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5.

Daß der Krieg so langsam vorwärts geht trotz der Tapferkeit unserer Soldaten, daran sind weder die Soldaten noch die Führer schuld. Es ist den alten Generälen, die als junge Offiziere den Krieg von 1870 mitgemacht, leid genug, daß sie nicht mit ihren Truppen im offenen Felde vorstürmen können, wie damals. Dann wäre der Krieg schon lange zu Ende und unser Landsturm hätte nie ausrücken müssen zur Verteidigung des Vaterlandes. Die andern wären allein fertig geworden.

Wer ist aber schuld an der Verlängerung? Antwort: Unsere Zeit der Erfindungen auf allen Gebieten, in welcher des Menschen Geist Gutes erfindet und Böses. Er erfindet nicht bloß Sä- und Mähmaschinen für den friedlichen Landmann, sondern auch Mähmaschinen für den grausamen Tod. Und da seit vierzig Jahren die Nationen einander mißtrauisch gegenüberstanden und für den Krieg rüsteten, so hat sich der Erfindungsgeist auch auf die Kriegswerkzeuge geworfen. Die Gewehre wurden »verbessert«, richtiger verbösert, sie schießen ihre todbringenden Geschosse viel schneller ab als früher; Maschinengewehre wurden erfunden, die das einfache Gewehr an Massenleistung überflügeln, und so noch manche andere Dinge, um auf alle Art den Kriegern den Tod zu bringen. Hat nun eine Armee ein solches Instrument, so will und muß es die Armee der andern Nation auch haben und womöglich noch in »verbessertem«, d. h. wirksamerem Format.

So ist es gekommen, daß die Soldaten in Gräben hinter Drahtverhauen Schutz suchen müssen gegen die Mordmaschinen des menschlichen Erfindungsgeistes, und wenn sie je einmal zum Sturm vorgehen, müssen sich die ersten Kolonnen opfern. Sie sind den Mordmaschinen verfallen. Drum läßt die deutsche Heeresführung in der Regel den Feind anstürmen, um das Blut ihrer Soldaten zu schonen.

In den Gräben wachen bei Regen und Sturm, bei Eis und Schnee, bei Tag und Nacht und warten, bis der Feind anstürmt oder bis die Granaten des Feindes einschlagen oder die Minenwerfer ihre furchtbaren Explosionen und Verwüstungen anrichten, durchnäßt auf Stroh in einer Erdhöhle einige Stunden schlafen und dann wieder wachen und horchen, nach zwölf Tagen abgelöst werden, um nachts auf Stroh auszuruhen, oder oft auch nächtlicherweile Arbeiten hinter der Front zu verrichten, am Tag zu exerzieren und dann wieder in den Graben zurückkehren, um aufs neue zu wachen, Stürme abzuschlagen oder selbst anzugreifen, den Handgranaten ausgesetzt sein oder giftige Gase einatmen, ewig den Donner der Geschütze hören, grauenhafte Verwundungen, immer und immer wieder Kameraden sterben sehen, und so ständig Nervenerschütterungen ausgesetzt sein – und das alles nicht bloß wochenlang, nein, monatelang und noch länger, ohne aus den Kleidern Zu kommen – das ist nicht mehr Heldentum, das ist mehr, das ist Martyrium. Bei den verheirateten Landwehr- und Landsturmleuten kommen noch zu den Strapazen des Feldzugs die Leiden aus der Heimat: Dem einen stirbt das Weib oder ein liebes Kind oder das Haus verbrennt ihm oder harte Gläubiger bedrängen seine Habe.

In Wahrheit, unsere Soldaten sind Helden und Märtyrer zugleich, weil sie nicht bloß wachen und kämpfen, sondern leiden und dulden und dem Tod in allen Arten ausgesetzt sind, ohne zu klagen über den harten Dienst fürs Vaterland, für Haus und Herd des deutschen Volkes.

Ich habe schon viele Soldaten gesprochen, die in den Schützengräben gelegen sind. Sie haben nie geklagt über den harten und lebensgefährlichen Dienst. Helleuchtenden Auges sagen sie alle, vom Urlauber bis zum Schwerverwundeten: »Die Franzosen und Engländer kommen und dürfen nicht durch und die Russen ebensowenig.« Wenn sie zu klagen hatten, waren es Klagen über die Behandlung einzelner Vorgesetzten oder über Mangel an Ruhe in der zwölftägigen Alarmstellung. Ganz besonders loben sie aber die Tapferkeit und Kameradschaftlichkeit der aktiven Offiziere.

Der deutsche Soldat ist im Durchschnitt ebenso gutmütig als gutwillig, und für den Vorgesetzten, der ihn mit Wohlwollen behandelt, geht er durchs Feuer. Möchten jene stets dem Beispiel des obersten Kriegsherrn, des Kaisers, folgen, der die Soldaten seine Kameraden nennt und voll Freundlichkeit mit ihnen verkehrt. Und unsere besten Generäle Hindenburg und Mackensen geben bescheiden den Ruhm ihrer Erfolge ihren tapferen Soldaten.

Ein höherer, kränklicher Offizier, der freiwillig bei Kriegsausbruch wieder zu den Fahnen eilte, schrieb mir einmal, es gefalle ihm auch nicht alles, was um ihn vorgehe, was ihn aber trotz seiner schwachen Gesundheit bewege, auszuhalten, sei das brave Volk der gemeinen Soldaten.

Ein mir befreundeter Kommandeur eines Landwehrbataillons, ein rüstiger Siebziger, äußerte mir, er habe das Eiserne Kreuz I. Klasse und andere Orden erhalten, was ihm zum großen Teil seine braven Soldaten verdient hätten. –

Disziplin, Ordnung muß sein, wo viele Menschen beisammen sind. Aber die Disziplin und der kleinliche Gamaschendienst machen nicht alles aus. Der Geist, der die Soldaten beherrscht, und das Vertrauen auf die Führer macht die Siege. Die Soldaten der französischen Revolution und des ersten Napoleon waren nichts weniger als bis ins kleinste »gedrillt« und standen mit der Disziplin außerhalb der Schlacht auf schlechtem Fuß, und doch haben sie die Russen, Preußen und Österreicher, die unter eiserner Disziplin und unter dem Korporalstock standen, zwanzig Jahre lang besiegt. Und die damaligen französischen Offiziere und Soldaten verachteten die deutschen Rheinbundsregimenter, die neben ihnen dienten, weil die Soldaten schlecht behandelt und geschlagen wurden. –

Was mir an unsern Soldaten auffällt, ist die bleiche Farbe der Verwundeten und Kranken, auch wenn sie schon lange von der Front weg sind. Es ist das meiner Ansicht nach nicht bloß eine Folge der Verwundung und der vorhergehenden Anstrengungen. Es ist das ewige Rauchen, auch der Verwundeten und Kranken, das Biertrinken und das Essen, was kommt. Möglichst reizlose Kost und Temperenz in Alkohol und Rauchen für Kranke und Verwundete könnte viel bessern. –

Es gibt aber nicht bloß Helden und Märtyrer aller Art in der Front und hinter derselben, wo auch eine unermeßliche Arbeit bei Tag und bei Nacht, bei Sturm und Unwetter geleistet wird von unseren Soldaten, es gibt auch Helden und Heldinnen, Märtyrer und Märtyrinnen in der Heimat, die der Soldat hat verlassen müssen, um das bedrohte Vaterland zu schützen. Es sind die Greise, die Frauen, die Jungfrauen, die auf dem Land mit dreifachen Arbeitsleistungen das Feld bestellen und die Lebensnot abwehren – und die in den Städten die Geschäfte aufrechthalten – alle unter steten Sorgen um die Männer, Söhne, Brüder, und dabei keine Stunde sicher sind, daß ihnen eine Todesnachricht zukommt; die aufrecht bleiben müssen, auch wenn die Todeskunde eintrifft; die mit Kummer und Sorgen aufstehen und mit Angst und Bangen sich zur Ruhe begeben; die auf dem Lande in Tränen säen und in Tränen ernten müssen, weil der Mann, der Sohn noch nicht da ist oder in vielen Fällen gar nicht mehr kommt.

Das sind die wundlosen Märtyrer und Märtyrinnen, die Helden und Heldinnen daheim. Ehre und Dank ist auch ihnen das Vaterland schuldig. –

Wir alten Leute in Deutschland, die das Jahr 1870 erlebt, wir meinten, es müßte Schlag auf Schlag gehen in offener Feldschlacht, und unsere Soldaten und ihre Führer gingen am liebsten auch so vor, wenn es möglich wäre. Aber die heutige Kriegskunst ist die Kriegsverlängerungskunst, und die daheim müssen Geduld üben, wie die im Felde es noch in weit höherem und mühsamerem Grade tun. Die Generäle von 1870 und die aus den Befreiungskriegen würden sich im Grabe umkehren, wenn sie wüßten, wie man jetzt Krieg führen muß. Blücher, der Marschall Vorwärts vor hundert Jahren, würde verzweifeln.

Und was würde der große Schlachtenmeister Napoleon I. sagen, wenn er sähe, wie das offene Feld eine einzige Belagerungsstätte ist, wie eine riesige Festung – was würde er sagen, wenn er monatelang hinter der Front auf der gleichen Stelle aushalten müßte, er, der noch auf Helena äußerte: »In der Regel dauert eine Schlacht sechs Stunden« – heute so viele Monate und noch mehr. Es ist nichts Ritterliches mehr im Kriege, nicht mehr Mann gegen Mann in ehrlichem Kampf, sondern meist ein teuflisches Morden und Abschlachten und Verstümmeln in und um die Schützengräben. Mit Recht meinte ein durch eine Handgranate in einem Schützengraben verstümmelter Franzose, den Stumpf seines Arms emporhaltend, zu dem deutschen Sanitätler, der ihn verband: »Das ist die Kultur des 20. Jahrhunderts!« Und mir schrieb ein Soldat von der Front: »Wer gesehen hat, wie gräßlich dieser Krieg mit den Leibern der Menschen umgeht, der wird dafür sein, daß jeder, der in Zukunft noch einmal von einem neuen Krieg spricht, sofort gehenkt wird.«

Der Teufel hätte nichts Schlimmeres erfinden können als diesen Stellungskrieg mit seinen Mordmaschinen. Er kostet durch seine Verlängerung Milliarden auf Milliarden an Geld und viel mehr Soldaten als die früheren Kriege. –

Der Urheber des Krieges, der große Walfisch England, hat schon einige Harpunen (eiserne Haken) in seinem Riesenleib. Er merkt, daß noch mehr kommen und wehrt sich wie ein verwundeter Wal im Meere. Seine Helfershelfer und Handlanger peitscht er zu den größten Anstrengungen und läßt sie geloben, ohne seine Einwilligung keinen Frieden zu schließen. Dazu träumen Engländer, Franzosen und Russen, trotzdem die Deutschen siegreich tief in Belgien, Frankreich und Russisch-Polen stehen, immer noch von ihrem Sieg, von der Zerteilung Deutschlands und der Zertrümmerung Preußens.

Solange sie den Mund noch so voll nehmen, ist an ein Ende des Krieges nicht zu denken.

Auch wurden in den letzten Tagen unsere Gegner noch ermutigt durch Abspringen eines Teiles der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, der kein Geld mehr für den Krieg genehmigen will, während die ganze Partei zu ihrem eigenen Schaden dem Deutschen Reiche, an dem die Gegner immer noch teilen, zumutet, ja keine fremden Landesteile sich anzueignen.

So wird eben die Menschenschlächterei noch fortgehen, bis Europa an Blut und Geld bankerott ist, und der Fluch, den die Urheber und Mitschuldigen an diesem schrecklichsten aller Kriege der Weltgeschichte auf sich laden, wird immer grauenhafter, und den Engländern vor allem kann man die Worte zurufen, die ihr großer Dichter Shakespeare vor mehr als drei Jahrhunderten in seinem Schauspiel »König Heinrich V.« seinen englischen Landsleuten zugerufen:

Auf euer Haupt
Wälzt ihr der Witwen und der Waisen Tränen,
Der toten Männer Blut, der Frauen Gram
Um Söhne, Väter und um Anverlobte,
Die dieser grimme Krieg verschlingen wird.

Welches Meer von Blut und Tränen, von Schmerzen und Leiden, Kummer und Sorgen hat dieser Weltkrieg über die arme Menschheit ergossen! Millionenheere haben auch Millionenverluste. Wer zählt die Toten, die ihr Leben ausgehaucht auf dem Schlachtfelde, »im Auge den Feind, im Herzen das Vaterland«; wer die Zahl derjenigen, die der Tod in den Lazaretten erlöst von furchtbaren Qualen und Schmerzen; wer zählt die Verstümmelten, die als Krüppel, als Blinde, als Lahme ihr junges Leben ins Alter tragen müssen; wer zählt die Tränen, die um die Gefallenen geweint, und die Wehklagen, die ihr Tod ausgelöst; wer zählt die Mütter, die Witwen, die ihre Söhne, ihre einzige Stütze des Alters verloren? Wie erfüllt sich bei ihnen das Wort des Propheten Jeremias: »Und Klage ward vernommen, Trauer und Weinen der Mütter, die ihre Kinder beweinen und sich nicht trösten lassen um selbe, weil sie nicht mehr sind!«

Wer zählt die Herzen der Eltern, die immer wieder bluten, länger bluten als die Todeswunde der Gefallenen, bluten, bis ihr Herz zu schlagen aufgehört; wer zählt die Wunden, die der Tod auf dem Schlachtfeld denen daheim geschlagen und die nie vernarben, solange sie leben; wer zählt die Tränen, die immer wieder fließen, bis das Auge bricht für immer; wer zählt die Tränen der Waisen, die den besten Vater verloren und an der Brust der trostlosen Mutter sich ausweinen und ihre Tränen mit denen der Mutter mischen, um den Vater, den sie hienieden nimmer sehen, auch nicht, wenn der Friede gekommen sein wird?

Wie schön sagt unser Schiller in seiner Dichtung »Die Jungfrau von Orleans«:

Des Landes tiefe Wunden werden heilen,
Die Dörfer, die verwüsteten, die Städte
Aus ihrem Schutt sich prangender erheben,
Die Felder decken sich mit neuem Grün –
Doch die als Opfer eures Zwists gefallen,
Die Toten stehen nicht mehr auf; die Tränen,
Die eurem Streit geflossen, sind und bleiben
Geweint! Das kommende Geschlecht wird blühen,
Doch das vergangene war des Jammers Raub,
Der Enkel Glück erweckt nicht mehr die Väter.

Und was soll ich sagen von den unschuldigsten der Unschuldigen, von den Bewohnern in Russisch-Polen, in Serbien, Mazedonien und in Frankreich, die man zu Hunderttausenden, Greise, Frauen und Kinder, ins Elend und gar oft in den Tod trieb, während ihre Häuser verbrannt oder zusammengeschossen wurden, um den Deutschen oder ihren Verbündeten keinen Schutz bieten zu können.

Eben da ich dies im Meere schreibe, kurz vor dem Geburtsfeste des Gottes der allgemeinen Menschenliebe, ziehen über die Schwarzwaldbahn unweit meines Hauses seit einigen Tagen Tausende von französischen und elsässischen Heimatlosen, die in Frankreich und Deutschland untergebracht werden, weil ihre Dörfer in das eigentliche Kriegsgebiet fallen. Was muß an Gram und Leid in diesen armen Menschen vor sich gehen, die alles verlassen mußten, Haus und Herd, Hab und Gut und Heimat, und wenn sie wiederkehren, nur noch Schutthaufen finden! Zum Glück haben sie das deutsche »Barbarenland« zu passieren, wo ihnen Mitleid aus aller Augen spricht und Labung ihrer wartet an den Halteplätzen.

Wer beschreibt endlich die Leiden der Zivilgefangenen, die in England, Frankreich und Rußland vielfach entsetzlich gelitten haben, nur weil sie Deutsche waren, aber am Kriege so unschuldig sind wie ein Kind. Und wer die Leiden der wehrlosen gefangenen Soldaten?

In Wahrheit, die neunzehn Monate Weltkrieg haben in der Menschheit mehr Leiden und Schmerzen ausgelöst, als die vergangenen hundert Jahre Freuden! –

Nachdem dies gesprochen, schwamm der Delphin zu mir und sprach, Tränen in seinen glänzenden, schwarzen Augen: »Du hast meinem Fischgeschlecht sehr viel Schönes nachgesagt und uns sogar mit euch deutschen Menschen verglichen. Aber in einem Punkte stimmt das nicht. Ihr seid viel unglücklicher als wir Fische im Meere. Doch sag mir nun noch, warum es bei euch den Unschuldigsten, namentlich in Kriegszeiten, am schlechtesten geht und warum das arme Volk, das arbeitet und betet, am meisten leidet.«

Daß es euch Fischen besser geht als uns Menschen, gab ich zur Antwort, hab' ich ja schon oben auseinandergesetzt. Was aber deine Frage betrifft, so haben schon viel gescheitere Leute als ich sich darüber den Kopf zerbrochen. Ich will aber versuchen, dir das Rätsel zu lösen nach meiner unmaßgeblichen Ansicht. Andere Leute mögen darüber anders denken.


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