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Katrine von Sagvika hat etwas erlebt. Eines Tages sieht sie ein fremdes Elsternpaar um ihre alten Birkenbäume fliegen. Sie flattern da herum, besprechen sich miteinander, wählen einen Baum aus und fangen mit größter Eile an, ein Nest darauf zu bauen. Aber es war nun schon so spät im Jahr, daß andere Elstern mit dem Nestbauen und dem Eierausbrüten längst fertig waren; was sollte nun das bedeuten? Katrine hatte von Lars Manuelsens Elstern gehört, daß sie heimatlos gemacht und ihre Jungen umgebracht worden seien, sie würde sicherlich einem wandernden Elsternpaar ein Obdach in einer ihrer Birken nicht verweigern, einerlei welcher Nation das Paar angehörte. Sie sprach mit Bertel darüber, aber Bertel war durchaus nicht entzückt davon, allerlei wilde fremde Elstern zu beherbergen, um so mehr, als sie schon vorher ein Nest auf ihren Bäumen hatten; aber er beruhigte sich etwas, als das neue Elsternpaar in unglaublicher Eile Eier legte und Junge bekam und sich wirklich häuslich niederließ.
Jawohl, sie hatten schon vorher ein Elsternnest in Sagvika. Hier durften die Elstern in Frieden hausen, und dasselbe Elsternpaar kam jedes Jahr wieder in sein Nest, säuberte es von verfaulten Zweigen, fügte neue ein und wohnte fest am Ort. Solange die Kinder daheim waren, der kleine Gottfred und die kleine Pauline, war es ein rechtes Vergnügen für sie, die Elstern und deren frisches frohes Leben um sich her zu haben, und im Herbst beim Schlachten machte es ihnen besonders Spaß, die Elstern zu beobachten, die sich drüben auf dem Felde mit einem langen Stück Darm herumschlugen.
Aber das war nun lange her.
Und es ist doch etwas ganz anderes, wenn wir nun Lars Manuelsens Elstern aufnehmen sollen, sagte Bertel; ich denke ernstlich daran, sie heute nacht umzubringen, sagte er.
Katrine saß neben ihm und nähte wie gewöhnlich Säcke für die Mühle. Nun schaute sie Bertel entsetzt an; sie hatte ihn wohl selten so verdrießlich gesehen, denn es wurde ihr höchst unbehaglich zumut.
Und wo ist nun die Seife hingekommen? fragte Bertel noch immer verdrießlich.
Ach, da mußte Katrine bekennen, daß sie das Stück Seife am Bache hatte liegen lassen, und als sie es nachher hatte holen wollen, war es fort gewesen.
Hm! sagte Bertel beinahe zähneknirschend. Die Elster hat es genommen. Ja, du hast ein paar feine Elstern hierherbekommen, und gleich jetzt werde ich mich nach einem Messer umsehen, sagte er.
Ach, was du redest! sagte Katrine.
Reden! Ich komme von der Arbeit heim und will mich waschen; aber nein, die Elster hat die Seife genommen! Bertel geht drohend auf seine alte Frau zu und sagt: Und kannst du mir sagen, was die Elster mit der Seife machen will? Frißt sie sie? Oder gebraucht sie sie als Kopfkissen?
Und da Bertel kein glatter sauberer Mann war, sondern im Gegenteil ein bärtiger borstiger Mensch, so hörte sich dies aus seinem Munde wie der allergrößte Ernst an. Aber die Frau wurde allmählich mißtrauisch; sie schaute wieder auf, und als Bertel sich unter ihrem Blick abwenden mußte, war sie ihrer Sache plötzlich gewiß. Da fing sie an zu lachen, ja, sie lachte, daß ihr die Tränen herunterliefen, und sie wiederholte immerfort: Kopfkissen, Kopfkissen! Aber Bertel räusperte sich heftig, wendete sich der Tür zu und kam für eine Weile nicht wieder herein.
Lieber Himmel, was für ein netter, witziger Mann Bertel mit den Jahren doch geworden war! Und das kam bestimmt daher, daß er eine feste Arbeit, ein gutes Auskommen und ein gutes Leben hatte. Am meisten kam es aber wohl daher, daß die Kinder sich gut anließen und das wurden, was sie werden sollten.
Nun kam Pauline nach vollendetem Tagewerk vom Herrenhof noch auf einen kleinen Schwatz. Sie berichtete, daß im Bootshaus am Abend getanzt würde; aber das Bootshaus war kein Bootshaus mehr, sondern ein Theater und Festlokal, und in dem sollte getanzt werden. Theodor wollte das Haus mit einer Lustbarkeit einweihen, ja er hatte eine Flagge auf dem Haus aufgezogen, und den ganzen Tag geflaggt. Natürlich erzählte die Mutter von dem Stück Seife, und jetzt lachte Bertel selbst mit darüber.
Als Pauline nach einer Weile von zu Hause weg ging, begegneten ihr Mädchen und Burschen, die zum Tanz wollten, und Florina in ihrem gelbseidenen Mantel war auch dabei: ja Nils von Välta war bei ihr, und Marcilie, die jetzt wieder bei Herrn Holmengraa in Dienst stand, hatte den Tagelöhner Konrad als Begleitung. Gehst du nicht mit zum Tanz, Pauline? fragten sie. Nein, antwortete Pauline. Ach, du bist gar so großartig geworden, versetzten sie lachend. Meinst du nicht, Willatz könne dich auf eine Stunde entbehren? fügten sie noch hinzu.
O, das war es nicht; Willatz bot ihr selbst an, zum Tanz zu gehen, als er davon hörte. Aber das muß Herr Willatz im Scherz gesagt haben, sagte Frau Rasch, denn man geht nicht nur so zu einem beliebigen Tanz, wenn man auf Segelfoß Haushälterin ist und einen Bruder hat, wie den Gottfred auf dem Telegraphenamt. Etwas anderes ist es, wenn Theater gespielt wird, sagte Frau Rasch, jetzt soll nämlich ein Theater herkommen und da kannst du hingehen, denn Rasch und ich gehen auch; und Doktor Muus und einige vom Pfarrhaus gehen ebenfalls hin, und vielleicht kommt auch Herr Willatz selbst dazu. Frau Rasch belehrte ihre frühere Schülerin auch jetzt noch in vielen Dingen, und das war sehr nützlich für die kleine Pauline.
Die ganze Nacht hindurch wanderten die Leute drunten auf dem breiten Weg hin und her. Willatz war oben in seinem Schlafzimmer im Herrenhaus und sah sie vorbeiziehen. Burschen und Mädchen, Liebespärchen mitsamt den Nebenbuhlern, alle auf dem Weg zum Tanz oder davon zurück. Bisweilen hörte er Schreie, ungestüme Rufe ins Blaue hinein; Willatz konnte sich nicht erinnern, zu Zeiten seiner Eltern je solche Schreie auf dem Weg drunten gehört zu haben. Am nächsten Morgen konnte der Knecht Martin von einer Rauferei berichten zwischen den Burschen, ein paar von den Mühlknechten, und der eine hatte mit Steinen geworfen. Das Mädchen hieß Palästina, der Lensmann von Ura war geholt worden; als er dann kam, der alte verschuldete Herr, der anderes im Kopf haben mochte, stiftete er Frieden zwischen den Burschen und brachte sie dazu, sich zu versöhnen; und da er die Leute nicht mitten in der Nacht beunruhigen wollte, indem er sie um eine Nachtherberge bat, ging er bis zum Tagesgrauen draußen auf und ab. Dann erst begab er sich zum Rechtsanwalt.
Er brachte alles, was er an Geld hatte zusammenscharren können, der Rechtsanwalt würde sicher ein Einsehen haben und nicht das Unmögliche verlangen, der Lensmann war doch bei seiner Hochzeit gewesen. Er nahm die Mütze mit der goldenen Tresse vom Kopf und blieb stehen. Und Rechtsanwalt Rasch schien bei dieser großen Demut nachgiebiger zu werden, Rechtsanwalt Rasch war ja kein Unmensch, wenn er nur der Überlegene sein durfte.
Ich nehme diese Abzahlung an, sagte er, aber Sie müssen für den Rest Zinsen bezahlen.
Ja, antwortete der Lensmann.
Gleichzeitig muß ich Ihnen aber sagen, daß nicht ich die Bank bin, die Bank gibt Ihnen einen Monat lang Aufschub.
Ja, ich danke.
Rechtsanwalt Rasch saß dick und deutlich in seinem Stuhl, und der Lensmann stand. Aber Rechtsanwalt Rasch erkannte die Demut an, wenn sie ihm begegnete, er stand auf und sagte:
Kommen Sie mit herein zum Frühstück, Lensmann! Sie sind gewiß hungrig.
Und die Herren gingen zum Frühstück hinein. Als aber der Lensmann eine Erfrischung und Kaffee bekommen hatte, wurde er einigermaßen munter, er redete ruhig mit Frau Rasch und war in höflicher Weise mitteilsam. Als ich bei Ihrer Hochzeit war, sagte er. Ha, vergaß er jetzt wohl die Demut? Rechtsanwalt Rasch sagte:
Daß ich es nicht vergesse, wenn nun der Kassenrevisor zur Inspektion zu Ihnen kommt, Lensmann, was dann? Haben Sie sich das überlegt?
Ach, der Lensmann hatte wohl in der letzten Zeit an nicht viel anderes gedacht, aber er war jetzt doch überrascht über die grobe Frage; und ebenso erging es Frau Rasch, sie schenkte dem Lensmann gleich nochmal Kaffee ein.
Der Kassenrevisor ist auch früher schon bei mir gewesen, sagte er.
Und hat die Kasse in Ordnung gefunden? Nun, dann will ich nur hoffen, daß er auch diesmal nichts auszusetzen hat, sagte der Rechtsanwalt gekränkt. Wie gesagt, die Bank kann einen Monat warten, länger nicht.
Der alte Lensmann von Ura war übrigens ein etwas zu sorgloser Herr, da hatte der Rechtsanwalt recht. Er hätte seine verschiedenen Kassen wohl in Ordnung halten können, wenn er sich besser auf seinen Beruf verstanden hätte und fähig gewesen wäre, die Leute auszusaugen. Viele von den Höfen und Häusern, an denen er an diesem Vormittag auf seinem Heimweg vorbeikam, kannte er recht gut. Es wohnten da Schuldner von ihm, und er war gewiß, sie hätten ihm wohl ein Schaf oder eine Ziege als Abzahlung bringen können, wenn sie nur gewollt hätten; aber sie wollten nie. So waren die Leute geworden. Von jeher waren ihm die Leute Geld schuldig geblieben; aber früher konnten sie nicht bezahlen, und jetzt wollten sie nicht. Herr Holmengraa und das Mühlwerk hatten seit einer Reihe von Jahren Arbeit und bares Geld in den Bezirk gebracht, aber das Geld war gar zu beweglich, es verschwand für allerlei Waren auf Pers Ladentisch. Die Jugend brauchte das Zehnfache für Kleider und Staat und Zigaretten gegen früher und wurde in jedem schlechten Sinne modern, aber die Charakterbildung ging ständig zurück. Und was das betraf, mehr aus seiner Stellung zu machen? Ach, du lieber Gott, der Lensmann hätte die Leute aussaugen und Geld verdienen können! Ja, er hätte sehr oft Theodor im Laden für ungesetzlichen Warenhandel bestrafen und selbst die Hälfte der Buße einstecken können!
Der Lensmann geht zum Schuhmacher Nils, und Nils war daheim und hatte nichts zu tun, er vertrieb sich nur die Zeit auf einem Hocker oder im Bett. O, der alte Schuhmacher war wohl selbst von der Zeit angesteckt worden! Im letzten Frühjahr hatte es plötzlich eine Menge Geld vom Himmel auf ihn herabgeregnet, und wäre nicht Gottfred vom Telegraphenamt gekommen und hätte einen Teil von dem Geld für die Kasse des Telegraphenamtes verlangt, dann hätte der Schuhmacher Nils jetzt in Amerika sitzen und jeden Tag dreimal Fleisch essen können. So, wie es gegangen war, wurde nichts aus der Reise nach Amerika, und der Schuhmacher fing an, sich etwas besseres Essen zu kaufen, um etwas mehr Mark in die Knochen zu bekommen. Der Ärmste konnte das wohl brauchen. Aber das Unglück war, daß ihn das Verderben ergriff und er immer mehr gutes Essen brauchte; das eine zog das andere nach sich, nun brauchte er auch stärkeren Kaffee als früher und hatte auch Geschmack für den ausländischen Käse in Theodors Laden bekommen. Er war rein verrückt, wie in einen Wirbeltanz war er hineingerissen worden, er begriff nicht mehr, daß er das Leben damals, als es noch keine Konserven für ihn gab, auch ausgehalten hatte. Jetzt konnte man frische Fischklöße mitten im Sommer haben; auch glänzende Blechdosen mit Fisch darin. Nils hätte gut selbst ein paar hundert Meter in die Bucht hinausrudern und sich die Fische aus dem Meere herausholen können, es gab da Schellfische und Flundern und Kohlfische, aber warum denn das? Im Laden gab es Fisch in Konservendosen, Delikatessen, die durchs Liegen schmackhaft, im Öl sozusagen reif geworden waren. Schuhmacher Nils hatte zwei Menschenalter hindurch in Genügsamkeit und Entbehrung und großer Zufriedenheit gelebt, jetzt hatte ihn die Zeit mit ihren Gütern eingeholt und machte ihn zu einem Zerrbild seiner selbst. Es ging so weit, daß er seinen Kaffee nicht mehr selbst röstete, sondern ihn in Tüten gut verpackt geröstet kaufte. Und warum zum Kuckuck sollte er sich hinsetzen und seinen Kaffee selbst mahlen, wenn er gemahlenen Kaffee in Silberpapier mit vielen Stempeln drauf haben konnte? So weit ging es, es schrie zum Himmel. Nils verbrauchte tapfer von seinem Geld.
Ich möchte dich mit mir nach Hause nehmen, sagte der Lensmann. Bei uns sehen nächstens die Zehen zu den Stiefeln heraus.
Man kann jetzt alle Sorten von Stiefeln im Laden haben, erwiderte Nils, und sie sind viel feiner.
Aber ich bin nun so altmodisch, daß ich deine Schuhe für die besten halte, Nils, sagte der Lensmann.
Ich sehe nicht mehr gut, versetzte Nils.
Für die Arbeit, die ich für dich habe, siehst du gut genug.
Nein.
Der Lensmann sah Nils verwundert an, er erkannte ihn gar nicht wieder. Nach seiner Gewohnheit verfuhr er glimpflich und sprach ihm ruhig und verständig zu; aber der Schuhmacher wich ihm aus. Schließlich sagte er: Und außerdem verkaufe ich jetzt die Karten im Theater.
Daran hielt sich der Schuhmacher, und dabei blieb's. Als ihm Theodor vorgeschlagen hatte, die Eintrittskarten zu verkaufen, war ihm gewesen, als sei er für alle Zeiten angestellt und dürfe seine Kräfte nicht für anderes zersplittern. Gestern abend hatte er nun am Schalter gesessen und Karten zu dem Tanzvergnügen verkauft; es war großartig gewesen, die Leute waren zu ihm gekommen wie zu einem richtigen Kaufmanne, er hatte die Eintrittskarten hergegeben und Geld dafür in Empfang genommen, und heute morgen bei der Abrechnung hatte Theodor ein Zweikronenstück auf den Tisch geworfen und gesagt: Hier bitte, das ist für deine Arbeit. Und dann kannst du wiederkommen, wenn richtig Theater gespielt wird.
Dann war Theodor eiligst fortgegangen, denn er hatte sehr viel zu tun.
Es zeigte sich, daß das Theater sehr viel Arbeit mit sich brachte. Die Anzeige hatte schon ein paarmal in der Segelfosser Zeitung gestanden und sollte morgen wieder drin stehen; gedruckte Plakate waren im Laden angeschlagen; die Flagge hatte Tag und Nacht auf dem Theatergebäude geweht; rote, grüne und weiße Eintrittskarten waren gedruckt worden. Theodor selbst hatte die Leute mit großartigen Aussprüchen aufgemuntert: Hört, »Die Giftschlange in der Höhle« wird gespielt, ein großartiges Stück, Björnson hat es verfaßt oder ein anderer, jedenfalls ist es ein ausgezeichnetes Stück. Und die Giftschlange ist gar keine Giftschlange, das dürft ihr nicht glauben, sondern die Giftschlange ist ein Mensch wie du und ich. Ich habe das Haus gebaut, damit wir es sehen können; alle müssen sich Eintrittskarten kaufen, wir werden doch nicht hinter anderen Städten zurückbleiben wollen.
Aber in der Zeitung fehlte noch etwas. Wohl stand die Anzeige drin, aber der kleine vorbereitende Artikel fehlte noch. Theodor ging auf die Redaktion und fragte, was das bedeuten solle? Ob nicht etwa seine Firma beständig im Blatt angezeigt habe? Der Redakteur war in Not; eine kleine Besprechung, o ja, sie würde kommen. Aber sie kam nicht. Theodor ging wieder auf die Redaktion. Die Besprechung, jawohl, aber der Rechtsanwalt habe keine Zeit, sie zu schreiben. Ob denn der Rechtsanwalt sie schreiben solle! Ja. Und er habe gemeint, die Schauspieler müßten erst einmal kommen.
Theodor kam nicht weiter, er stand der Übermacht gegenüber. Er konnte den Redakteur verspotten, konnte die Anzeigen seiner Firma für Zeit und Ewigkeit dem Blatt entziehen, es würde nichts nützen, nun zeigte es sich, daß Rechtsanwalt Rasch der Besitzer der Segelfosser Zeitung war. Da hol der Teufel den allesverschlingenden Rechtsanwalt!
Theodor biß sich auf die Lippen; er war jung und hatte noch alle seine Zähne, er biß also gut. Auch war er keineswegs ratlos, im Nu flog ihm eine kleine Idee durch seinen raschen Kopf; er wußte von einem Mädchen mit einem wollenen Tuch um die Wangen, das Mädchen hatte kein Geheimnis aus einem Sparkassenbuch gemacht, das sie besaß. Aber woher hatte sie es? Das eilte nicht, warte nur, der Rechtsanwalt mochte den Artikel schreiben oder nicht, er hatte die Wahl!
Eigentlich stand auch für Theodor gar nicht so viel auf dem Spiel; er vermietete sein Lokal und würde seine Miete dafür bekommen, er war erster Gläubiger. Es war ja immerhin am besten, wenn er im Frieden mit dem Blatte auskam, auch wegen späterer Theatervorstellungen.
Die Schauspieler kamen an, Theodor flaggte. Die Truppe wurde im Hotel Larsen untergebracht, sieben Personen; junge und alte, eine Primadonna, ein Direktor, ein Kassenwart. Julius wollte zeigen, daß diese vornehme Gesellschaft zu rechten Leuten, ja in ein berühmtes Haus gekommen sei. Das Bild seines Bruders L. Lassen war eingerahmt worden und hing nun im Salon. Seht, es hatte sich ja so glücklich getroffen, daß das Bild gerade im Verlag der Lutherstiftung herausgegeben worden war, und der Pastor hatte sofort ein Exemplar mit Zueignung und Namensunterschrift an seine Lieben nach Hause geschickt. Nun hing es da unter Glas und Rahmen, der Pastor hatte den Talar und die Krause an. Die Schauspieler betrachteten das Bild, und Lars Manuelsen, der das Gepäck herbrachte, sagte jetzt wie immer: Das ist mein Sohn.
Jesses! rief der eine der Schauspieler. Und als die andern diesen Ausruf hörten, sahen sie einander an und bissen sich in die Finger, und die Damen bissen in ihre Taschentücher. Sie benahmen sich sehr merkwürdig.
Ihr habt ja wohl von Lassen gehört? fragte Lars Manuelsen.
Ja, ja, natürlich, wer sollte das nicht? Lassen!
Dann gingen die Schauspieler hinaus. Der Anblick ihres Ganges, ihrer Kleider und ihres ganzen Gebarens war ja geradezu wunderbar für die Menschen auf Erden und die Vögel unter dem Himmel. Die Herren hatten die Hüte schief auf dem Kopf, sie summten ein Liedchen vor sich hin vor lauter gesättigtem Magen und munterem Sinn, ja, und der Direktor trug einen rot und grünen Schlips, und das verlieh ihm einen Schein von Lebensart und großer Welt. Einer von ihnen sang von:
seiner behaarten Tatze
und Branntweinfeuer in seinem Maul.
Eine einzig dastehende Lebenslust und nichts anderes, Üppigkeit, Herrschermut und Freude! Segelfoß glotzte die Gesellschaft verdutzt an.
Aber die Primadonna war nicht schöner als die beiden anderen Damen, im Gegenteil, ein großes braunes Mädchen mit einer tiefen Stimme, die war die schönste von allen; wie eine stolze Königin schritt sie einher mit etwas aufgehobenem Rock, und der Unterrock hatte unten eine seidene Rüsche, die rauschen sollte. Auf dem Plakat hieß sie Fräulein Sibylle Engel, das war wohl ihr Künstlername. Und sie war die hübscheste von allen. Aber dann war die Primadonna wieder in anderer Art vorne dran, in der Kunst, der großen Schauspielkunst, und das war die Hauptsache. Sie trug einen ungeheuer großen Hut und hieß Frau Lydia, weiter nichts. O ja, und die Primadonna war übrigens auch groß und schön von Ansehen.
Zuerst wollten sie nach dem Laden. Ist das dort drüben das Haus von Herrn Jensen? Mit überströmenden Dankesbezeugungen traten sie in den Laden. Da sie so zahlreich waren, konnte Theodor die Klappe nicht vor ihnen aufschlagen, aber er zog den Hut und war sehr höflich. Sie konnten ihm nicht genug danken für seine Hilfe und fragten, wie sich alles anlasse? Ob alles in Ordnung sei? So, keine Vorbesprechung? Und die Zeitung komme jetzt am Nachmittag heraus? Mein Gott, dann mußten sie ja schnell zum Rechtsanwalt, diesem verflixten Rechtsanwalt, hieß er nicht Rasch? Die Primadonna und der Direktor zogen ab. Indessen ging der Rest der Truppe von Theodor begleitet nach dem Theater.
Es ist eine Flagge aufgezogen, warum wird geflaggt? fragten sie.
Ihretwegen, des Ereignisses wegen, antwortete Theodor.
Dürfen wir Ihnen noch einmal für alles danken? sagten sie.
Theodor war durchaus nicht so übel, er war ein recht tüchtiger Mensch und machte einen guten Eindruck. Die Bandschleifen auf seinen Schuhen trugen vielleicht auch das Ihrige dazu bei; aber das große goldene Zwanzigkronenstück, das in seinem Schlips saß, tat vielleicht noch mehr. Unsere Firma, sagte er. Was Sie da draußen sehen, ist meine Jacht und sind meine Fische, sagte er.
Ach Gott, jetzt habe ich mir den Fuß wieder übertreten! jammerte Fräulein Sibylle Engel und ergriff Theodors Arm. Bitte, geben Sie mir Ihren Arm! bat sie.
Theodor hatte wohl seinen Arm noch nie einer Dame geboten und verstand sich auch nicht darauf; aber die Dame Sibylle machte eine kleine Bewegung und brachte es in Ordnung.
Das ist ein schlechter Weg, sagte er entschuldigend, aber er soll besser werden.
Der Weg ist nicht schuld daran, sagte Sibylle.
Die andern beklagten sie nicht, sondern lächelten ein wenig, als ob Fräulein Sibylle, wenn es gut paßte, hie und da einmal den Fuß überträte und nach einem Arme faßte.
Sie traten in den Flur. Schuhmacher Nils saß in der Zelle; er machte wohl eine Probe, ob alles gut wirkte.
Dies ist der Kartenverkäufer, sagte Theodor. Aber heute ist keine Vorstellung, Nils.
Nein, ich bin nur einmal hergegangen.
Hast du die Eintrittskarten im Schrank? Ja, laß nur keinen Einbrecher dran kommen, sagte Theodor und tat sehr wichtig und umsichtig. Hast du's jetzt also verstanden, Nils? Die roten Karten anderthalb Kronen, die grünen eine Krone und die weißen fünfundsiebzig Öre. Und gib nicht zwei auf einmal weg!
Sie traten in den Saal. Großartig! sagten die Künstler. Die Bühne in der richtigen Höhe, die Bankreihen, die Wände, alles miteinander, wie es sein soll. Sie haben kundige Leute zur Ausführung gehabt, Herr Jensen! Und hinter der Bühne zwei Räume! Ach Gott, Herr Jensen, Sie sind ein herrlicher Mann, ich liebe Sie bis in den Tod! Zwei Räume wir müssen uns fast überall mit einem Vorhang begnügen, und Sie wissen nicht, was zwei Räume für mich zu bedeuten haben. Und Lampen, Reflektoren, ich begreife nicht, wo Sie alles das bekommen haben! Nun, wenn wir hier nicht spielen können, dann können wir's sicher sonstwo auch nicht!
Alle stimmten überein, und Theodor schwoll vor Stolz: Ja, er habe sich alle Mühe gegeben und alles aufs beste ausgedacht. Das einzige sei dies hier, da auf den Seiten, wie es nun heiße
Kulissen?
Kulissen, ja, ich konnte mich nicht gleich erinnern. Wir haben vielleicht nicht genug davon. Aber wir werden sie uns verschaffen. Und die Dekoration überhaupt. Es ist nur gut, daß Ihr Stück in einem Zimmer vor sich geht.
Kennen Sie das Stück?
O ja, ein wenig, die Giftschlange ist keine Schlange, sondern ein Mensch.
Aber nicht alles spielt sich in einem Zimmer ab, sagte einer der Künstler, der Max hieß. Es war ihm vielleicht unangenehm, daß Fräulein Sibylle so lange den Arm des fremden Mannes nötig hatte.
Theodor verbesserte sich:
Nein, ich kenne das Stück nicht, Baardsen hatte es gesagt. Oder er sagte vielleicht auch, ein Teil davon spiele sich auf dem Weg vor dem Hause ab. Wir haben den Hintergrund dazu. Hier!
Diesen? Ja, der ist ausgezeichnet. Wer ist Baardsen?
Baardsen ist der Vorsteher vom Telegraphenamt.
Wir haben selbst auch einige Dekorationen mitgebracht, nahm der Künstler Max wieder das Wort. Und wir werden auch hier zurechtkommen, wie sonst auch. Natürlich war der Mann eifersüchtig.
Auf dem Rückweg nach dem Hotel begegneten sie der Primadonna und dem Direktor. Sie hatten mit Rechtsanwalt Rasch gesprochen und von ihm die Versicherung erhalten, daß er den Redakteur an eine Vorbesprechung im Blatte erinnern wolle. Er, der Rechtsanwalt, redigiere die Segelfosser Zeitung nicht selbst, o nein, aber er wolle es dem Redakteur sagen.
Dann gingen die sämtlichen Schauspieler wieder ins Theater zurück, zu den Brettern, ihrer Welt, um den beiden die Herrlichkeiten zu zeigen, die sie noch nicht gesehen hatten. Auch Theodor ging mit. Noch einmal wurden ihm dieselben Lobsprüche zuteil, und er erwiderte: Ich habe mein Bestes getan! Aber die beiden, die beim Rechtsanwalt gewesen waren, fragten plötzlich nach Baardsen und sagten, ob sie nicht auch zu dem Stationsvorstand Baardsen gehen und ihm danken sollten? O ja, versetzte Theodor. Baardsen? Jawohl, er sei ihm behilflich gewesen, er selbst habe nicht immer Zeit gehabt, während des Baues anwesend zu sein.
Der boshafte Rechtsanwalt!
Dann gingen sie heimwärts; aber Theodor schwoll nicht mehr vor Stolz. Die andern sahen das, o sie sahen es recht gut, und um es wieder gutzumachen, begleiteten sie Herrn Theodor nach Hause und bis in seinen Laden hinein. Sibylle hing ihm am Arm und hinkte tüchtig. Aber siehe, im Laden stand der Stationsvorsteher selbst und kaufte ein kleines Päckchen Tabak ja, Baardsen selbst stand da!
So voller Zufälle und Schicksalstücke ist das Leben!
Er stand am Ladentisch und zog ein paar ganz kleine Münzen aus seiner Westentasche, die er auf den Tisch legte; da sagte Theodor:
Die Künstler wollen sich bei Ihnen bedanken, Baardsen.
Baardsen drehte sich langsam so weit um, bis er die Gesellschaft sehen konnte, die sieben fremden Menschen voller Lebenslust, die Hüte schief auf dem Kopf und in raschelndem Seidenstaat. Der Direktor trat vor und ergriff das Wort, nach ihm kamen die beiden vornehmsten Damen an die Reihe, und zum Schluß die Herren; alle redeten und lächelten und drückten Baardsen die Hand. Theodor ging in sein Kontor. Da sagte plötzlich die unbedeutendste von den Schauspielerinnen, die bisher noch kein Wort gesprochen hatte:
Aber woher bekommen wir das Klavier?
Totenstille. Das Klavier hatte man vergessen.
Du hast recht, Klara, sagte der Direktor. Und zu Baardsen sagte er: Dies ist Fräulein Klara, die Pianistin.
Baardsen sah sie an, ihr junges eifriges Gesicht und ihre langen Klavierhände mit den blauen Adern.
Die Zeit war zu kurz, sagt Baardsen. Aber Herr Theodor schafft wohl ein Klavier herbei, bis Sie wiederkommen. Er ist der Mann dazu.
Ein Schatten flog über Fräulein Klaras Gesicht. Sie war wohl eine unvernünftige Dame und bedachte nicht, daß sie die unbedeutendste der ganzen Truppe war. Baardsen redete ein wenig über Musik mit ihr, und erfuhr, bei wem sie Unterricht gehabt hatte, und daß ihr einmal ein Stipendium zugeteilt worden war. Ei sieh! Übrigens sei sie auch Schauspielerin, ja dies vor allem.
Theodor trat wieder aus dem Kontor und fächelte sich mit einem Brief, den er in der Hand hielt. Ein tüchtiger Mensch, wenn er nur nicht so ein Gimpel gewesen wäre! Da kam er nun mit dem Brief in der Hand daher und ließ ohne weiteres jedermann sehen, daß er an Fräulein Mariane Holmengraa gerichtet war. Wollte er damit der Truppe imponieren? Aber die Truppe schien den Namen Holmengraa nicht besser zu kennen als den Namen Lassen; wieder wurde über das Klavier gesprochen, und Theodor versprach, bis zum nächsten Mal eins herbeizuschaffen. Dann ging die Truppe.
Trag diesen Brief fort! sagte Theodor zu seinem kleinen Ladenjungen. Aber jetzt war niemand mehr da, dem er hätte imponieren können, und sich gleichsam entschuldigend, sagte er zu Baardsen: Sie denken vielleicht, es sei sonderbar, daß ich an Fräulein Holmengraa schreibe; aber es ist kein Brief, weitentfernt, ich habe ihr nur eine Theaterkarte geschickt.
Schicken Sie ihr eine Theaterkarte? fragt Baardsen und lächelt.
Ja, einer Dame eine Theaterkarte schicken, das kann in anderen Städten ein Herr auch.
Ob nun Baardsen die aufrichtige Kindlichkeit des jungen Menschen achten wollte oder nicht, er lächelte ihn nicht mehr überlegen an, sondern bat ihn nur, diesen Plan aufzugeben. Wenn Herr Holmengraa oder seine Tochter die Vorstellung zu sehen wünschten, würden sie einen Dienstboten herschicken und Eintrittskarten kaufen lassen. Das können sie sich doch gewiß leisten, glauben Sie nicht?
Es ist natürlich eine rote Karte für den besten Platz, sagte Theodor. Ich dachte, ich könnte das tun.
Tun Sie es nicht, riet Baardsen. Aber wenn Sie durchaus etwas in dieser Richtung tun wollen, dann gehen Sie selbst mit einer Anzahl Eintrittskarten hin und stellen Sie sich in den Flur und bringen Ihr Anliegen vor. Sagen Sie zu Fräulein Mariane, es sei von großer Bedeutung für Sie, daß Herr Holmengraa sich bei der Einweihung Ihres Theaters zeige, und daß Sie sehr dankbar wären, wenn die Karten benützt würden.
Wie viele Karten soll ich dann mitnehmen? fragte Theodor.
Ich weiß nicht, wieviel Leute da oben sind. Nehmen Sie ein halbes Dutzend mit.
Nein, das tu ich nicht, sagte Theodor.
Da lächelte Baardsen wieder und sagte: Richtig! Sie sind eine Knospe, eine Rosenknospe!
Nach der Probe am nächsten Tag waren die Schauspieler bis zum Abend frei; sie schlenderten draußen umher, zeigten sich im Tageslicht und entflammten die Neugier der Leute auf das Stück. Im Gespräch hörten sie von Willatz Holmsen auf dem Gute, dem Gutsherrn, der Säulen vor seinem Hause hatte, aber keinen berühmten Namen. Doch die Pianistin horchte auf. Holmsen? Der Komponist! Großer Gott, der Musiker Holmsen? O, wenn ich den zu sehen bekäme!
Und wenn auch ich ihn zu sehen bekäme! sagte der Künstler Max, der ein schlagfertiger, spöttischer Mann war und dazu auf alle Menschen neidisch.
Du bist ein Affe, Max, sagte Fräulein Klara. Willatz Holmsen hat schon eine Menge komponiert, eine Kantate, Lieder, Tänze; er ist ein großer Musiker, sagte sie und prahlte ordentlich mit Willatz, nur weil sie ihn den Namen nach kannte.
Aber natürlich konnte Fräulein Klara mit Affen nicht über Musik reden; das sagte sie auch geradeheraus, und dann ging sie hinunter aufs Telegraphenamt zu Baardsen.
Solche Zufälle bringt das Leben!
Baardsen saß auf seinem Kontor und war prachtvoll und durchaus wohlwollend. Er stand auf und bot der Dame einen Holzstuhl an. Wir haben wohl auch ein Sofa, sagte er, aber es liegt voller Papiere. Bis zu Ihrem nächsten Besuch soll es jedoch abgeräumt sein.
Sie sprachen von Willatz Holmsen. Ganz richtig, er wohne hier, er sei nach Hause gekommen, um zu arbeiten, und sei sicherlich sehr beschäftigt.
Wie schön, wenn er heute abend käme!
Haben Sie eine Rolle, Fräulein Klara?
Lieber Himmel, ich selbst bin ja die Giftschlange!
Ich habe geglaubt. Sie seien der Engel.
Nein, dazu haben wir die Primadonna.
Aber Sie haben die Augen dafür. Den himmlischen Karat in den Augen.
Meinen Sie das wirklich? sagte Fräulein Klara erfreut.
So sehr viel wurde nun bei diesem erstenmal von den beiden nicht gesprochen; der kleine Gottfred war überflüssig und hielt sich im Hintergrund. Aber der Dame Klara mußte ja sehr bald die erhabene Sprache auffallen, deren sich der Stationsvorsteher bediente, und sie sagte es ihm auch mit anerkennenden Worten: Ihre Sprache ist ganz gewaltig, Herr Baardsen, der himmlische Karat, so etwas hören wir unter uns nicht. Ich weiß nicht, aber das trägt vielleicht etwas dazu bei, daß Sie so einen großartigen Eindruck machen.
Merkwürdig der gute Telegraphenamtsvorsteher, der verlebt war und trank und philosophierte und das Leben von oben herab betrachtete, er tat jetzt gar nicht von oben herab, sondern war wahrhaftig von Fräulein Klaras Lob etwas berührt. Zum Schluß sprach er von selbst mit ihr über Musik, ja, er griff sogar nach seinem Cello und spielte. Noch niemals hatte sich Baardsen wohl so närrisch benommen, und der kleine Gottfred verwunderte sich höchlich über ihn. Und wie spielte Baardsen heute? Gottfred sah, daß Baardsens Augen sich immer mehr und mehr schlossen, während Fräulein Klaras Augen immer größer wurden und sie mit offenem Munde dasaß.
Brusttöne, sagte Baardsen, und damit hörte er auf zu spielen. Dieses alte Cello ist ein Mensch.
Aber das ist ja wundervoll! sagte Fräulein Klara leise. Ich bin sprachlos über Sie. Und ehe sie ging, sagte sie noch mehr von derselben Art; sie mußte sehr gerührt sein und sprach aufrichtig.
Als Fräulein Klara gegangen war, sagte Gottfred entsetzt:
Ich glaube. Sie sind in sie verliebt.
Baardsen sagte, sich entschuldigend:
Ich komme so selten mit Damen zusammen. Dieses Frauenzimmer war übrigens musikalisch.
So ging denn »Die Giftschlange in ihrer Höhle« in der hellen Sommernacht über die Bretter. Es war ein großes Ereignis. Das Blatt brachte eine nette Ankündigung. Aus dem Ort und der Umgegend kamen die Leute herbeigeströmt. Der Schuhmacher Nils verkaufte alle seine Eintrittskarten; er bekam ein halbes Hundert von dem Ladendiener Kornelius, der Türhüter war, zurück und verkaufte auch diese noch. Rechtsanwalts waren da, Doktor Muus war da und ein paar vom Pfarrhof, von Holmengraas wurde Frau Irgens gesehen sowie das ganze Gesinde; etwas später kamen wahrhaftig auch noch Fräulein Mariane und Willatz Holmsen herein, niemand hielt sich fern. Aber der unbegrenzte Kartenverkauf brachte ja mit sich, daß das Haus überfüllt war, und Doktor Muus schalt über die Lüftung. Die erste Bedingung in einem Theater ist Luft! sagte er laut zu Theodor. Die Vorstellung ging indes unerwartet glücklich vonstatten, das schlechteste am Stück war der Titel, das zeigte sich deutlich, der Inhalt war frisch und leidenschaftlich, die Leute vergaßen, daß sie in Dampf und schlechter Luft saßen. Natürlich klatschte Doktor Muus nicht. Rechtsanwalt Rasch klatschte auch nicht, aber der Beifall war doch sehr stark; sehr häufig waren Fräulein Mariane und ihr Herr die ersten, die in die Hände klatschten, dann wurde das Klatschen von Theodor, dem Theaterbesitzer, dem Glückskind, aufgenommen und weitergegeben. Doktor Muus wurde zum Schluß wahrhaftig etwas ärgerlich über all den Beifall. Er drehte sich nach dem Zuschauerraum um und sagte Bst! Im ganzen genommen war es ein großer Abend.
Aber was war nun am größten von allem, das Stück oder die Primadonna oder der Künstler Max? Die Primadonna! Als Doktor Muus einmal anerkennend zu ihrem Spiel nickte und ein paar Worte flüsterte, mußte ja Rechtsanwalt Rasch auch gleich dabei sein und laut sagen: Dies gehört zum Besten, was ich je von Schauspielkunst gesehen habe! Jawohl, aber im übrigen gefiel den Herrn wohl Fräulein Sibylle am besten, und das war nicht verwunderlich, denn sie sah außerordentlich gut aus. Wenn aber Baardsen zugegen gewesen wäre, dann hätte er sicherlich einen merkwürdigen Eindruck von Fräulein Klara, der Giftschlange, bekommen: sie zeigte oft einen wahren Abgrund unschuldiger Verderbnis, niemand konnte klug aus ihr werden, sie konnte Ungeheuerlichkeiten von derben zweideutigen Worten mit reinem Mund sagen. Sie verdrehte die Dinge geradezu und spielte sie in ganz anderem Sinne, sie hatte gewiß Talent zu Unzurechnungsfähigkeiten, das war bei ihr Natur. Aber Baardsen war nicht anwesend und sah sie nicht, es hieß, er habe Extradienst bekommen.
Am nächsten Tag hatte die Truppe wieder frei, bis das nach Norden gehende Postschiff am Abend anlegte; die Künstler mußten ganz hinauf nach Norden, dahin, wo alles aufhört. An diesem Tag suchte der Telegraphenamtsvorsteher Baardsen Fräulein Klara im Hotel auf; er wurde in ihr Zimmer gebeten, obgleich er etwas unerwartet kam, und er wurde freundlich zum Sitzen aufgefordert, obgleich die Dame allein war und zu Bett lag.
Was nun? Und wo waren die andern? Wieder ein Zufall! Es war elf Uhr, und die andern waren alle ausgegangen. Um die sonderbare Lage etwas zu erleichtern, wollte sich Baardsen als erfahrener Mann zeigen, eine kleine Unregelmäßigkeit hatte nichts zu bedeuten, er sprach kameradschaftlich.
Wenn Sie jetzt aufgestanden und ein bißchen angezogen gewesen wären, dann hätten wir zu Willatz Holmsen gehen können.
Was sagen Sie? versetzte sie und richtete sich auf.
Er hat es mir erlaubt, das heißt, er ladet Sie ehrerbietigst ein.
Sind Sie in der Vorstellung gewesen? fragte sie.
Nein.
Sonst hätte ich Sie gefragt, wie sie Ihnen gefallen hat.
Wie ich höre, ist es ein großer Erfolg gewesen.
Nicht für mich.
Für Sie alle.
Nein, ich gehe nicht zu Willatz Holmsen, sagte sie plötzlich.
Er hat einen Flügel, Sie können vierhändig mit ihm spielen, sagte Baardsen. Und wenn Sie sich etwas daraus machen, kann ich das Cello mitnehmen. Aber Holmsen spielt alles.
Das ist es ja gerade, sagte Fräulein Klara. Spielt alles, spielt herrlich! Als ich Sie gehört hatte, war ich überwältigt. Ich wußte es vorher, und ich weiß es jetzt: ich kann nicht spielen. Nein, ich gehe nicht zu Willatz Holmsen.
Schweigen. Ist sie betrunken? dachte wohl Baardsen. Aber auf alle Fälle liegt sie da, jung und wild, dachte er wohl. Es gehörte nicht zu dem Vorhergehenden, aber unwillkürlich sagte er: Ich brauche mich nicht anzustrengen, um Sie unvergleichlich zu finden.
Dazu haben Sie gar keinen Grund, erwiderte sie. Sie waren ja nicht bei der Vorstellung. Ich spiele nicht mehr Klavier, aber ich betreibe ein anderes Spiel. Ach Gott, ich werde Ihnen eines Tages beweisen, allen beweisen
Dann meinen Sie also, daß das Ihr richtiger Beruf sei?
Ja! Sie richtete sich plötzlich noch weiter auf und blieb auf den Knien im Bett liegen. Denn Sie glauben mir wohl keinen Augenblick, daß ich Frau Lydia vollständig ausstechen kann?
Nein.
Nein. Die Leute bewundern sie, weil sie blaß werden kann. Aber das Erblassen ist gar keine Kunst, ich will es auf mich nehmen, sogar grau zu werden. Jawohl, das ist mein Beruf, ich werde sie alle ausstechen. Ich könnte mich mit Leichtigkeit verheiraten, aber warum denn? Er ist reich und jung und möchte mich haben, aber da müßte ich schön verrückt sein! Zuerst will ich der ganzen Welt zeigen, was ich kann. Aber jetzt muß ich nach Hinternorwegen und klimpern, fügte sie betrübt hinzu.
Baardsen wußte weder aus noch ein; nein, sie war nicht betrunken, das verstand er als Sachkundiger.
Sie sind also doch nicht auf Ihren rechten Platz gekommen, Fräulein Klara, sagte er ein wenig scherzhaft.
Nein, das heißt, doch. Aber meine Zeit ist noch nicht da. Doch, ich bin auf meinen richtigen Platz gekommen, Sie dagegen wohl nicht! Sie spielen ja Cello wie ein Gott.
Und wieder übte das Lob dieses Menschenkindes eine Wirkung auf den Telegraphisten aus und tat ihm wohl.
Ich habe ein ausgezeichnetes Instrument, sagte er. Und Sie wollen also Willatz Holmsen nicht besuchen?
Nein, ich gebe es auf, ich will nur Theater spielen.
Hm. Wenn Sie sich nur nicht selbst einen Streich spielen.
O nein. Aber Sie, Sie spielen sich doch wohl nicht selbst einen Streich? sagte Fräulein Klara. Sie sitzen hier und telegraphieren und spielen Cello und sind zufrieden, nicht wahr?
Na na, Fräulein Klara!
Entschuldigen Sie und nehmen Sie mir das, was ich sage, nicht übel. Man kann sich sehr anregend mit Ihnen unterhalten, Herr Baardsen, aber Sie müssen ja hier verschmachten. Sie lächeln, aber Sie verschmachten doch.
Haha, Sie meinen, ich sei hier begraben? Sie halten mich für ein Opfer der Verhältnisse! Nein, Fräulein Klara, dies ist kindlich von Ihnen. Ich werde von nichts Höherem getrieben, denn das andere ist nicht höher. Ich handle nach meinem eigenen Willen, das ist das Höchste. Ich bin nicht genügsam; aber zurzeit habe ich, was ich brauche, ich habe ein Haus, habe Kleider, Essen und Trinken.
Haben Sie mit Willen Trinken gesagt?
Hm. Ich habe es nicht wider meinen Willen gesagt.
Haha! Aber das ist's ja gerade. Ich muß über Sie lachen, und es kommt vielleicht einmal der Tag, wo Sie kein Haus, keine Kleider und weder Essen noch Trinken haben.
Den Tag nehme ich hin wie die andern Tage. Erscheine mir, Goethe, an dem Tag, der es vermag, mich zu ärgern!
Das war ein großes Wort! äußerte die kleine Dame lächelnd.
Baardsen stand auf und sagte streng:
Zum letztenmal, Fräulein Klara, wollen Sie Willatz Holmsen besuchen, und erlauben Sie, daß ich Sie begleite?
Ich besuche ihn nicht. Drehen Sie sich ein wenig um, dann stehe ich auf.
Ich werde gehen.
Jetzt sind Sie sehr unzufrieden mit mir.
Baardsen unterließ es nicht, erhaben zu erwidern: An dem Tag, an dem ich mit Ihnen unzufrieden bin, stürze ich mich ins Meer! Und darauf sah er aus, als könne er nicht mehr für sie tun.
Die Dame Klara legte sich wieder zurück und sagte:
Ich stehe nicht auf.
Es ist ein Mißbrauch der Schönheit, sie in Betten zu hüllen, sagte Baardsen.
Sie wissen ja gar nicht, wie schön ich bin, sagte sie. Aufrichtig gesprochen: Halten Sie es für sehr verkehrt von mir, wenn ich eine Kunst verlasse, in der ich nichts bin, und zu einer anderen übergehe, wo ich vielleicht viel werden kann? Sie werden mir am Ende nicht gern darauf antworten.
Sehen Sie, Fräulein Klara, es schickt sich schlecht für mich, als Tugendbold aufzutreten und den Leuten zum Besten zu raten. Aber hier handelt es sich darum, die Kunst überhaupt zu verlassen
Ja, und zu einer andern überzugehen.
Nein.
Wie, nicht?
Also die Kunst zu verlassen. Und das muß der tun, der ihr nicht dienen kann.
Dann ist also die Schauspielkunst nicht Kunst?
Nein, da handelt es sich um Künstler.
Sie werden niemand finden, der Ihnen darin recht gibt.
Nein, sagte er.
Jemand trat ins Nebenzimmer, die Truppe war wohl zurückgekommen. Man hörte: Seine behaarte Tatze und Branntweinfeuer in seinem Maul, Gelächter, Guten Tag, Pastor L. Lassen
Sie haben mich ja nicht spielen sehen, sagte Fräulein Klara.
Nein, sagte Baardsen wieder.
Plötzlich fängt Fräulein Klara zu lachen an und sagt:
Das alles ist ja nur Gerede. Soll ich es wirklich ernst nehmen?
Ich habe nichts dagegen, versetzte er.
Da lachte Fräulein Klara noch mehr und erwiderte:
Nein, das sind nur treffende Antworten, genau wie in den Stücken. Herr Baardsen, sehe ich Sie wieder? Wollen Sie mich heute nachmittag aufsuchen?
Er besuchte sie am Nachmittag auf ihrem Zimmer; sie war unbedenklich allein, halbangekleidet, frischgewaschen und hübsch. Und zwischen ihnen mußte etwas geschehen sein, das er nicht erwartet hatte, als er kam, und nicht begriff, als er ging, er, der Telegraphenamtsvorsteher Baardsen, war verwirrt und aus den Angeln gehoben, war ein fröhlicher Junge, ein Narr geworden ach Gott, was für ein Zustand! Er war wohl wie durchleuchtet von Licht, denn er trug den Kopf hoch erhoben und trug ihn wie nichts, ein leuchtendes Nichts. Was für ein Zustand!
Als es Abend wurde, ging er auf den kleinen Kirchhof und nahm ein paar blühende Pflanzen von den Gräbern des Leutnant Willatz Holmsen und seiner Gattin. Diese Pflanzen in Töpfen hatte Frau Rechtsanwalt Rasch eben hingestellt, um Jung-Willatz eine Freude damit zu machen; nun nahm Baardsen sie, so verwirrt war er geworden. Und er trug die Pflanzen nach dem Landungsplatz und wartete da, bis die Truppe daherkam und an Bord ging. Bitte schön, sagte er zu Fräulein Klara und nahm den Hut ab. Mein Gott, woher haben Sie nur die herrlichen Rosen? fragte sie. Ich habe sie auf dem Kirchhof bekommen, antwortete Baardsen. Sie begriff, daß er die Wahrheit redete, denn sie gab das Wort weiter. Ach, das war gerade etwas für die Künstler! Sie lachten übermäßig und fanden es ausgezeichnet. Ist noch Zeit, wieder an Land zu gehen? fragte der Künstler Max, und er schien sehr bekümmert zu sein. Nein, sagte der Kapitän. Wie schrecklich! rief Max. Ich habe ein Bild von Lassen vergessen, sagte er. Wir wollen es so einrichten, daß wir wieder nach Segelfoß kommen können, sagte der Direktor, und das sagte auch die Primadonna.
Auf dem Schiff stehen ein paar Reisende, die mustern Baardsen, und der eine scheint ihn zu kennen. Wie heißt der Mann? fragte er nach dem Ufer hinüber. So, Baardsen? Darauf wendet er sich an die andern Reisenden und sagt: Wir hatten einen Baardsen daheim, Schiffshändler, großes Haus. Er hatte einen Sohn, aus dem nichts Rechtes werden wollte. Der junge Mensch versuchte es mit dem Schauspielerberuf, aber und er schrieb Theaterstücke, machte aber überall Fiasko. Sollte er es sein?
Aber Baardsen stand da auf dem Landungsplatz und hörte nichts und war so verwirrt, daß er nur so in gutem Glauben redete und nichts Erhabenes sagen konnte. Willkommen auf der Rückreise! sagte er einmal ums andere. Das letzte, was er von Fräulein Klara sah, war, daß sie auf dem Deck des rußigen Dampfboots stand und weiße Glacéhandschuhe anzog, die sie sich eben noch im Laden gekauft hatte. Und er fragte sich, wohin sie indessen die Rosen gelegt haben konnte.
Diese Rosen, um die er mit Erlaubnis der herzensguten Frau Rasch ein von ihr geschmücktes Grab geplündert hatte.