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Fünftes Kapitel.

Beekman Place.


Den ganzen folgenden Tag verwandten Tom und Rose dazu, eine Pension zu suchen, deren Preis ihre Mittel nicht überstieg. Wie wir wissen, hatten sie fünfzehn Dollars als äußerste Grenze dessen festgesetzt, was sie wöchentlich für Kostgeld und Miete ausgeben durften. Kreuz und quer, auf und ab durchzogen sie die Stadt mit den Anzeigen im Herald als Führer, und als der Abend herniedersank, waren sie vollständig erschöpft und sehr niedergeschlagen. Sie hatten mehrere Häuser gesehen, wo sie für fünfzehn Dollars wöchentlich volle Pension erhalten konnten, aber was für Häuser! Unsauber, düster, vernachlässigt, von übeln Gerüchen erfüllt (die Rose bestimmt fehlerhaften Abzugsröhren zuschrieb, während Tom sie für abgestandene Küchendünste hielt), in schmutzigen Stadtteilen gelegen, von schlampigen oder keifenden Weibern gehalten, und, nach den sichtbar werdenden Proben, von allen möglichen Arten verdächtig aussehender Personen bewohnt. Und doch mußten sie sich sagen, daß sie wahrscheinlich in einem dieser Häuser würden leben müssen. Das waren trostlose Aussichten, bei denen sich ihr Herz zusammenzog.

Niedergeschlagen und einsilbig saßen sie am Abend zusammen. Rose hatte eine Näharbeit vorgenommen, und der leise klappernde Ton, den die Nadel am Fingerhut hervorbrachte, war das einzige Geräusch, das hörbar ward. Tom hielt ein Buch in der Hand, aber er las wenig. Beider Gedanken waren mit ihrer traurigen Zukunft beschäftigt, und beide dachten nur daran, wie schwer ihr Geschick das andre treffe. »Was mich anlangt,« meinte Rose, »so liegt nicht so viel daran; ich lege wenig Wert auf derartige Dinge. Aber Tom – der arme Tom!« Und Toms Gedanken waren: »Ich kann alles ertragen, ich bin ein Mann, ich könnte mich in jede Entbehrung finden. Aber Rose – wie kann ich's übers Herz bringen, sie in einer solchen Umgebung leben zu lassen, unter solchen Menschen! O, nein, nein, – es ist zu –« Aber es war unvermeidlich, und er wurde von dem Grimm und der Verzweiflung erfüllt, die einen Menschen von Fleisch und Blut erfassen, wenn er sich gegen das auflehnt, was er doch als unvermeidlich erkannt hat. »Ich kann's nicht zugeben!« Aber er wußte ganz genau, daß er es nicht verhüten konnte. »Ich kann's nicht ertragen!« Aber es war ihm klar, daß er es tragen müßte, gefesselt und geknebelt, wie er durch die Verhältnisse war. Ja, die Zukunft lag allerdings trostlos genug vor ihnen, und es ist kein Wunder, daß sie niedergeschmettert waren. Nicht immer ist es ein süßer Trost, Genossen im Leid zu haben. Wenn sie einander ansahen, empfanden sie keine Freude, keine Beruhigung; im Gegenteil, sie fühlten ihr Unglück, ihre Sorgen nur um so tiefer, um so schärfer. Jetzt war ihre Liebe ihnen eine Quelle des Schmerzes, einer Angst, die von keiner Hoffnung gemildert wurde, der Angst vor dem, was dem geliebten Weib, dem teuren Gatten bevorstand. –

»Meine liebe Rose,« sagte Tom am Donnerstagmorgen, »es ist unumgänglich nötig, daß wir uns heute für eins der Häuser entscheiden. Wir müssen diese Woche hier ausziehen und unsre Möbel nach der Verkaufsstelle bringen lassen« – (Pearse hatte ihnen der Abrede gemäß den Namen eines zuverlässigen Verkäufers mitgeteilt) – »die Woche ist fast vorüber und wir müssen heute in einem der Häuser mieten. Welches ziehst du vor?«

»Ich weiß nicht. Eins ist so widerwärtig als das andre. Du meinst also, es wäre nicht der Mühe wert, uns noch weiter umzusehen?«

»Es scheint mir allerdings so; wir haben doch alles ziemlich gründlich angesehen. Ich glaube, wir würden uns nur neuen Enttäuschungen aussetzen. Aber ich bin natürlich bereit, alles zu thun, was du wünschest.«

»Wir könnten noch einen letzten Versuch machen. Wenn sich nur die geringste Möglichkeit bietet, etwas Besseres zu finden, sollten wir sie nicht vorübergehen lassen. Da ist noch das Haus am Beekman Place übrig, das wir uns gestern nicht angesehen haben. Laß uns mal dahin gehen.«

Damit zog sie ihr Notizbuch aus der Tasche und reichte ihrem Gatten einen Zeitungsausschnitt, der folgendermaßen lautete:

»Pension. – In einer Privatfamilie für ein Ehepaar oder zwei Herren, sonniges Zimmer mit Aussicht nach dem East River. Preis mäßig. Nur noch ein andrer Gast. Näheres bei Mrs. G. – Beekman Place 53. Ecke der 51. Straße.«

»Gut,« sagte Tom. »Ich sehe zwar nichts besonders Verheißungsvolles darin. Dieselbe Geschichte – Pension in einer Privatfamilie; so nennen sie sich alle. Die schrecklichsten Pensionen, die wir gestern gesehen haben, die den allerverdächtigsten Eindruck machten, waren bei Privatfamilien. Eine Pensionsbesitzerin schreckt vor nichts zurück. Und was den Preis betrifft, so können wir uns, wenn die Pension gut bis mittelmäßig ist, ruhig darauf gefaßt machen, daß der Preis für unsre Verhältnisse nicht ›mäßig‹ genug ist.«

»Aber es schadet doch nichts, wenn wir's mal versuchen. Ein ›sonniges Zimmer‹ heißt es, das ist schon ein großer Vorzug, und ›Aussicht nach dem Fluß‹, das ist prachtvoll. Und dann ist nur noch ein andrer Gast da – und du weißt doch, daß bei allen andern Pensionen, die wir besehen haben, das Schlimmste die andern Gäste waren. Wir wollen jedenfalls mal hingehen, uns die Sache betrachten und uns überzeugen. Es ist ja kein großer Umweg.«

»O, wenn du es so wünschest, so laß uns auf alle Fälle hingehen. Aber du weißt, was wir zu erwarten haben. Wenn's billig ist, dann ist's scheußlich, und wenn's anständig ist, wird's uns zu teuer sein. Wir werden indes einen andern Stadtteil von New York zu sehen bekommen; ich habe noch nie etwas von Beekman Place gehört.«

So wanderten sie also nach dem östlichen Ende der 51. Straße, und es stellte sich heraus, daß Beekman Place eine kurze Reihe brauner Häuser war, die dicht am Rande des Wassers standen.

»Hier könnten wir aus den Hinterfenstern fischen,« meinte Tom, allein das war eine gewaltige Uebertreibung. Zwischen den Höfen der Häuser und dem Wasser lag noch eine dreißig Fuß breite Terrasse und ein ebenso breiter Streifen Land.

»Aber es ist herrlich!« rief Rose. »Es muß wirklich hübsch hier wohnen sein.«

»Das Haupterzeugnis dieser Gegend scheint mir in Kindern zu bestehen,« erklärte Tom, »und nach ihren Nasen zu urteilen, sind es Kinder Israels.« Auf dem Bürgersteig watete man allerdings sozusagen in Kindern, die in ihrer Weise spielten und laut durcheinander schrieen.

»Aber es sind sehr hübsche Kinder,« erwiderte Rose, »und sie scheinen sehr vergnügt zu sein. Holla! Da – du kleiner Kerl« – rief sie, wobei sie einen unters Kinn faßte – »wo hast du denn deine hübschen Locken gekauft? Und wie heißest du? Wie alt bist du?«

»Hab' sie nit gekauft,« entgegnete der Junge, keineswegs blöde, »sind gewachsen.«

»O, sie sind gewachsen, wie? Wie sonderbar. Und wie heißest du?«

»Ich heiße Jefferson S. Cohen. Wie heißen Sie denn?«

»Ich heiße Rose – Rose C. Gardiner. Na, adieu auch.«

»Adjes.«

Sie stiegen die zur Thüre des Hauses Nr. 53 führenden Stufen empor und klingelten.

»Das Haus sieht nett aus,« bemerkte Rose. »Sieh nur, wie sauber die Treppe gehalten ist.«

Die Thür wurde von einer etwa dreißigjährigen Frau mit angenehmen Zügen geöffnet. Sie trug eine Brille und war augenscheinlich keine Magd. Tom zog den Zeitungsausschnitt hervor. »Wir möchten uns das Zimmer mal ansehen,« sagte er dabei.

»O, bitte, treten Sie näher, ich werde meine Mutter rufen.«

Die Dame führte Rose und Tom ins Wohnzimmer. »Nehmen Sie Platz,« bat sie, »meine Mutter wird im Augenblick erscheinen.« Es war ein ganz einfach ausgestatteter Raum, aber gemütlich, freundlich und sehr sauber. Die nach dem nächsten Zimmer führende Flügelthüre war geschlossen, und dahinter schien jemand vorzulesen.

»O,« seufzte Tom. »Hier ist's viel zu nett Sie werden mindestens fünfundzwanzig Dollars wöchentlich verlangen.«

»Wart's doch ab,« flüsterte Rose, aber auch sie hatte im innersten Herzen die trübe Ahnung, daß die überall herrschende Sauberkeit kein für ihre Hoffnungen günstiges Vorzeichen sei.

Eine kleine Frau, so wohlgenährt, daß man sie fast dick nennen konnte, mit einem großen, nicht unschönen, gutmütigen Gesicht, lustig zwinkernden blauen Augen, einem stattlichen Doppelkinn und mütterlichem, einnehmendem Wesen trat jetzt vom Flur aus ein. »Guten Morgen,« begann sie mit einem altmodischen Knix und wohlwollendem Lächeln, »schönes Wetter heite, Se wollen sich anseh'n de Stube?«

»Ja wohl,« antwortete Tom, »wenn sie noch zu haben ist.«

»O, gewiß, mer haben se noch nit vermietet,« sagte sie. »Gestern waren hier viele Leite, die sie haben beseh'n, aber se haben mer nit gefallen, un ich hab se geschickt fort. Mein Sohn und seine Frau, wo sich haben geheiratet jetzt gerade vor 'nem Jahr, haben gewohnt in der Stub' bis zum Ersten, un dann sin se gegangen und wollen haben en eignen Haushalt, weil meine Schwiegertochter werd haben en Kleines etwa Mitte Dezember, un da haben se gedacht, es wäre besser, wenn se sich einrichteten en eignen Haushalt, ehe das Kind kommt zer Welt, versteh'n Se – wie? Wenn Se wollen seh'n de Stube, missen Se sich gefälligst bemüh'n 'nauf.«

Sie schritt voraus und führte sie in den zweiten Stock.

»Entschuldigen Se, wenn ich gehe voraus,« sagte sie, »ich muß Ihnen zeigen den Weg.«

Rose bemerkte mit dem Scharfblick der feinen Dame, daß Treppen und Gänge ebenso peinlich sauber gehalten waren, wie alles, was sie bis jetzt im Hause gesehen hatten. Im zweiten Stock öffnete ihre vom Steigen etwas außer Atem gekommene Führerin eine Thür. »Das is de Stube,« sagte sie.

Es war ein Zimmer von angemessener Größe mit einem Alkoven, worin das breite Bett stand. Wie das Wohnzimmer im Erdgeschoß, war es einfach möbliert, aber tadellos sauber, und es machte einen behaglichen, wohnlichen Eindruck.

Die Wirtin trat ans Fenster und zog die Rollvorhänge empor.

»O!« rief Rose.

»Ah!« stimmte Tom bei.

»Ja, is es nit prächtig?« fragte die Wirtin mit verzeihlichem Stolz.

Es war ein herrlicher, klarer Oktobertag. Die Sonne ergoß einen Strom goldigen Lichts ins Zimmer, aber die Ausrufe der Bewunderung galten der Aussicht – zu ihren Füßen strömte der breite Fluß, in dem sich das tiefe Blau des Himmels spiegelte, und der, soweit das Auge reichte, von Schiffen aller Art belebt war. Schlepper, die weiße Dampfwolken ausstießen, eilten geschäftig hin und her; breite Raddampfer durchfurchten entschlossen die Flut, lange, glänzende Schlangenlinien hinter sich lassend; Segelschiffe glitten, sich anmutig vor dem Winde neigend, lustig dahin, während Sonnenlicht und Schatten wunderbare Farbentöne von Gold und Purpur auf ihren Segeln hervorzauberten. Jenseits des Flusses sah man Long Island, zunächst ein feines, skelettartiges Gewebe von Masten und Rahen, dahinter eine weite Fläche von Ziegeln und Steinen – ein welliges Meer von ungleichen Dächern, einige hoch, manche niedrig, dazwischen ein schlanker Kirchturm, die hochgewölbte Kuppel eines öffentlichen Gebäudes oder ein Fabrikschornstein – das Ganze vom Sonnenlicht verklärt, so daß es glänzte, wie eine Stadt aus dem Feenreich, und endlich das offene Land, gekleidet in das bunte Gewand des Herbstes, sich weit ausdehnend, bis es sich in einem unbeschreiblichen rosigen Duft mit dem Horizont vermählte. Die Aussicht war reizend, herzerfreuend, erfüllt von dem Pulsschlag des Lebens und der Natur. Welch ein Gedanke, in einem Zimmer zu wohnen, das eine solche Aussicht bot! Tom und Rose standen still und schauten aus dem Fenster, versunken in schweigenden Genuß des herrlichen Bildes.

»Ja,« hob die Wirtin endlich wieder an, »es is heite schon sehr schen, aber Se sollten's nur seh'n, wenn mer haben Mondschein. Ach Gott! In meinem ganzen Leben hab' ich nix geseh'n, was gleichkommt dem Fluß, wenn der Mond scheint drauf. Se wirden sein iberrascht, wahrhaftig! Ellegant ist es, Nummer eins, extra fein. Mein Alter un ich, mer setzen uns oft ins Erkerfenster unten, un dann thun mer den ganzen Abend nix, als mer gucken aus 'm Fenster un seh'n, wie der Mond scheint aufs Wasser. Se kennen sich nit vorstellen, wie großartig es is, wundervoll!«

»O gewiß, gewiß,« stimmte Rose im Tone der Ueberzeugung zu.

Sie wagten es jetzt kaum noch, nach dem Preis zu fragen, weil sie es für ganz zweifellos hielten, daß er ihre Mittel übersteigen werde. Endlich nahm Tom allen seinen Mut zusammen und stellte die Frage.

»Nu,« erwiderte die Wirtin, »ich werde Ihnen sagen genau, wie's is. Ich möchte lieber nehmen 'n paar honette Leite, wie Sie scheinen ze sein, vor 'n geringen Preis, als Leite, die mer nit gefallen für 'n hohen. Versteh'n Se mich? Da waren zum Beispiel gestern en paar Leite hier. Se haben mer nit gefallen, un ich wollte se werden los, un da hab' ich verlangt fünfunzwanzig Dollars de Woche, un da sin se gegangen. Natierlich hab' ich bloß gemacht Spaß, denn ich wollte se werden los. Aber nu will ich sagen, wie's is. Ich hab' mer's iberlegt, un ich hab' mich entschlossen, daß wenn kommen en paar ruh'ge, nette Leite – nu, dann will ich fordern nur achtzehn Dollars. Was sagen Se dazu – achtzehn Dollars.«

Unsre ruhigen, netten Leute sprachen kein Wort. Angenommen, daß der Tisch gut war, würden achtzehn Dollars die Woche allerdings ein sehr annehmbarer Preis gewesen sein, aber es war mehr, als sie bezahlen konnten. Von allen Pensionen, die sie angesehen hatten, war dies die einzige, wo das Pensionsmäßige nicht sofort verletzend vor Augen trat, sie machte vielmehr, wie schon hervorgehoben, einen wohnlichen und behaglichen Eindruck. Es war wirklich schwer, ihr den Rücken zu kehren, besonders wegen eines so unerheblichen Preisunterschieds von drei Dollars wöchentlich. Aber ein Fehlschuß ist ein Fehlschuß, ob er dicht an der Scheibe oder eine Meile davon vorbeigeht. Es war unmöglich, und sie machten lange Gesichter.

Die Wirtin bemerkte es. »O, ich sehe, Se meinen, es wäre zu teuer.«

»O nein,« beeilte sich Rose zu antworten, »wir halten es gar nicht für zu teuer. Das Zimmer ist reizend, und achtzehn Dollars die Woche ist gar nicht zu viel dafür. Aber – es ist mehr, als wir bezahlen können.«

»O, das is aber schade! Ja, wahrhaftig, furchtbar schade. Sie beide, Se sehen so nett aus, un so gut, umsonst gäb' ich's Ihnen, wenn ich wär' reich. Aber warten Se mal. Wenn Ihnen achtzehn Dollars is ze viel, dann sagen Se mer mal genau, was Se können bezahlen. Vielleicht kommen mer doch noch überein.«

»O nein, wir wollen Ihnen nichts abhandeln, das dürfen Sie nicht denken.«

»Nä, ich verstehe, un ich mache mer keine Sorgen, daß Se mer werden was abhandeln. Se werden wohl am besten wissen, wie Se steh'n. Se sin ein junges Paar, wo noch nit hat geheiratet lange, un Ihr Mann, der verdient noch nit viel – was? Ach ja, das kenn' ich aus eigner Erfahrung. Mein Mann un ich, als mer haben geheiratet, Gott der Gerechte, er hatte keine zehn Dollars. Das war schon im Jahr achtunvierzig in Berlin. Vielleicht wissen Se nit, daß dazumal war 'ne Revolution da drüben, un mein Grickel, der war auch en Rebeller, un wie de Revolution war erstickt, da mußt' er verlassen das Land ganz plötzlich, un geh'n in de Verbannung. Er un ich, mer waren schon versprochen drei Jahre un warteten, daß mer konnten heiraten, un an dem Abend, da kam der Grickel zu mer un sagte, ich sollte packen un mit em geh'n in de Verbannung, sagt' er, oder er müßte geh'n allein, ohne mich, un dann könnte mer nit wissen, ob mer uns jemals wiederseh'n, sagt' er – eins von beiden, sagt' er. Na, un da sin mer dann noch dieselbe Nacht fortgegangen, un haben uns geheiratet, sobald mer konnten, un dann haben mer Deitschland verlassen, un wie mer kamen ins Französische – lieber Gott! da hatte mein Grickel nur fünfzig Franken in der Tasche, was is nit emal zehn Dollars. Sehn Se, mer wissen auch, was es heißt, ze sein arm. Vielleicht geht's Ihnen geradeso. Aber sein Se nur ruhig, Se sin noch jung, Se haben noch viel Zeit, un wenn Se werden alt, dann werden Se auch reich. Das hat nix ze sagen. Aber nu hören Se mal, was mer wollen thun. Ich überlasse Ihnen de Stube zu 'nem Preis, den Se sollen bestimmen selbst. Se sin so 'ne liebe, hibsche, nette junge Frau, un was Ihr Mann is, der hat Se so lieb.«

Ein tiefes Erröten verbreitete sich über Roses liebliche Züge. »Sie sind zu gütig,« murmelte sie.

Tom wandte sich ab und blickte zum Fenster hinaus, um sein Gesicht zu verbergen. Er fühlte eine Anwandlung laut zu lachen, die er nur mit großer Anstrengung bemeistern konnte, und doch war er von der einfachen, gemütvollen Güte der Wirtin tief ergriffen.

»Nu, sagen Se mer genau, was Se können bezahlen,« fuhr diese fort.

»Sie sind wirklich sehr gütig,« wiederholte Rose, »aber wir möchten Ihre Güte doch nicht mißbrauchen. Wir können nicht mehr als fünfzehn Dollars wöchentlich zahlen.«

»Nu, dann is es in Ordnung. Se mißbrauchen meine Gite nit, seien Se unbesorgt. Fünfzehn Dollars de Woche is genug. Lieber Himmel! Ich nehme lieber Sie vor fünfzehn Dollars de Woche, als jemand anders vor fünfunzwanzig. Wahrhaften Gott! Ich wag' es gar nit, Sie ze lassen geh'n. Wenn mein Grickel, was mein Mann is, wenn der Se sieht, dann werd' er sich verlieben in Sie auf der Stelle, un wenn ich Se ließe geh'n, ich wirde 's missen hören bis zum jingsten Tag. Er hat junge Leit' so gern, versteh'n Se? Ach, was vor 'n guter Mann mein Grickel is! So 'n lieber guter Mensch. Se können sich's gar nit vorstellen. Warten Se nur, bis Se 'n kennen, dann werden Se 's schon seh'n. Einfach reizend is er, un Se werden mit em fertig werden ausgezeichnet. – Nu will ich Ihnen sagen, wie mer's wollen machen. Heit abend um halb Sieben, da kommen Se hierher un essen mit uns, un wenn Ihnen das Essen is gut genug, dann mieten Se de Stube. Gefällt's Ihnen nit, dann geh'n Se fort, un Se sollen sein verpflichtet zu gar nix. Ich will, daß Se sein sollen zefrieden, un vielleicht gefällt Ihnen de deitsche Küche nit. Mer sin Deitsche, wissen Se, deitsche Juden. – Dadriber fällt mer ein, Se haben mer noch nit gesagt Ihren Namen. Unser Name is Grickel, mein Mann heißt Raphael Grickel. Se haben vielleicht schon von em gehört, wie?«

»Unser Name ist Gardiner, hier ist unsre Karte,« antwortete Tom, ihrer Frage ausweichend. Wie in aller Welt kommt sie auf den Gedanken, ich hätte schon von ihrem Mann gehört, dachte er verwundert, ist er eine Berühmtheit?

»Und wenn Se verlangen Empfehlungen –« begann Mrs. Grickel von neuem.

»O nein, wir brauchen keine Empfehlungen,« fiel ihr Rose ins Wort, einem augenblicklichen Triebe folgend, der unter andern Umständen vielleicht unklug gewesen wäre. »Sie sind so gütig und freundlich, es würde unserseits unhöflich sein, wenn wir Empfehlungen verlangen wollten.«

»Nu, dann brauch' ich auch keine. Ihr liebenswürdiges Gesichtchen is mer genug Empfehlung. Aber Se haben noch nichts geseh'n von meinem Alten. Geh'n Se nur nach der Verlagsbuchhandlung von Martingale und Comp., da werden se Ihnen sagen, wer der Raphael Grickel is. Se werden also kommen zum Essen, ja?«

Mit herzlichem Dank nahmen sie die Einladung an. Rose besprach noch einige kleinere, aber doch wichtige Einzelheiten mit der Wirtin, worüber sie sich ohne Schwierigkeiten verständigten, und dann machten unsre junge Freunde Anstalten, sich zu verabschieden. Frau Grickel begleitete sie bis zur Hausthür.

»O, einen Augenblick!« rief sie ihnen nach, als sie die Stufen schon halb hinabgestiegen waren. »Se missen mich ja halten fir dumm. Ich hab' ganz vergessen, ze fragen, wann Se wollen anfangen. An welchem Tage werden Se kommen, um ze bleiben?«

Sie berieten einen Augenblick.

»Warum sollen wir nicht gleich heute abend einziehen?« meinte Tom. »Weshalb sollen wir nicht sofort abschließen? Morgen werden unsre Sachen zum Verkäufer gebracht, und es kann doch gar keine Rede davon sein, daß wir irgendwo anders besser ankämen. Ich bin dafür, daß wir heute abend hierherkommen und gleich bleiben.«

»Sehr gut,« stimmte Rose zu. »Diese Einrichtung paßt mir vortrefflich. Mr. Watson ist so unleidlich, daß wir den Ariosto nicht schnell genug verlassen können. Aber wir müssen doch Mrs. Grickel fragen. – Würde es Ihnen nicht unbequem sein, wenn wir heute abend gleich blieben?«

»O, nein! Je früher, je besser. Ich werde Se also erwarten um halb Sieben, un Se bleiben gleich da. Adieu so lange, sein Se vorsichtig, adieu!«

»Adieu!«

So verließen sie Beekman Place.

Als sie um die nächste Ecke gebogen waren und sich dann in der 51. Straße befanden, konnte Rose sich nicht länger beherrschen. Sie schob ihre Hand in den Arm ihres Gatten und preßte ihn innig an sich. »O, ist das nicht herrlich!« rief sie. »Ist sie nicht eine liebe, liebe alte Frau, und können wir nicht froh sein, daß wir hingegangen sind? Es war doch der Mühe wert, nicht wahr? Denke nur, wenn wir nicht hingegangen wären, hätten wir uns vielleicht anderswo eingemietet, in einer von den greulichen, abscheulichen – o, ich bin froh, ich weiß gar nicht, was ich vor Freude thun soll!« Sie drückte seinen Arm zum zweitenmal an sich, und im Uebermaß ihrer Freude hüpfte sie wie ein kleines Mädchen, statt fein säuberlich und würdevoll einherzuschreiten, wie es einer verheirateten Frau ansteht.

»Bei Tage dürfen Sie meinen Arm nicht nehmen, Madame, das ist nicht fein. Die Leute halten uns am Ende für ein Brautpaar. – O ja, es ist erstaunlich – wir haben wirklich Glück. Es ist wahrhaftig, als ob du eine höhere Eingebung gehabt hättest. Was für eine gute, lustige alte Seele sie ist. Und die Aussicht! Wenn der Tisch einigermaßen ist –«

»Das ist er ganz gewiß, wahrscheinlich einfach, aber sicher gut. Wie sauber und ordentlich war alles im Haus, man hätte wirklich vom Fußboden essen können. Sie ist eine tüchtige Hausfrau, das sieht man auf den ersten Blick, und ihr Tisch ist gewiß gut bestellt.«

»Nun, er wird jedenfalls so gut sein, als wir's für unsern Preis verlangen können. Für fünfzehn Dollars die Woche können wir keine lukullischen Mahlzeiten erwarten. – Hast du wohl gehört, sie sagte, sie sei eine Jüdin? ›Mer sin deitsche Juden,‹ sagte sie.« Bei diesen Worten ahmte er die Sprechweise der Wirtin nach.

»Bitte, thu das nicht, Tom. Es ist nicht hübsch, ihr nachzuäffen und sich über sie lustig zu machen. Sie kann nichts dafür, daß sie nicht besser spricht. Und was liegt daran, daß sie eine Jüdin ist? Ihr Glaube kann uns gleichgültig sein, wenn sie nur gut und freundlich gegen uns ist.«

»So hab' ich's ja auch nicht gemeint. Ich bin wahrhaftig der letzte, der daran Anstoß nehmen würde; meinetwegen könnte sie Feueranbeterin sein. Ich wollte nur sagen, daß die Art, wie sie mit ihrem Preis herunterging, um ihn unsern Mitteln anzupassen, durchaus nicht mit der allgemein herrschenden Ansicht über den jüdischen Charakter übereinstimmt. Das war doch wirklich nicht jüdisch gehandelt.«

»Nein, gewiß nicht. Aber – allgemein herrschende Ansichten! Du lieber Gott! Weißt du nicht, daß allgemein herrschende Ansichten meist falsch sind? Nimm nur mal die allgemein herrschenden Ansichten über Italien und die Italiener. Wir wissen, wie abgeschmackt sie sind. Wahrscheinlich sind die allgemein herrschenden Ansichten über die Juden ebenso abgeschmackt. Wenn Frau Grickel eine Jüdin ist, dann bin ich sehr bereit, das ganze Volk zu lieben. Und der kleine Judenjunge, den wir auf der Straße sahen, ehe wir hineingingen, hatte ein Engelsgesichtchen. War er nicht hübsch, Tom?«

»Ja – Master Jefferson S. Cohen. O ja, er war nicht übel. – Aber da sind wir an der 3. Avenue. Hier muß ich dich verlassen, da ich in der untern Stadt zu thun habe. Du mußt allein nach Hause gehn.«

»Was willst du denn da unten?«

»O, eine kleine Vergnügungsfahrt. Ich will wegen Rücknahme des Pianos und des Schreibtischs mit den Leuten sprechen.«

»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen,« sagte sie betrübt.

»Nun, lebe wohl, es ist jetzt elf Uhr, um Eins werde ich zu Hause sein. Und paß auf, daß du nicht überfahren wirst, wenn du über die Straßen gehst, nicht wahr?«

»Sei nicht albern, Tom, lebe wohl.«

»Adieu, Schatz. Paß ja hübsch auf. Ich lasse dich sehr ungern allein gehn.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Adieu!«

Sie wandte sich ab und ging ihres Wegs. Nach dem dritten Schritte aber rief er sie zurück.

»Rose!«

»Nun?«

» Tu m'aimes un peu?«

» Un tont petit peu.«

» Au revoir, cherie.«

» Au revoir, milord.«

Und so rissen sie sich endlich auseinander.

Es ist schon oft behauptet worden, daß unser Glück in der Hauptsache durch Kleinigkeiten erhöht oder gestört werde, kleine Hoffnungen und Besorgnisse, kleine Heimsuchungen, Erfolge, Fehlschläge. Das Geschäft, das Tom jetzt zu erledigen hatte, war an sich etwas sehr Unerhebliches, aber es war ihm außerordentlich widerwärtig. Die Kaufleute aufzusuchen, von denen er Roses Piano und seinen eigenen Schreibtisch auf Kredit entnommen hatte, ihnen zu erklären, daß er unfähig sei, sie zu bezahlen, und sie zu bitten, die Sachen zurückzunehmen und das Geschäft somit rückgängig zu machen – das war eine der vielen kleinen Notwendigkeiten, die ihm die plötzliche Veränderung seiner äußeren Umstände auferlegt hatte, aber eine so unangenehme Aufgabe, gegen die sich sein ganzes Wesen so sehr auflehnte, daß er deren Ausführung von einem Tage zum andern verschoben hatte. Jetzt aber war die elfte Stunde des letzten Tages gekommen; jetzt konnte er sie nicht länger hinausschieben. Er mußte seinen Stolz vergessen, hingehen und die Demütigung auf sich nehmen, von den Herren Hennerway und Sons und Finch und Comp. eine Gunst zu erbitten. Mit einer gewissen verzweifelten Entschlossenheit machte er sich auf den Weg, der verzweifelten Entschlossenheit, die der eines Kindes gleicht, das seine Augen fest zukneift, wenn es eine bittere Arznei verschlucken muß. Tom versuchte es, die Augen seiner Einbildungskraft zu schließen und seine Empfindlichkeit zu betäuben, allein jene blieben weit offen und diese wollte sich nicht betäuben lassen. Sie rang um ihr Leben, und sie blieb Siegerin. Mochte er auch die ganze Kraft seines Willens gegen sie ins Treffen führen, sie krümmte und wand sich und wollte nicht stille werden. Noch immer scheute er vor der Aufgabe zurück. Allerhand Befürchtungen über die Aufnahme, die er finden möchte, und ein dumpfer, schwerer Druck preßten ihm das Herz zusammen. Zwar hatte er seinen Stolz sozusagen hinuntergeschluckt, aber er erwies sich als ziemlich unverdaulich.

Bei Hennerway u. Sons wartete seiner jedoch eine angenehme Ueberraschung. Er bat, mit dem Herrn sprechen zu dürfen, der ihm das Instrument verkauft hatte. Dieser kam und hörte seine Darlegung der Umstände mit der vollkommensten Höflichkeit an. »Nun natürlich,« erwiderte er dann, »es ist das ein Fall, bei dem man sagt: ›Es thut mir leid, aber es läßt sich halt nicht ändern,‹ wie? Wir wollen das Instrument abholen lassen, wann Sie wünschen. Morgen vormittag? Schön. Natürlich müssen Sie den Fuhrlohn bezahlen, der beträgt vier Dollars.«

Tom hätte dem Mann um den Hals fallen mögen, aber er hielt sich zurück.

»Danke bestens,« sagte er und verließ Hennerway Hall mit Schritten, deren Festigkeit und Schwung von der großen Erleichterung, die er empfand, Zeugnis ablegten.

Von Hennerway und Sons zu dem Möbelgeschäft von Finch und Comp. war nur ein Schritt. Die Glätte, mit der sich das Geschäft am erstgenannten Ort abgewickelt hatte, ließ ihn hoffen, daß es hier ebenso gut gehen werde. Allein diese Hoffnung sollte getäuscht werden. Der Möbelhändler zeigte entschieden Neigung unangenehm zu werden.

»Nein, mein Herr, wir nehmen nichts zurück,« sagte er. »Sie haben den Tisch gekauft und müssen ihn bezahlen.«

»Ich habe Ihnen aber doch gesagt, daß ich nicht zahlen kann; ich habe kein Geld.«

»Das kann jeder sagen; wir werden's drauf ankommen lassen. Wir können Sie ja verklagen auf Zahlung gekaufter und gelieferter Waren. Der Scherz ist schon öfter bei uns versucht worden.«

Tom wurde rot und reckte sich in seinem Aerger stolz empor. Einen Augenblick stand er sprachlos mit zuckenden Lippen und geballten Fäusten. Aber er beherrschte sich. »Sehr schön,« entgegnete er mit gut gespielter Gleichgültigkeit. »Verklagen Sie mich. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, Mühe, Kosten und Zeit daran zu wenden, um etwas zu erlangen, was Sie jetzt im Augenblick und ohne daß es Ihnen einen Pfennig kostet, erreichen können, dann thun Sie das. Wenn Sie mich verklagen und erstreiten ein obsiegendes Erkenntnis, so wird das einzige, was für Sie dabei herauskommt, der Tisch sein, da ich Geld nicht besitze. Ziehen Sie den Umweg vor, um den Tisch wieder zu erhalten, so kann mir das recht sein.« Und dabei wandte er sich ab, um den Laden zu verlassen.

Man ließ ihn bis zur Thür gelangen, ehe man ihn zurückrief.

»Gut,« beschied man ihn dann, »Sie können ihn zurückschicken, und wenn wir finden, daß er sich noch in demselben Zustand befindet, in dem wir ihn geliefert haben, wollen wir ihn zurücknehmen. Aber wir werden Ihren Namen der ›Gesellschaft zum Schutz gegen faule Schuldner‹ mitteilen, und dann können Sie sehen, ob Sie Kredit erhalten werden, wenn Sie ihn mal wieder brauchen.«

Erhitzt, geärgert und erschöpft von dem Streit, aber doch mit dem Gefühl, daß ihm ein Stein vom Herzen genommen sei, begab er sich nach Hause.


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