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1.

Ich leide an Schlaflosigkeit und gebrauche fast jeden Abend seit 25 Jahren Schlafmittel. Trotzdem habe ich jede Nacht so zwischen 3 und 6 Uhr schlaflose Stunden. In diesen mache ich mir Gedanken über alles Mögliche. Wie eine alte Möwe, dieser Schwimmvogel, der über den Wassern fliegen und auf ihnen ruhen kann, einsam am Meeresstrand auf einem Felsriff sitzt und trüben Sinnes hinausschaut auf das Meer, auf seine Wellenhügel und seine Inseleilande und der Zeiten gedenkt, da sie jung und stark mit ihren Genossinnen über den Wassern dahinflog und tagelang die Schiffe umkreiste, ähnlich mache ich es in schlaflosen Stunden der Nacht, um mir die Zeit zu vertreiben.

Ich schaue über das Meer meines Lebens hin und denke an die Personen und Ereignisse, die mir auf diesem stürmischen Meere begegnet und an mir vorübergegangen sind. Aber ich verweile, wie es bei der Gedankenflucht nervöser Menschen üblich ist, nie lange bei einer Person oder einem Ereignisse, und so stürmen die Erinnerungen durch mein Gehirn wie die Bilder in einem Kinematographen.

Diese Gedankenflucht hat seit den Tagen des schrecklichen Weltkriegs ziemlich aufgehört, und ich beschäftige mich allermeist nur mit dem Krieg, seinen Ursachen und seinen Folgen, welch letztere in jede Familie eingreifen, auch wenn sie niemanden im Felde stehen hat. Aber wie viele, unzählige Familien haben tote, verwundete, verstümmelte, verkrüppelte Mitglieder zu beklagen und wie viele Todesanzeigen bringt einem die Post! Als ich im August 1914 am Anfang der Straße, an deren Ende mein Haus in Haslach steht, die ersten Verwundeten matt und bleich dem Krankenhaus sich zuschleppen sah, da rollten mir die hellen Tränen aus den Augen und voll bitteren Wehs über die unschuldigen Opfer kehrte ich heim.

Zeitungen, Feldpostkarten, Feldpostbriese und die verwundeten Soldaten, die vom nahen Krankenhaus mich besuchen, alle erzählen vom Krieg und von seinen Schrecknissen, an die auch fast täglich der Kanonendonner erinnert, der vom Elsaß her über unsere Schwarzwaldberge hereindringt.

So habe ich Stoff genug, um ihn in den schlaflosen Stunden der Nacht zu verarbeiten. Bald weile ich im Geiste in den Schützengräben und bedaure die Soldaten, die Tag und Nacht Haus und Herd unseres Volkes verteidigen, während draußen Regen und Sturm an mein Haus schlagen; bald wandelt mein Geist nächtlicherweile über die Schlachtfelder und sieht die nicht aufgefundenen oder noch nicht geholten Verwundeten verbluten und unter Schmerzen sterben, oder er schaut in die unzähligen Lazarette, durch die ein Meer von Schmerzen und Leiden zieht, während der Tod bald hier bald dort einen armen Märtyrer teuflischer Politik von seinen Qualen erlöst. Ein andermal höre ich, zu Anfang des Krieges, den Jubel und die Laute der Begeisterung, mit der badische, bayerische und württembergische Krieger aus der Schwarzwaldbahn unfern von meinem Hause dem Schlachtfeld entgegenzogen und an den Haltestellen dummerweise mit Kaffee statt mit dem Mark der Bayern, mit Bier, erfrischt wurden, oder es beschäftigt mich das Los von Weib und Kindern eines Landwehr- oder Landsturmmannes. So kam einmal eine junge Bäuerin, Mutter von fünf Kindern, und weinte bitterlich. Ihr Mann ist schon seit Kriegsbeginn an der Front und sie hat niemanden, der ihr hilft, als eine alte Magd und ein Knechtlein, das auch jeden Tag »geholt« werden kann. Wenn der Mann nur einmal vierzehn Tage Urlaub bekäme zur Ernte und um den Kindern das Heimweh nach dem Vater zu stillen. Das älteste ist zehn Jahre alt, ein »g'scheits Maidle«. Es schreibt dem Vater jede Woche einen Brief, er solle doch kommen, und jeden Abend beten die Kinder zum hl. Apostel Thaddäus für den Vater.

Das ist nur ein Familienbild von Millionen und zwar ein reizend rührendes gegen die Vorgänge, die sich abspielen, wenn die Nachricht eintrifft, der Vater kommt gar nicht mehr. Er ist tot und ruht fern der Heimat im Grabe.

Viel beschäftigte mich auch von Anfang an nicht bloß bei Tag, sondern auch in der Nacht die Frage des täglichen Brotes in dieser Kriegszeit. Ich sah mäßige Getreidepreise, weil Getreide genug vorhanden war, bei hohen Mehlpreisen und sah Mehl, das nach Verderbnis roch, und wohin ich mich wandte, niemand konnte abhelfen. Auch darüber machte ich mir Gedanken voll Unmut, die mich oft gar nicht mehr einschlafen ließen. Ebenso über den Wuchergeist, der über unser Volk gekommen ist vom täglichen Brot bis zu Tinte, Papier und Bleistift.

Am meisten aber beschäftige ich mich mit dem Krieg selbst und denke manche Stunden der Nacht darüber nach, warum Krieg sein mußte unter den Menschen trotz ihrer Bildung und Humanität und warum die Unschuldigen darunter am meisten zu leiden haben.

Viel verweile ich auch beim Meere und bei den furchtbaren Kriegsbildern, die sich aus seinen Fluten und unter denselben abspielen. Auf den Wellen des Meeres war der Krieg allzeit schrecklicher für die Kämpfenden, weil sie bei Verwundung und Tod meist keine andere Aussicht haben als das Begrabenwerden in der Tiefe, wo sie eine Beute der Fische werden. Einer, der aus der Luft herabstürzt, kann doch noch ein ehrliches Grab finden auf Erden, wenn er nicht, was selten vorkommt, ins Meer fällt.

Und es kommt mir, seit Beginn des Jahres 1915, bei meinen Nachtgedanken über den Krieg immer wieder der Gedanke, was mögen auch die Fische sagen, wenn Tag für Tag Menschen herabkommen samt den Schiffen und ihrer Fracht. Schon im Februar des genannten Jahres äußerte ich einmal einem Herrn von Freiburg, der mich besuchte, den Gedanken, Gespräche mit Fischen niederzuschreiben. Dies namentlich auch aus einem besonderen Grunde. Ich möchte die Gedanken, die ich mir in schlaflosen Stunden gemacht, gerne am kommenden Morgen auch aussprechen. Aber da hapert's. Das Sprechen tut mir am wehesten, und wenn ich zwanzig Minuten mit jemanden gesprochen und ihm zugehört habe, so bin ich völlig erschöpft, namentlich, wenn es ein sogenannter Gebildeter ist, mit dem ich reden soll. Drum fürchte ich jeden Besuch, weil er mich zum Reden zwingt, so gerne ich mich mit Menschen jedes Standes unterhalte.

Drum habe ich mir längst vorgenommen, einmal mit Fischen zu reden, die stumm sind und als gehörlos von der Naturwissenschaft bezeichnet werden. Die passen für einen, den das Hören und Sprechen ermüdet, und sichern ihn auch gegen Widerspruch, den nervöse Leute, wie unsereiner, nicht gerne ertragen. Ich habe schon öfters in meinen Büchern mit Wesen gesprochen und sie reden lassen, die noch unter den Fischen stehen. So habe ich mich schon gedruckt einmal mit einem alten Besen unterhalten, ein andermal mit einem Stein, ein drittes Mal mit einem Stückchen Gold, ein viertes Mal mit einem alten Hut und gar oft schon mit meiner alten Freundin, der Platane, in der Karthause. Auch mit einem alten Pferd, selbst mit einem alten Herd habe ich schon Zwiegespräche gehalten.

Also habe ich schon einige Fertigkeit im Reden mit Taubstummen, ohne reden und hören zu müssen. Ich schreibe nur nieder, was wir einander zu sagen haben, und schreiben strengt mich viel weniger an als reden.

Die Seele des Menschen hat als ein Hauch Gottes etwas von den Eigenschaften ihres Schöpfers. So hat sie auch etwas von seiner Allgegenwart. Sie kann sich in die Sternenwelt schwingen und in die Tiefe des Meeres versenken. Sie kann sich ohne Eisenbahn und Dampfschiffe schneller als Telegraph und Funken in fremde Länder versetzen und mit allem, was da und dort lebt und kreucht und fleucht, Zwiesprache halten, ohne sich eine Sekunde von der Stelle bewegen zu müssen, an welcher der Mensch liegt, sitzt oder schreibt.

Der Gedanke, einmal mit Fischen zu reden, plagt mich, wie gesagt, seit vielen Monaten. Er wurde in der letzten Zeit zur »Zwangsvorstellung«, und diese Art von Nerventeufeln bringt man erst los, wenn man sie auf dem Papier sieht und sie sich aus dem Kopf geschrieben hat. Dazu kommt noch, daß mich viele meiner Leser immer und immer wieder brieflich fragen, was und wie ich über den Krieg denke.

So nehme ich denn endlich meinen Federkiel in die Hand und schicke mich an, hinabzusteigen in die Tiefe des Meeres. Es ist der 10. Dezember 1915. Draußen tobt der Sturm, und der Regen fließt sintflutlich vom Himmel, als wollte auch er seine Tränen schicken in das Tränenmeer, das die Menschen weinen. In dem Wald über meinem Schwarzwaldhaus rauschen und ächzen die Tannen, als ob auch sie das Wehe fühlten, das durch so viele Menschenherzen zieht in dieser grausigen Zeit.

Es ist sicher in der Tiefe des Meeres friedlicher als auf Erden. Drum hinab und erzähle den Fischen, wie es den armen Menschen geht im Kriege, von dessen Folgen auch sie etwas merken aus den Vorgängen in den Fluten, ohne recht zu wissen, woher es kommt, daß seit Jahr und Tag so viele Menschen und Schiffe im Meere versinken.


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