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14

Man kann goldene Knöpfe an seiner Weste tragen und doch unfähig sein, eine Oper zu komponieren. Willatz Holmsen trug jetzt goldene Knöpfe an der Weste.

Auf was verfiel er nicht alles! Wenn er eines Tages innegehalten und alle seine Einfälle, sich in die nötige Stimmung zu versetzen, zusammengezählt hätte, sein Erstaunen wäre groß gewesen. Er machte weite Spaziergänge und er schloß sich ein; er trank Wein und er fastete; er suchte die Menschen auf und er mied sie; er arbeitete bei Tag und er arbeitete bei Nacht   es gab nur noch Arbeit für ihn, nichts als Arbeit. Zu der verzweiflungsvollen Unfruchtbarkeit gesellte sich eine fürchterliche, ruhelose Eifersucht.

Bitte, kommen Sie zum Essen! sagte Pauline und sah ihn mit ihren dunkelblauen Augen an.   Danke, sagte er und drehte nicht einmal den Kopf. Er arbeitete. Natürlich spielte er gut, er hatte es schon seit seiner frühesten Kindheit gelernt, und außerdem war er ein Weihnachtskind. Aber das half ihm nun nichts, es störte ihn eher. Nein, er hätte überhaupt heuer nicht nach Segelfoß zurückkommen sollen, von Anfang an war alles verkehrt gegangen. Schon den ersten Empfang hatte er sich wohl im stillen ganz anders gedacht; er hatte eine gewisse Beachtung erwartet, ein neugieriges Gedränge um sich auf dem Landungsplatz, war er doch ein berühmter Mann im Lande, ein vielversprechender Musiker. Und wie war's gewesen? Die Haushälterin seiner Eltern erwartete ihn am Landungsplatz, die liebe Frau Kristine. Segelfoß hatte schon größere Reisende als ihn gesehen. Engländer, die den Erdball durchstöberten, Prinz Bonaparte, der nach Spitzbergen reiste. Einmal kam auch der Staatsminister, und er tat sehr wichtig, ja, er tat, als interessiere er sich riesig für das Leben und Streben des Volkes, und bei der Abfahrt brachte der Streber Rechtsanwalt Rasch ein Hoch auf ihn aus. Willatz Holmsen zog in aller Stille in Segelfoß ein. Wie oft schon hatte er ans Wiederabreisen gedacht, blieb aber doch immer da. Allmählich wuchs er fest.

Anton Coldevin war natürlich schon lange wieder heimgereist. Bei Herrn Holmengraa droben geht alles seinen ruhigen Gang, man sieht Mariane mit ihrem Vater nach der Mühle und wieder zurück gehen. Sie trägt einen türkischroten Mantel. Anton kehrt vielleicht bald wieder zu ihr zurück. Glück auf den Weg!

Es ist eine gefährliche und schreckliche Zeit! Willatz verschaffte sich Lehm und fing an zu modellieren   auf was verfiel er nicht alles! Es sollte eine fliegende Gestalt werden, eine Gallionfigur für den Bug eines Schiffes, großartig! Es zeigte sich auch, daß er die Kunst des Modellierens keineswegs vergessen hatte, er war sogar noch geschickter darin, als in seiner Kindheit in England, wo er das Modellieren gelernt hatte. Aber es war doch recht schwierig, Gallionfiguren zu machen. Willatz griff zu seinem Zeichenmaterial, nahm Pinsel und Tuben vor   warum auch nicht! Seine Mutter hatte auch gezeichnet, und von ihr hatte er's gelernt. Dann spielte er wieder. Dann setzte er sich eigenhändig goldene Knöpfe an seine Weste und trug sie, sich selbst zur Ehre und zum Andenken an seinen Vater, von dem er sie erhalten hatte. Jedenfalls war es ein Genuß, goldene Knöpfe auf der Brust zu tragen, und Willatz trug sie in seinen Stuben in der Ziegelei, ja, er trug sie sogar, wenn er zu seinen Holzfällern in den Wald ging.

Da standen Aslak und Konrad und fällten Holz, und wenn Willatz vorbeiging, grüßten sie. Das hätte noch gefehlt, daß sie das vergessen hätten! Willatz sprach nicht viel mit ihnen; aber er sah ihrer Arbeit mit festen grauen Augen zu und sagte seine Meinung. Weiß Gott, was diese beiden Burschen ursprünglich veranlaßt hatte, Arbeit bei Willatz Holmsen zu suchen, ob sie ihm schaden oder sich für irgend etwas rächen hatten wollen! Aber als sie einige Zeit dagewesen waren, gefiel es ihnen, und nachdem sie im Wald Holz gefällt hatten, blieben sie immer wieder da und erhielten neue Arbeit auf dem großen Gut. Sie kauften ihre Lebensmittel nicht mehr im Laden, je nachdem sie gerade Geld besaßen, nein, sie hatten ihr ordentliches Essen, gute Betten und reine Wäsche, sie erholten sich zusehends und wurden seßhaft.

Jeder hat seine Sorgen. Willatz lief mit goldenen Knöpfen umher, arbeitete wie ein Sklave und wurde mager vor Kummer und Leid. Du wirst sehen, ich bringe es nicht weiter als bis zur Mittelmäßigkeit, dachte er zuweilen. Er trug es tapfer, trug es wie ein echter Holmsen. Nun gut, es wollte kein Ende nehmen, die Mittelmäßigkeit setzte sich bei ihm fest, ging ins Blut über, aber Willatz gab nicht nach. Das fehlte gerade noch! Draußen auf dem Hof konnte er tun, als interessiere er sich für das Vieh, für die Hühner. Es wäre Schwachheit gewesen, alles andere über einem Musikstück zu vergessen. Oft betrachtete er den Hahn, den herrlichen Kampfvogel mit einem Messer an jedem Bein. Sieh, da erfaßt ihn die Liebe; er schleift mit den Flügeln, wirft sich in die Brust, tänzelt seitwärts, ist ganz benommen und stolpert beinahe   o, was ihm alles einfällt! Aber dann ist er wieder der Herrscher und schreitet wie ein Gott über den Hof. Ja, ein Hahn! Es ist, als stolziere er mit einer Blume im Knopfloch einher.

Willatz hätte auch mit Blumen gehen können, mit Rosen oder Nelken. Er kehrte in seine Ziegeleistuben zurück und spielte, raste und ächzte wie ein Gaul. Sollte es bei ihm nicht auch einmal zu einem Ausbruch kommen? Womit füllte er seine Tage aus? Mit Nichtigkeiten. Hier und da ein Messer, nie ein Schwert, ein Schwall von Klängen, aber nie eine Stimme. Saubere Arbeiten. Er ging dreimal nacheinander zum Spiegel und betrachtete sich, um seiner Sache sicher zu sein: ja, er hatte ein graues Haar, einige graue Haare. In so jungen Jahren war sein Vater nicht grau geworden. Anton Coldevin hatte auch noch kein graues Haar. Glück zu, wenn er wieder zu ihr zurückkehren sollte!

Bitte, kommt zu Tisch!   Danke, ich komme bald. Nein, ich komme nicht. Laß mich allein.

Was ist das? Unzählige Male hatte es ihn betrogen   jetzt kam es! Die Wogen ergriffen ihn. Es war Abend, aber für seine Augen war es ein Sonnenaufgang, der Himmel begann Gold auszugießen, und die Erde erglühte darunter. Die Wogen, die Wogen! Lange genug haben wir gewartet, aber nun dürfen wir nicht klagen, durchaus nicht klagen und Wasser in den Augen haben und zittern. Das dürfen wir nicht  

Das strömt und strömt aus einer übervollen Seele, es strömt und strömt. Wie ein Blinder sitzt er da, und es wird ihm von außen dargereicht, und er schreibt es nieder in hellem Licht. Er schreibt, schreibt, schreibt. Zuweilen schlägt er heftig ein paar Töne an, dann schreibt er wieder, summt mit, die Kehle wird ihm eng, er spuckt aus, schreibt. So geht es fort, Stunden schwinden, ach, diese Stunden in den Wogen! Wieder eine Kantate, ein Lied, Tanzmusik? Nein, die Oper, o Gott, das Meisterwerk! Das ist ein Ausbruch, wie er noch nie einen erlebt hat. Vielleicht war es doch gut für ihn, daß die Eifersucht so lange in ihm getobt hatte.

In den Morgenstunden versiegte es sachte; die Lampen sind ausgebrannt, er wankt durchs Zimmer und bläst sie aus. Dann sinkt er aufs Sofa und schläft mit dem Gesicht auf den Armen.

Guten Morgen! Wollt Ihr nicht zum Frühstück kommen?   Nein, danke. Geh nur wieder, ich komme später.

Er ist noch nicht fertig, gottlob noch nicht fertig! Mit einem Blick auf die Arbeit der Nacht nahm seine Seele einen neuen Aufschwung. Es kam wieder über ihn, Töne aus einem unbekannten Reich von Klängen, sie kommen zu ihm, wie von einer Insel, sie umbrausen ihn, verschlingen ihn   die Wogen. Und so ist es heute wieder, sie strömen über ihn hin, zügellos, verschwenderisch, sie beengen ihm die Brust immer mehr, reichlicher fließen seine Tränen, er wirft sich auf den Boden und schreibt anbetend, es strömt und strömt, es tut gut  

Bitte schön   wenn Ihr etwas zu essen haben wollt.   Danke, stell es dorthin!

In einigen Tagen hatte er alle Schwierigkeiten überwunden und sein Werk mit der Woge erfüllt. Er lebte ganz für sich in einer ungeheuren Höhe über der Erde, zehrte nur von sich selbst, saugte sich selber aus. Ab und zu ein wenig Schlaf, eine Mahlzeit in völliger Gedankenlosigkeit, alles verschlingend, was in den Schüsseln war   unbezähmt und poesieberauscht in seinem Innern. So ging es einige Tage, dann glitt die Woge langsam von ihm ab.

Aus der tiefsten Unfruchtbarkeit und Erniedrigung war es kopfüber hineingegangen in die Herrlichkeit! Er empfing und formte in einem Guß.

Jung-Willatz   seine Vorfahren hatten Diener, die ihnen morgens beim Anziehen halfen   Jung-Willatz brauchte keine Hilfe, er schlief in seinen Kleidern. Und besser hat noch nie jemand geruht, als ein Künstler, der nach einem glücklichen Tage auf seinen eigenen Armen in den Schlaf sinkt.

Jetzt werde ich bald abreisen, sagte er. Aber das soll niemand wissen, als du und der Knecht Martin.

Pauline hatte auch niemand, dem sie es hätte sagen können. Sie sah ihn an mit ihrem süßen, ängstlichen Gesicht, und ihre Augen wurden samten. Ach, wollt Ihr wieder abreisen!

Seinen Knecht Martin wies er an, Aslak und Konrad den ganzen Winter Steine brechen zu lassen. Im Frühling wolle er bauen, einen Anbau an den Stall, einen Pavillon im Garten, einen Speicher   große Pläne. Wie reich er doch war, der junge Willatz Holmsen!

Pauline sah ihn nach dem Landungsplatz gehen, um sich einzuschiffen. Sie schlich sich in seine Stube und trank aus seinem Wasserglas. Dann strich sie liebkosend über einen Haken, an den er immer seinen Hut gehängt hatte. Dann schloß sie die Ziegeleistuben ab und kehrte auf den Hof zurück, zum Haushalt, der Aufsicht über die Mägde und dem Verkauf der Milch von einigen dreißig Kühen. Die kleine Pauline, die so tüchtig war.

Und Willatz stieß vom Lande ab und schaute nicht mehr darauf zurück; er war vornehm und schweigsam und hatte neue Handschuhe an. Er reiste so still und stolz ab, wie er gekommen war, kein Auflauf, kein Hurrarufen. Es traf sich sogar so günstig, daß die Schauspieler ausstiegen, die auf ihrer Rückreise nach Süden begriffen waren. Die Primadonna Lydia und Fräulein Sybille und der Künstler Max und alle die andern stiegen in Segelfoß wieder an Land, wo sie die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Und »       seiner behaarten Tatze und Branntweinfeuer aus seinem Maul  «

Theodor nahm die Truppe am Landungsplatz in Empfang und führte sie in das Hotel Larsen.

Hier hat es große Veränderungen gegeben, seit Sie bei uns waren, sagte er und erzählte sofort, daß er Alleinherrscher des Ladens sei und alles zusammen gekauft habe. Die Schauspieler hörten mit übertriebener Aufmerksamkeit zu und taten, als sei ihnen das Wohl und Wehe des Theatereigentümers von höchster Wichtigkeit. Fräulein Sybille Engel erkundigte sich noch nach Einzelheiten: Und nun werden Ihre Schwestern nicht mehr länger zu Hause bleiben?   Meine Schwestern? Nein, die sind wieder zurück in ihre Stellungen gegangen. Und ich selber, sagte Theodor, habe einige Wochen im Hotel gegessen, bin aber jetzt wieder in mein Haus gezogen. Denn nun gehört alles mir.   Ach, wirklich, alles gehört jetzt Ihnen! rief das Fräulein. Aber das ging wohl schon ein bißchen zu weit, denn Herr Max sagte sonderbar spitz: Willst du dir wieder den Fuß übertreten, Sybille? Fräulein Klara, die Pianistin, fragte nach Baardsen.

Ja, wo war Baardsen? Hatte er sich am Landungsplatz unter den eleganten Reisenden nicht sehen lassen wollen? Natürlich kam er aber sofort ins Hotel und meldete sich bei Fräulein Klara. Großes Wiedersehen und warme Freundschaft, Reiseschilderungen aus Hinternorwegen, Erlebnisse, lustige Abenteuer auf dem Dampfschiff und in den Gasthäusern, künstlerische Triumphe in den Städten. »Über die Gartenmauer« sei ein schönes altes Stück aus dem Schwedischen; sie hätten es gründlich verbessert und neue Lieder eingelegt. Max sei ein Meister im Dichten. »Über die Gartenmauer« nähme ein trauriges Ende; die Liebenden bekämen einander nicht darin, nein, sie ersteche ihn, töte ihn, und das gerade eigne sich so ausgezeichnet für Fräulein Klara, sie sagte, sie pfeife auf das Sichkriegen am Schluß. Sie selbst hätte ja reich heiraten können und alles miteinander.

Spielen Sie mit in dem Stück?

Natürlich. Ich habe die Hauptrolle. Ich spiele nicht nur, ich singe auch und begleite mich selber auf der Gitarre. Das kann keins von den andern, und deshalb hat auch keins eine so ausgezeichnete Kritik bekommen wie ich,   sehen Sie, hier ist sie, wenn Sie sie einmal durchlesen möchten. Natürlich muß es uns nun auch in Segelfoß glücken, es ging ja im Sommer so großartig. Was meinen Sie, Herr Baardsen?

Sonderbarer Baardsen, dummer Baardsen, was hatte er auch von Fräulein Klara erwartet? Merkwürdig, das letztemal hatte sie doch einen Willen gehabt, da hatte sie sich im Ärger entschlossen, eine Kunst zu verlassen, in der sie keine Größe werden konnte   jetzt war der Ärger vorbei, war dadurch besänftigt worden, daß man ihr eine Rolle in einem obskuren Singspiel gegeben hatte. Singen   ja konnte denn Fräulein Klara singen?

O, es wird schon gut gehen, sagte er.

Das muß es auch. Was sollte sonst aus uns werden? erwiderte Fräulein Klara lachend. Wir haben kein Geld mehr! Zwar haben wir viel verdient, aber in großen Zwischenräumen. Wenn wir Geld hatten, haben wir uns auch dies und jenes gekauft, es wurde kalt, und wir brauchten Mäntel. Ich mußte außerdem auch noch einen Morgenrock haben, wollen Sie ihn sehen? Es ist ein Schlafrock mit einer dicken seidenen Schnur um die Mitte  

Baardsen sagte: Willatz Holmsen ist vorhin mit dem Schiff abgereist. Er soll in der letzten Zeit Tag und Nacht komponiert haben.

So, sagte Fräulein Klara. Ich interessiere mich übrigens nicht mehr für Musik, ich sehe ein, daß es keinen Zweck für mich hatte. Jetzt interessiere ich mich nur noch für die Schauspielkunst. Hören Sie mal, Herr Baardsen, das war doch natürlich nur Spaß, was Sie im Sommer über die Schauspielkunst sagten? So antworten Sie doch!

Ich erinnere mich gar nicht mehr daran. Aber es ist durchaus nicht unmöglich, daß ich im Sommer über die sogenannte Schauspielkunst gespottet habe.

Mein Gott, was sind Sie ekelhaft! Verzeihen Sie, daß ich es sage!

Wo sind die andern? fragte Baardsen.

Sie sind ins Theater gegangen, Herr Jensen wollte ihnen ein Grammophon und ein Klavier zeigen. Wollen Sie die andern aufsuchen?

Und die Pianistin legt keinen Wert darauf, ihr Klavier zu prüfen?

Nein, Sie haben es ja gehört. Aber warten Sie, bis ich mich angezogen habe, dann gehe ich mit Ihnen. Kann ich denn mit solchen Überschuhen ausgehen?

Was ist denn damit?

Sie sind nicht mehr neu und blank, ich muß andere haben. Ich versichere Ihnen, die Leute sehen ganz anders nach mir, seitdem ich mir in Tromsö so flotte Kleider gekauft habe. Wissen Sie was, Herr Baardsen, Ihr Hut ist skandalös. Verzeihen Sie, daß ich es sage.

Baardsen lächelte: Hätte ich einen von meinen neuen Hüten genommen, so hätte ich meinem alten nicht mehr in die Augen zu sehen gewagt.

Tragen Sie keinen Überziehen?

Nein.

Aber im großen ganzen sollte ein Stationsvorsteher ordentlich angezogen sein.

Liebes Fräulein, so fein wie der Oberkellner in dem großen Hotel sieht man doch nie aus.

Da kommen gewiß die andern zurück, sagte Fräulein Klara und streifte die Überschuhe wieder ab. Die kleine Dame hatte nun Angst, den Stationsvorsteher gekränkt zu haben. Sie ging auf ihn zu und fing an, ihm seinen Rock zuzuknöpfen, indem sie munter plauderte: Mein Gott, was sind Sie herrlich groß, ich reiche Ihnen kaum bis hierher, sehen Sie einmal! Wenn ich nur wüßte, warum Sie sich hier in Segelfoß begraben! Wie lange sind Sie nun schon hier? Sehen Sie einmal, so muß ein Schlips sitzen, schauen Sie doch in den Spiegel! Nein, es waren doch nicht die andern, die kamen. Aber wir gehen nicht aus   nicht? Hören Sie, Herr Baardsen, wollen Sie einmal richtig lieb gegen mich sein? Ich habe einmal bemerkt, daß Sie einen Dolch besitzen, einen, der beim Stoß ins Heft zurückgleitet. Wollten Sie mir den schenken?

Gewiß, mit Vergnügen.

Danke. Sie sind doch der allernetteste Mann auf der ganzen Welt! Was ich damit will? Ich muß ja im Stück einen erstechen, und da wäre es doch großartig, wenn ich den Stoß so mit voller Kraft führen könnte. Ach, »Über die Gartenmauer« ist ein tiefes Stück!

Fräulein Klara fing an, eine Melodie zu summen, nahm ihre Gitarre und sang. Und als sie aufhörte, sagte sie: Das kann keins von den andern! Wie gefällt es Ihnen, Herr Baardsen?

Schweigen.

Ich bezweifle nicht, daß Sie besser spielen als singen, sagte Baardsen dann. Und ich bezweifle auch nicht, daß Sie selbst das ganz gut wissen. Sie betrügen sich selbst.

Ach, jetzt sind Sie wieder abscheulich! Ich will auch Ihren Dolch gar nicht haben. Aber sagen Sie, singe ich wirklich so erbärmlich? Nun so glauben Sie doch wenigstens, daß es schön ist, daß es angeht, glauben Sie es doch, hören Sie! Natürlich kann ich nicht singen, aber sagen Sie es doch nicht den andern, versprechen Sie mir das! Sonst nehmen sie mir die Rolle wieder, und es ist eine so großartige Rolle.

Dann kamen endlich die andern Schauspieler, und wieder wurde großes Wiedersehen gefeiert. Und Fräulein Sybille bezeugte dasselbe Interesse an dem Wohl und Wehe des Stationsvorstehers, wie sie es für Theodor an den Tag gelegt hatte. Wie geht es Ihnen? Wie schön, daß wir uns Wiedersehen!   Der Direktor befragte Baardsen über die Aussichten für die Vorstellung. Ob er es für möglich halte, daß eine erstklassige Vorstellung hier zweimal gegeben werden könnte?

Baardsen war sehr in Verlegenheit, denn niemand kannte die Theaterwelt von Segelfoß weniger als er. Aber, sagte er, die Schauspieler seien ja so gut eingeführt, die Aussichten müßten als recht gut bezeichnet werden.

Frau Lydia, die Primadonna, holte ihr Nähkästchen und sagte: Entschuldigen Sie, aber ich muß einen Riß stopfen! Sie öffnete das Kästchen, und zwischen all dem Nähzeug kamen auch ein paar Zehnkronenscheine zum Vorschein.   Gott, was bist du reich! rief der Kassenwart der Truppe; es ist nur gut, daß wir es wissen!   Soll ich dich einmal fragen, wo du all das Geld her hast, Lydia? sagte Fräulein Klara.   Ja, tu es nur! ermunterte sie der Künstler Max.   Die Primadonna warf Fräulein Klara einen verächtlichen Blick zu und erwiderte, ohne jede Spur von Verlegenheit: Warte, bis du die gleiche Gage bekommst wie ich, Freundchen, dann hast du auch einmal ein paar Zehnkronenscheine übrig!   Da nickten sich alle übrigen verständnisvoll zu, denn sie kannten den alten Kniff der Frau Lydia, wenn Fremde zugegen waren. Aber Fräulein Klara begnügte sich nicht mit Nicken, sie gab es der Primadonna auch zu verstehen   ohne alle Scheu hielt sie der Primadonna ein Notenblatt unter die Nase und sagte: Sieh her, du kennst ja nicht einmal diese unschuldigen Zeichen und hast noch niemals eine Stimme gehabt!   Kinder, prügelt euch nicht! ermahnte der Direktor.

Fräulein Sybille kümmerte sich nicht um die Händel, ihr war es ganz gleichgültig, wer sich gerade wieder prügelte. Diese Dame kümmerte sich mehr um sich selbst. Sie war zufrieden, wenn sie sich auffallend kleiden, putzen und schminken konnte; nun hatte sie auf dem Weg zum Theater zwei weiße Möwenfedern gefunden, die steckte sie sich ins Haar.

Der Telegraphenamtsvorsteher ging ärmer aus dem Hotel, als er gekommen war. Er war dorthin geeilt, etwa wie ein Jüngling, wie ein Knabe, ja sogar noch leicht erregt von der Verliebtheit im Sommer. Aber jetzt war er kein Jüngling mehr, kein Brausekopf   wo war der frohe, berauschende Zustand geblieben? Und sofort begann auch sein Hirn, sozusagen, um sich zu schlagen, zu philosophieren, zuweilen im hohen Stil wie zum Beispiel: Elendes Leben! Tiefe Erniedrigung! Dann wieder im niederen: Schöne Klara, du spielst besser als du singst, und du weißt selbst, daß du singst wie der Wind durchs Schlüsselloch. Wolltest du wirklich wissen, ob ich darüber eine bestimmte Ansicht habe? Schöne Klara, keine bestimmte Ansicht, aber eine Ansicht überhaupt, nicht nur darüber, sondern auch über dich und die andern alle   beweise mir, daß sie verkehrt ist! Ihr seid Gaukler und werdet es auch bleiben. Müssen das nicht auch einige sein? Gut. Müssen nicht auch einige Menschen verschuldet sein? Gut. Euer Handwerk verwischt den Geschlechtsunterschied zwischen dir und dem Mann, ihr sprecht und handelt wie auf gleichem Fuß, obwohl ihr nicht gleich seid, das ist Kunst und Verirrung. Der Steinbock ist durch den Raum von der Geiß getrennt. Fräulein Sybille ist gewiß geschlechtslos, Künstler Max hat wahrscheinlich etwas von beiden Geschlechtern. Er ist ein armseliger unbrauchbarer Kerl in Männerkleidern. Und was bist du?

Schöne Klara, du hast mir meine ehemalige Jacke zugeknöpft und den Staub davon abgeblasen; das hat gar nichts zu sagen, denn du bist gewohnt, daß ein Herr auch Nutzen von seiner Liebenswürdigkeit haben muß, und du hast erwartet, daß ich, wie das letztemal, wollen sollte. In keiner deiner Bewegungen war eine Zurückweisung; aber wo war das Überschäumen? Meinst du, das sei überschäumend, wenn du dich mit Künstler Max auf den gleichen Fuß stellst und unanständige Reden führst und dich leichtsinnig beträgst wie er? Du irrst, das ist Unfähigkeit. Du taugst nicht zur Wollust, du tust nur so. Schöne Klara, ich wende mich von dir ab, weil du talentlos bist, ich verwerfe dich, dein Spiel ist ein Verspielen. Wenn du auf die Straße gehst, so ist es nicht, um ein Ziel zu erreichen, sondern nur, um deine Füße schön auswärts zu setzen, um die Kenner zu fragen, ob sie auch genügend auswärts gestellt seien. Du prahlst mit einem Leichtsinn, den du nicht hast, du bringst jedem wahren Mann nur Enttäuschung. Man muß die Wollust nicht auf dem Markte zeigen. Wollust ist heilig, Kuß und Umarmung haben in keiner Beziehung einen Zusammenhang mit der Straße.

Warum halten die Leute euch Schauspieler für schamlos? Die Leute sind Tiere. Ihr seid nicht schamlos, ihr zittert vor Scham darüber, daß ihr talentlos seid. Wenn ihr euch die Liebesleidenschaft immerfort vorlügen müßt, so geschieht es um der Kunst willen und auch für euch persönlich der heutigen Vorstellung wegen. Seht, deshalb schämt ihr euch, wie es recht und billig ist! Ihr Damen tut, als blicktet ihr tief herab auf das Hauswesen; ihr heuchelt Gleichgültigkeit gegen die geringe Achtung, die ihr genießet; ihr seid gar keine oder sehr schlechte Mütter, gar keine oder äußerst mangelhafte Erzieherinnen   mit jedem Tag sinkt ihr tiefer hinein in die Scham über eure Unfähigkeit. Das ist die Wahrheit. Die Schauspieler schämen sich mehr als die Leute, die eine Viehherde sind. Das Vieh hat seine Fähigkeiten und schämt sich nicht.

Schöne Klara, soll ich euch entschuldigen? Nicht wahr, wir werfen den Kopf in den Nacken und haben das gar nicht nötig! Ihr habt ja gehört, daß auch das künstlerisch ist und zum Spiel gehört. Wer ist dein Vater, wer deine Mutter? Stammt ihr Schauspieler von Menschen ab, die verjagt wurden und sich verirrt haben? Ihr seid selten schön und werdet rasch häßlich. Ihr sucht alle Mängel des Körpers mit erklügelten Gewändern, die dann auf die Gesellschaft abfärben, zu verbessern und zu verhüllen. Der Putz herrscht, und Venus wird abgesetzt. Venus? Möge die Göttin mir verzeihen, daß ich sie hier nenne! War Venus eine Gauklerin? Wäre sie nicht eiligst den Brettern entflohen, wenn sie dem Theaterpöbel Leichtfertigkeiten hätte vorführen sollen? Half sie sich mit allerlei Kunstgriffen? Sie war heilig.

Ich entschuldige dich, schöne Klara. Du gehörst zu einer wandernden Truppe, ihr müßt in billigen Wirtshäusern leben und dürft eure Mittel nicht überschreiten, ihr müßt tun, als machtet ihr glänzende Geschäfte, als beruhe die Unordnung mit den Freibilletten ausschließlich auf Freigebigkeit; ihr müßt bei allen Menschen und in jedem Kramladen Reichtum vorheucheln. Ich hätte gerne dieses seidene Mieder genommen, aber die Farbe gefällt mir nicht!   Legen Sie mir diesen Bisampelz zurück, übermorgen bekommen wir unsere Gage ausbezahlt! Elendes Leben  

Verdient ihr es denn besser? Was habt ihr gelernt? Ein wenig durch das Schicksal, ein wenig mehr vielleicht durch Schulkenntnisse und noch etwas mehr vielleicht durch Erziehung   ein Jahrmarktsgaukler kann wenigstens brennendes Stroh essen und Dolche werfen. Ihr seid von irgendwoher zum Theater gekommen, ohne Voraussetzungen oder mit irgendwelchen Voraussetzungen: Talent, Ehrgeiz oder Not. Talent? Euch zu zeigen, zu schauspielern. Im Altertum, zuzeiten Pharaos oder des Großmoguls, war es ein Handwerk für Sklaven, heutzutage ist es eine Tüchtigkeit, nicht so gewöhnlich wie Schulkenntnisse und Erziehung, ja in gewissen Städten und Gegenden ist es eine Seuche, die kein Gott und kein Teufel einzudämmen vermag.

Und dann seid ihr am Ziel   in dem Hause mit den drei Wänden. Kannst du dir nun vorstellen, schöne Klara, wie das Haus sich darstellt?

Im Schauspiel herrscht Geschwätz und Gefuchtel mit den Armen, aber kein feiner Mensch schwatzt und fuchtelt, das geschieht nur in weniger feinen Augenblicken. Das Feinste, was in dir ist, sprichst du nicht aus, du denkst es wohl, aber du verschweigst es. Wenn du den Theaterpöbel lachen hörst, so kannst du sicher sein, daß du ein Gezappel mit den Füßen verübt hast, über das kein Mensch in einem Hause mit vier Wänden lachen würde, sondern das von allen etwas verlegen entschuldigt würde. Oder setz dich selber als einsamer Zuschauer hin, sieh dir das Gezappel eines andern Mitgauklers an und sage, ob du darüber zu lachen vermagst. Die Beleuchtung, die Menschenmenge und die Musik, sie alle machen das Theater zu einem Versammlungsort, sie allein machen den naivsten Zeitvertreib zu etwas Unentbehrlichem für erwachsene Menschen. Die gemachte Ergriffenheit vor andern, das Heucheln vor andern, als verstündest du etwas von Kunst, das ist's.

Und verstehst du etwas von Kunst? Wie, wenn dein Verständnis ganz einfach für ungültig erklärt würde? Da kommen die Kritiker! Sieh sie an, wie sie hereinkommen! Sie sollen entscheiden, sollen diese Pöbelversammlung leiten und feststellen, ob Fräulein Sybille sich richtig geschneuzt und der Künstler Max kunstgerecht gegähnt hat. Nachher setzen sich die alten Männer hin und sprechen sich schriftlich über diese Probleme aus. Und der eine sagt ja und der andere sagt nein, aus lauter Sachverständnis.

Im Zwischenakt geht's in den Erfrischungsraum. Wir haben es nötig, wir fühlen uns schwach, es wird spät. Und nun werden wir beschaut und beschauen wieder. Der Pöbel verneigt sich vor dem Pöbel, heute wie gestern abend; wir besehen die Kleider und hören die verschiedenen Ansichten. Soll das Stück stehen oder fallen?

Pharao und Großmogul   sie waren Tyrannen aus Überzeugung   der Theaterpöbel ist Tyrann aus Naivität. Er schreibt in die Segelfosser Zeitung und liest es dann mit Wonne.

Die sogenannte Schauspielkunst ist Verstellung nach Vorschrift. Sie ist eine Zwischenform, die nicht zur Vervollkommnung der Dichtung entstanden ist, sondern an ihr zehrt. Die Schauspielerei feiert ihre höchsten Triumphe in Machwerken von Spezialisten, die mit dem Handgriff geboren wurden, und sie sucht ihre Berechtigung darin, daß sie einen Inhalt in die kümmerlichsten dieser Machwerke legt, das heißt, daß sie vertieft und erklärt, was keiner Erklärung wert ist. Ihre einzige mögliche Aufgabe sollte die Schauspielkunst im Possenstück suchen: nämlich den Pöbel zum Weinen zu bringen, anstatt daß er dasitzt und schwätzt.

Sind wir einig? Hast du dir eine bestimmte Ansicht darüber gebildet, ob meine Ansicht verkehrt ist? Schöne Klara, sprich dich einmal aus!

Fräulein Klara hätte wohl darauf antworten können: wenn Baardsen jener Baardsen sei, der Sohn des Hauses Baardsen, der es zu nichts gebracht hatte, dann sei jede Antwort überflüssig. Dieser habe sich als Schauspieler versucht, aber kein Talent gehabt, er habe Stücke geschrieben und sei durchgefallen! Ja, Fräulein Klara konnte weiterspielen und ihre Truppe ebenso.

Aber ach, Segelfoß war keine Heimat der Künste und keine Stadt für wandernde Truppen mehr! Konnte irgendeine Seele dies fassen, die Künstler waren doch die gleichen und »Über die Gartenmauer« war ein so schönes Stück! Nur einige vereinzelte Zuschauer kamen in Theodors Theater, die schwatzten laut, riefen einander spöttische Bemerkungen durch den großen Saal zu, man könne sich da oder dahin setzen, ja eine Bank für sich allein einnehmen. Und am Schluß der Vorstellung sprachen sie wieder laut und sagten, dies sei das schlechteste Machwerk, das sie je gesehen hätten, ärgerlich gingen sie davon.

Woran lag das? Die Truppe hatte ihre Anzeige ins Blatt gesetzt, der Redakteur hatte einen Artikel geschrieben, Theodor hatte geflaggt, sowohl auf seinem Laden als auf dem Theater. Der Schuhmacher Nils saß pünktlich auf seinem Platz und verkaufte Eintrittskarten. Und die Truppe selbst hatte ihr Bestes getan. Sie hatten sich überall gezeigt, die Herren mit dem Hut schief auf dem Kopf und die Damen mit neuen Mänteln. Und trotzdem! Sollte Segelfoß keine zwei Theaterabende in einem Jahr ertragen können? Oder sollte dieses zweite Stück nicht so recht geeignet gewesen sein? Es ging traurig aus, der Held war ein ausgezeichneter Mensch durch und durch, wurde aber durch ein Mißverständnis von seiner Liebsten erstochen, und da johlte die Segelfosser Jugend und ergriff Partei für ihn. Diesmal saß kein Rechtsanwalt Rasch und kein Doktor Muus da, um sie im Zaume zu halten; es half nichts, daß die Liebste nach vollbrachter Tat großartig jammerte und mit Tränen auf den Wangen sang   die jungen Burschen fühlten sich betrogen, sie hatten nicht bezahlt, um einer Niederlage beizuwohnen.

Am nächsten Tag kam der Telegraphenamtsvorsteher Baardsen ins Hotel und fand die ganze Gesellschaft sehr niedergeschlagen; nur der Künstler Max war etwas munterer, aber nur aus Frechheit.

Wir halten ein kleines Fest! sagte Baardsen. Die Verantwortlichen lächelten wehmütig zu diesem Vorschlag, die andern aber, die keine Verantwortung dabei hatten, stimmten zu und klatschten in die Hände. Und als Baardsen wegging und mit Wein für die Damen und Whisky für die Herren zurückkam, währte es nicht lange, bis alle miteinander etwas weniger Verantwortung fühlten. Wenn das Fest nur so lange dauert, bis das Schiff kommt und uns von diesem unheimlichen Ort wegführt! sagte der Direktor. Aber das Schiff kommt nicht vor morgen abend, sagte der Kassenwart.

Stunden vergingen, lustige Stunden. Baardsen, der rettende Engel, holte eigenhändig noch mehr Branntwein, der wohl vom Ladentheodor geliefert wurde, denn für seine Firma war jetzt nichts mehr unmöglich. Der Kassenwart brach los: Hätten wir statt all diesem lieber das Geld!   Es würde doch nicht genügen, versetzte ein anderer, wir würden doch zu kurz kommen.   Aber der Direktor war vernünftiger und sagte: Wir wollen es doch so einrichten, daß wir auch ein andermal wieder nach Segelfoß kommen können.   Nein, wir wollen nie wieder hierher kommen! wurde gerufen.   Doch, wir wollen wieder hierher und den Telegraphenamtsvorsteher wiedersehen! wurde gerufen, Baardsen hoch! wurde gerufen.

Baardsen war unveränderlich freigebig und ruhig, ja wie ein Vater für seine Kinder, wie eine Vorsehung. Als er eine neue Flasche auf den Tisch stellte, sagte er: Es soll hier alles mit Flaschen vollgestellt werden; ich will Sie mit Branntweinstaschen gegen den Zug schützen!

Ach, der Baardsen, der lustige Teufelskerl! Er hätte nicht besser sein können, wenn er mit Muschelschalen und Papageifedern ums Haupt geschmückt gewesen wäre.

Natürlich war jetzt niemand mehr bekümmert. Frau Lydia erinnerte sich, daß sie Kardialgie hatte, und holte ihre Tropfen, und Fräulein Sybille holte ebenso ungeniert ihre Eisenmixtur, alles war eitel Freundschaft; sie warfen Pastor Lassen an der Wand Kußhände zu und erhoben die Gläser zu ihm, sie tranken einander zu und vergaben einander alle möglichen Beleidigungen.

Baardsen setzte sich abseits mit Fräulein Klara auf eine Weise, als sollte es für immer sein, als würde er nun endlich einmal die richtige Zusammenkunft mit ihr haben. Das erzürnte den Künstler Max und brachte ihn beinahe außer sich vor Eifersucht. Seht, der Künstler Max war nicht normal, ihm selbst fehlte es an Kräften, aber er war eifersüchtig wie ein Eunuch auf alle! Jetzt sagte er gerade heraus, der Telegraphenbeamte werde sich um einen Kopf kürzer lieben, wenn er sich nicht bald wo anders hinbegebe! Fräulein Klara schrie auf: Geh weg, Max! Ich kann deine ekelhaften blauen Hände nicht ertragen!   So? fragte Max drohend.   Das geht uns allen so, erklärte Frau Lydia und erklärte Fräulein Sybille. Da stand Max auf, blaß wie der Tod und ging hinaus.

Kurz gesagt, alles war groß angelegt und wurde prächtig ausgeführt. Baardsen ließ eine Mahlzeit für die Gesellschaft kommen, und als sie gespeist hatten, tranken sie wieder. Baardsen war und blieb unentwegt derselbe. Er hatte viele erhabene und seltsame Redensarten auf den Lippen, er setzte Fräulein Klara mit allerlei zarten und gefühlvollen Bemerkungen in Erstaunen; so sagte er: Es juckt meinen Mund nach dem Ihrigen, ich muß mich in die Lippen beißen, um ihn im Zaum zu halten. Wie ist's mit Ihnen, Fräulein Klara? Ist kein Fortschritt in der Liebe, so ist das Rückschritt, so lautet das Gesetz der Liebe.

Dann wurde ein Brief gebracht, mit Feder und Tinte geschrieben, der war von dem Künstler Max. Er fragte an, ob er zur Gesellschaft zurückkehren dürfe. Baardsen zog seinen Bleistift heraus und wollte antworten.   Nein, nicht mit Bleistift! wehrte Fräulein Sybille, Max nimmt so etwas genau.   Ist ein Bleistift nicht gut genug, ein Tintenstift?   Ein Tintenstift, ausgezeichnet! lachte der Kassenwart. Und antworten Sie, daß er geduldet werden solle, wenn er wiederkehrt!   Nein, das nicht, widersprach Fräulein Sybille, das hält ihn nicht ab.   Ich meinte, Herr Max nehme es genau? bemerkte Baardsen.   Schreiben Sie, ich sei nicht mehr anwesend, sagte Fräulein Klara.   Meinst du denn, er würde dich vermissen? riefen die beiden anderen Damen und fingen an, sich um den unbrauchbaren Mann zu streiten.

Dann kam er wahrhaftig selbst zur Tür herein, verbeugte sich und fragte, ob es erlaubt sei?   Selbstverständlich! riefen alle zusammen.   Ja, aber du, Klara, du hast mich zur Türe hinausgejagt.   Habe ich mit dir gesprochen? erwiderte Klara. Kein Wort. Es gibt noch viele außer dir hier, Max. Setz dich! Hast du etwas zu essen bekommen?

Aber jetzt wurde das Fest immer ausgelassener, und es wurde auch immer später. Frau Lydia nahm lachend Fräulein Sybilles Medikament ein, und diese Frau Lydias, und beide hatten noch niemals solche Linderung empfunden. Da wurde der Direktor zum letztenmal vernünftig und sagte: Führt euch so auf, daß wir ein andermal wiederkommen können, das bitte ich mir aus! Und da wurde es Frau Lydia übel. Sie hatte ursprünglich daran gedacht, in Ohnmacht zu fallen; aber im letzten Augenblick mußte sie einen Anfall von Übelkeit daraus machen und lief zur Tür hinaus.

Die andern blieben zurück, Baardsen in erhöhter und zufriedener Stimmung. Er sprach davon, sich Fräulein Klara wie eine teuere Stickerei auf Samt zu eigen zu machen, er sprach davon, daß sie ihn mit Blicken betrachte, vor denen er vergehen müsse   ah! Es wurde wieder zu viel für den armen Max, und er fletschte gegen die beiden die Zähne.

Da fiel Fräulein Klara wieder der Dolch ein, die Zauberwaffe. Vergessen Sie morgen den Dolch nicht, Herr Baardsen! sagte sie.   Nein, ich werde ihn nicht vergessen.

Der Direktor wollte aufbrechen. Laßt uns dem Telegraphenamtsvorsteher für diese unvergeßliche Stunde danken. Also vielen Dank und Hurra!

Ich gehe noch nicht, erklärte Baardsen.

Der Künstler Max stöhnte vor Eifersucht und fragte: Haben Sie nicht gehört, daß der Herr Direktor Sie aufgefordert hat, zu gehen?

Allein Baardsen blieb in seiner ganzen Größe ruhig da sitzen, wo er saß. Es war, als erwarte er von jetzt an sehr viel, als hoffe er auf eine angemessene Zügellosigkeit in irgendeiner Richtung.

Der Künstler Max rollte ratlos die Augen; er wandte sich ohne weiteres an Baardsen selbst und fragte ihn: Wir sitzen hier zu sieben, Sie sind einer allein, können Sie uns nicht einen guten Rat geben, wie wir Sie los werden?

Baardsen blieb sitzen.

Kommen Sie, wir machen noch einen Spaziergang! sagte Fräulein Klara zu ihm.

Baardsen stand sofort auf und ging mit ihr.  

So endete auch diese Nacht, und ein neuer Tag brach an, ach, ein erbärmlicher Tag mit Kopfweh und vielen Sorgen! Der Ernst des Lebens trat in sein Recht, der Direktor und der Kassenwart sprachen sorgenvoll miteinander. Unheil war über die Truppe gekommen, sie saßen in Segelfoß fest, sie waren mit leeren Händen gekommen und hatten keine Rücklagen. Ach, die neuen Überkleider, die so teuer gewesen waren! Konnten sie sich hier freimachen, so bekamen sie vielleicht auf dem Schiff Deckplätze umsonst bis zum nächsten Theater.

Der Direktor und der Kassenwart gingen als Gesandtschaft zur Primadonna, entschuldigten sich wortreich bei ihr und baten um ihre zwei Zehnkronenscheine.   Keine Rede davon! erwiderte die Primadonna.   Sie ließen einige Zeit verstreichen und gingen dann noch einmal zu ihr. Womit soll dann ich selbst bezahlen? fragte die Primadonna. Und warum seid ihr so verschwenderisch, wenn ihr einmal Geld habt? fragte sie. Ich habe dich für fünf Kronen Briefmarken kaufen sehen. Ich muß an allerlei Orte schreiben, Zeitungsausschnitte beilegen und Briefmarken aufkleben, antwortete der Direktor. Aber ich habe noch für zwei Kronen übrig, die rechne ich dazu.   Die Primadonna änderte ihre Ansicht: Hier sind die Scheine! sagte sie. Reicht es nun?   Nicht ganz, aber wir wollen die andern fragen, ob sie nicht auch etwas beisteuern können.

Und die beiden Herren gehen wieder als Gesandtschaft.

Es war dem Direktor sehr darum zu tun, daß die Truppe nirgends Schulden hinterließ, damit sie ein andermal wiederkommen konnte. Elendes Leben! Die treuherzigen und hilflosen Schauspieler führten eine kindliche Sprache, sie waren wie die Hühner, die sich zusammenscharten. Man konnte sie überrumpeln und fertig mit ihnen werden; es war keine große Sache, sie betrunken zu machen und Gesichter schneiden zu lassen; aber richtig aufgestellt, hoben sie sich strahlend von ihrem dunklen Hintergrund ab. Nun saßen sie da, flickten ihre Kleider, stopften Löcher zu, betätigten sich mit Nadel und Zwirn an ihren zerrissenen Schuhen. Fräulein Sybille wollte die Truppe stützen, so gut sie vermochte. Nachdem sie mit Fräulein Klara Rat gepflogen hatte, fing sie an zu waschen und an Orten, die in die Augen fielen, feine Kragen und Unterröcke mit Hardangersäumen zum Trocknen aufzuhängen, damit die Leute einen Eindruck von der Pracht und Herrlichkeit bei diesen reisenden Künstlern bekommen sollten. Als die Gesandtschaft zu Fräulein Klara kam, knöpfte sie ohne weiteres ihr Kleid am Busen auf und zog ein altmodisches Medaillon an einer Kette hervor. Gewiß war sie der stolzen Meinung, daß dies die Rettung sei, ja, daß die Kette allein kostbarer sei als die eines Königs. Geld habe ich keines, aber ich habe dies! sagte sie. Damit übergab sie das Medaillon. Vielleicht hatte sie es daheim einmal zu Weihnachten bekommen, an einem längst verflossenen Weihnachtsabend  

Dann kam der Telegraphenamtsvorsteher Baardsen und brachte den Dolch mit. Er grüßte liebenswürdig nach rechts und links. Auch heute war er baumstark und hatte keine Sorgen, die hatte er sich offenbar schon weggeschafft. Fräulein Klara bedankte sich für den Dolch, fühlte sich aber augenscheinlich nicht aufgelegt, sich zeigen zu lassen, wie er zu behandeln sei. Wir sind in der Klemme, sagte sie. Wir können nicht bezahlen.   Kleinigkeit! erwiderte Baardsen.   Sie erklärte ihm die Sachlage, die Einnahmen seien hinter den Ausgaben zurückgeblieben, die Sache sei ernsthaft. Baardsen lächelte und sagte: Die paar Schillinge kann ja ich Ihnen leihen!   Sie schlug die Hände zusammen und rief begeistert: Guter Gott, Sie sind ja der entzückendste Mensch auf der Welt, so etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gehört! Lydia! rief sie zur Tür hinaus. Weißt du was, Baardsen rettet uns, der Telegraphenamtsvorsteher!

Baardsen holte die Geldscheine und richtete noch einmal ein Fest an   er hätte nicht besser sein können, wenn er mit Lorbeer gekrönt gewesen wäre. Die Damen küßten ihn, die Herren nickten ihm zu, das würden sie ihm bis an ihren Tod nicht vergessen, sie würden seinen Ruhm verkünden, wohin sie kämen. Es waren viele Geldscheine, mehr als nötig, und Fräulein Klara wurde so gut aufgelegt, daß sie den Dolch holte und sich dessen Gebrauch zeigen lassen wollte   geht es so? Baardsen nahm ihn in die Hand, stellte eine Feder im Heft und gab ihn ihr mit den Worten zurück: So, nun stoßen Sie mich einmal nieder!

Fräulein Klara stieß zu  

Im nächsten Augenblick floß Blut, stummes Entsetzen, Ausrufe,   laute Rufe, Geschrei und Durcheinander, Jammer  

Hatte Baardsen absichtlich den Dolch so eingestellt, daß er stach? Oder hatte er nur an der Feder herumgetastet und sie nicht ordentlich geöffnet? Er sah selbst etwas verwirrt aus, als die abscheuliche Stoßwaffe, die im Knorpel festsaß, herausgezogen wurde, dann sank er auf einen Stuhl.

Das Geschrei und das Durcheinander nehmen kein Ende. Julius erscheint. Den Doktor! sagt er. Aber ehe das Postschiff kommt, gibt es keinen Doktor am Ort. Doktor Muus ist abgereist.   Bringt mich aufs Telegraphenamt! bittet Baardsen. Er war totenblaß geworden, aber er hatte noch Geistesgegenwart genug, die Faust fest auf die Wunde zu pressen. Fräulein Klara jammerte unaufhörlich: Ich bin schuld!   Aber Baardsen gab ihr lächelnd zur Antwort: Schweig still, Kind, es war meine eigene Schuld. Ich wollte es.

Es war ein trauriger Tag. Draußen war Frost, und Baardsen bekam Eis auf seine Wunde, aber die Truppe war aufrichtig verzweifelt über den Unglücksfall. Baardsen sagte: Es hätte mein Tod sein können, aber es ist keine innere Blutung, es ist nur eine Stichwunde, die heile ich mit Lysol.   Aber Fräulein Klara war untröstlich und beschuldigte sich, sie hätte nicht so stark zustoßen sollen.   Das ist das Schlimme, daß Sie nicht besser getroffen haben, erwiderte Baardsen. Das nächstemal, bitte, etwas mehr zur Seite!   Daß Sie noch spaßen können!   Ich spaße nicht!   Wollten Sie wirklich, daß ich Sie töten sollte? fragte die Schauspielerin.   Ja! sagte Baardsen.   Aber weshalb denn? Ich verstehe das Ganze nicht.   Ich wollte von Ihrer Hand fallen.

Das hörte die ganze Truppe mit an, und die Damen Lydia und Sybille fürchteten, der Kranke habe angefangen zu phantasieren.

Ja wirklich, ein trauriger Tag!

Aber als es Abend wurde, nahm Fräulein Klara Mantel und Galoschen und ging aus. Erst verhielt sie sich ein paar Stunden still, als wälze sie etwas in ihrem kleinen Kopf herum, dann ging sie auf die Redaktion der Segelfosser Zeitung. Der Redakteur war eben damit beschäftigt, seine Zeitung zu setzen. Sie bat ihn, die Nachricht von dem Unglücksfall, von dem Trauerspiel an andere Zeitungen zu telegraphieren, und der Redakteur hatte nichts dagegen, mit dieser Neuigkeit der erste unter seinen Kollegen zu sein, da die Dame die Telegramme selbst bezahlen wollte. Leider liegt Baardsen krank an seiner offenen Wunde, sonst hätte er selbst telegraphiert, sagte Fräulein Klara. Liebeskummer, sagte sie. Und wir müssen wohl meinen Namen hinzusetzen, das ist nicht zu vermeiden, ihm schadet es übrigens nichts. Gewiß, es war ein Selbstmordversuch. Mit einem Dolch, setzen Sie hinzu. Und setzen Sie hinzu, ich sei unschuldig. Gott im Himmel weiß, daß ich es bin, aber es sei Hoffnung, daß er davonkomme, setzen Sie hinzu  

Aber was nun auch der Grund sein mochte, Fräulein Klara schickte die Telegramme nicht von der Station Segelfoß, von Baardsens eigener Station ab, vielleicht hatte sie keine Zeit mehr dazu. Sie nahm die Telegramme mit an Bord bis zur nächsten Station. Nicht aus Absicht, denn sie ging noch ein letztes Mal zu Baardsen hinauf, ehe sie abreifte, und erkundigte sich, wie es ihm gehe, und da sie noch niedergedrückt war wie vorher, scherzte der Kranke wieder mit ihr und sagte: Sie Ärmste, wenn man bei Tag einen Menschen ermordet hat, so ist man am Abend nichts mehr nütze. Aber reisen Sie nur, Fräulein Klara, ich werde schon wieder gesund werden, leider!

Und über diesen Scherz wurde Fräulein Klara sehr vergnügt und froh, sie hatte ja kein hartes Herz.


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