelte er ja Material, sah die Welt und machte sich mit der französischen Litteratur vertraut. Die Zahl der gelb broschierten französischen Bücher, die er verschlang, war wirklich erstaunlich.
Im Juli 1882 schüttelte er den Pariser Staub von den Füßen, und im Oktober desselben Jahres traf er in Rom ein, ohne zu ahnen, welcher Wendepunkt seines Lebens dort eintreten sollte. Ja, der Aufenthalt in Rom sollte auf sein Geschick den allerentscheidendsten Einfluß haben, denn in Rom, um die Sache mit wenigen Worten zu erzählen, fand, liebte, umwarb, gewann und heiratete er – Miß Rose Cartret.
Miß Cartrets äußere Erscheinung zu schildern, will ich gar nicht versuchen. Ich würde ja doch nie im stande sein, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und da sie bestimmt lesen wird, was ich schreibe, so könnte ich mich leicht in eine böse Klemme bringen. Aber ich glaube, ich kann ohne Gefahr und ohne mich einer Indiskretion schuldig zu machen, hier die nachfolgenden Zeilen aus einem in meinem Besitz befindlichen Briefe anführen, der »am Weihnachtsabend 1882« datiert ist, den Poststempel »Rom« trägt und mit dem Buchstaben »G.« unterzeichnet ist. Selbst wenn er uns kein greifbares und lebendiges Bild der äußeren Erscheinung Miß Cartrets gibt, so läßt er uns doch einen Blick in den Gemütszustand und die Empfindungen thun, von denen dieser gewisse G. durch ihre Erscheinung erfüllt worden war.
G. beginnt damit, daß er die alte und viel umstrittene Frage wieder aufwirft: »Was liegt in einem Namen?« und er beantwortet sie kühn und ohne Zögern: »Welten! Es scheint,« so fährt er fort, »als sei sie geboren für ihren Namen Rose, oder als ob der Name für ihren ausschließlichen Gebrauch erfunden worden sei. Der Gedanke, daß ihn jemals ein andres Weib getragen hat, ist mir verhaßt. Sie ist eine Rosenknospe – gerade im Begriff, sich zur vollen Blüte zu erschließen, voll Farbe, Duft und Süßigkeit. Wenn Du sie sähest und dann aufgefordert würdest, ihren Namen zu erraten, Du könntest nur auf den einen verfallen – Rose; das heißt, dabei setze ich voraus, daß Du etwas Einbildungskraft und ein gewisses Gefühl dafür hast, was zu einander paßt.
»Und ihre Augen? – Ich kann Dir wohl sagen, daß sie groß und grau sind und in einem wunderbar wechselvollen Glanze strahlen, jetzt weich, jetzt fröhlich, jetzt voll Verstand und Gedankentiefe, dann lebhaft und voll Leidenschaft, aber die sonderbaren Empfindungen, die sie in meinem Herzen wachrufen, die kann ich Dir nicht schildern. Ihr Haar – o, welch üppige Fülle! – ist dunkelbraun und wellig, und es weicht in einer Weise von ihrer Stirn zurück, als ob es von dieser bezaubert wäre. Ihre Lippen, voll, warm und voll Empfindung – nun, mein Freund, Du müßtest danach dürsten, sie immerwährend zu küssen, und hinter ihnen bergen sich – Perlen. Ihre Hautfarbe? – Frischgefallener Schnee, der von der aufgehenden Sonne rosig angehaucht wird, kann sich daneben nicht sehen lassen. Sie ist eine weitere Rechtfertigung für ihren Namen, denn ihre Haut hat dieselbe feine, atlasgleiche Glätte, wie die Blätter einer Rose. Ihre Nase? – Du würdest sie vielleicht retroussé nennen, aber sie ist so zierlich, so keck, so übermütig – in dieser Nase steckt Witz. Ich wollte, Du könntest sehen, wie sie dieses Näschen rümpft, wenn sie mich manchmal auslacht. Das ist geradezu unwiderstehlich. Und ihre Stimme? – Ich weiß nicht, wann sie den süßesten, den reichsten Wohllaut entwickelt, beim Sprechen oder beim Singen – denn sie ist eine vollendete Sängerin und spielt Klavier wie ein Engel. Und ihr Verstand, ihre Güte, ihr edler Charakter, der Reichtum ihres tiefen Gemüts –« Aber hier verfällt G. in gelinden Wahnsinn.
Vielleicht kann ich noch hinzufügen, daß Rose neunzehn Jahre alt war, das heißt drei Jahre jünger als Tom Gardiner, und ferner, daß sie, wie durch eine später thatsächlich vorgenommene Messung festgestellt worden ist, genau bis zum obersten Westenknopf dieses jungen Mannes reichte. Von ihrem ersten Zusammentreffen kehrte er mit der festen Ueberzeugung zurück, daß er soeben mit der hübschesten, witzigsten, liebenswürdigsten und besten aller Evastöchter eine köstliche Stunde verlebt habe. Als er sie zum zweiten Mal getroffen hatte, fragte er sich verwundert, was wohl dieser seltsame himmlische Schmerz, den er im Herzen fühlte, zu bedeuten habe, und weshalb die ganze Welt so wunderbar, so geheimnisvoll verändert sei, und nach der dritten Zusammenkunft war es ihm klar, wie ungeheuer, wie grundverschieden wahre Liebe von der Empfindung sei, die er für Madame la Comtesse de Mirepeaux gefühlt hatte.
Roses Eltern waren beide tot – ihr Vater war der hochwürdige Theodor Cartret, Prediger einer kleinen Landgemeinde in Massachusetts, gewesen – und sie lebte bei ihrer Tante mütterlicherseits, einer großen, stattlichen und anspruchsvollen Dame der Gesellschaft Namens Knox. Diese hatte eine Wohnung im Palazzo Gabrielli inne, die an jedem Mittwoch nachmittag, ihrem Empfangstag, von Besuchern überfüllt war. Ein großes Diamantkreuz schmückte ihren umfangreichen Busen, und sie behandelte ihre anbetungswürdige Nichte beinahe nicht besser, als wenn diese eine Art höherer Dienerin gewesen wäre – was Tom Gardiners Blut oft in Wallung brachte. »Sie hatte ein verzogenes kleines Biest von einem Pudel Names Chicot,« erzählte mir Tom später, »und wenn man sie in ihrem affektierten englischen Accent sagen hörte: ›Meine liebe Rose, bringe Chicot zum Spielen in den Hof und vergiß ja nicht, ihm den Ball vorzuwerfen, bis er müde ist,‹ – dann bekam man Lust, sie gelinde zu erdrosseln.« Schon als Kind von zwölf Jahren war Rose Waise geworden, und seitdem hatte sie bei Mrs. Knox gelebt. Eigenes Vermögen besaß sie nicht, und ihre Tante, darauf könnt ihr euch verlassen, verstand es meisterlich, ihr klar zu machen, wie bitter Gnadenbrot schmeckt und wie steil die Treppen in eines andern Haus sind. Aber lassen wir Vergangenes vergangen sein, wenigstens soweit Mrs. Knox in Betracht kommt. Während dieses ganzen entzückenden Winters hatte Rose einen hingebenden Verehrer an Thomas Gardiner, der ihr eine ganz andre, aber nicht minder wahre Lehre beibrachte, nämlich wie süß es ist, Liebe zu spenden und zu empfangen – und der am 4. März 1883 im Salon der amerikanischen Gesandtschaft mit ihr das feierliche Ehegelöbnis tauschte. Sie waren kaum mehr als Kinder – sie neunzehn, er nicht volle dreiundzwanzig, und doch waren sie verheiratet.
Für Leute jeden Alters ist die Ehe ein ungeheures Wagnis und eine schwere Verantwortung, aber Leute, die mit neunzehn, beziehungsweise dreiundzwanzig heiraten – –! Man bekommt eine Gänsehaut, wenn man an die möglichen Folgen denkt!