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Seit dreihundert Jahren geht es mit dem Türken abwärts.
Einst war es anders. Der Großsultan führte viele unüberwindliche Horden an, er stampfte auf die Erde, und Europa fuhr zusammen. Ein großer Teil der Welt war sein, er redete, und »die Erde ward stille«. Er stand in Wien. Unsre Urgroßväter zitterten vor ihm. Verschiedene Völker leisteten Widerstand, ein König schlug insgeheim auf seinen Tisch und stand seinen Mann; als der Großsultan es erfuhr, ließ er einen Orkan von Feuer und Eisen ausgehen. Und die Erde wurde wieder still.
Stambul war der Mittelpunkt der Welt, der Sitz der Kultur. Es war ein guter Boden, um darauf zu bauen, und schon die Römer hatten hier prächtige Tempel, Theater, Paläste, Statuen und Bäder errichtet; später schwoll die Stadt mehr und mehr an von den Schätzen und Kostbarkeiten, die in siegreichen Kriegen aus Griechenland, Italien und Ägypten mitgebracht wurden. Künstler und Gelehrte kamen hierher, aus Zentralasien, aus Indien, aus Ägypten und Arabien. Es wurden Hochschulen, Museen, Bibliotheken gegründet, Moscheen und Mausoleen, Fontänen, überwölbte Bogengänge, Galerien, Türme erbaut. Und unaufhaltsam brachten Kamelkarawanen vom Osten neue Herrlichkeiten nach Stambul. Und der Sultan saß in seinem schönen Serail und hörte vom ganzen Weltall nie ein Nein!
Das waren noch Zeiten für Stambul!
Manchmal geschah es, daß diese ungeheure Macht größer wurde, als der Herrscher zu tragen vermochte. Die furchtbare Größe, die ihn umkleidete, drückte ihn zu Boden; er sah sich um und sah, daß er rettungslos der Allmacht zutrieb. Da wendete sich der Herrscher. Und er erließ einen Befehl, daß keiner zu ihm reden und keiner ihm folgen dürfe. Wo ging er hin? Hinab in seine Gärten, um sein Herz Allah zu öffnen, zu den Derwischen, um seine Hoheit im Tanz zu erniedrigen, auf die Berge, in abgelegne Klöster, wo er ein härenes Gewand antat und tage- und nächtelang fastete, obwohl ein so großer Teil der Welt sein war!
Dann änderten sich die Zeiten, die Allmacht der Türkei drückte keinen Sultan mehr. Vom siebzehnten Jahrhundert an geht es abwärts, das furchtbare Kriegervolk versank in Träume. Aber noch war die Türkei eines der mächtigsten Kaiserreiche auf Erden. Es sollte der Tag kommen, da die Barbarenmächte dem Sultan der Türkei ein Schnippchen schlagen konnten, diesem Potentaten, den keiner mehr fürchtete, den nur alle ausbeuteten – ein Herrscher über die Ohnmacht! Kunst und wissenschaftliches Leben in Stambul verfielen, die Bauwerke vermoderten, und der Sultan der Türkei saß in seinem schönen Serail als »der kranke Mann«.
Schon unsre Großväter schöpften Hoffnung; es zeigten sich Grenzen für die Macht der Türkei. Unsre Eltern aber, die hatten allen Grund, sich die Hände zu reiben: England, Frankreich und Rußland vereinigten sich und vernichteten die Türkei bei Navarino.
Und wir?
Wir haben gesehen, wie die Türkei den Rest ihrer Macht verlor. Und dennoch ist sie eines der mächtigsten Kaiserreiche auf Erden. Vierzig Millionen Menschen hat sie unter ihrem Zepter. Und hat bodenlose Reichtümer. Und hat die unerschütterliche Lehre Mohammeds.
*
Als die Sultane sahen, daß es abwärts und immer weiter abwärts ging mit ihrem Lande und ihrem Volke, verfielen manche von ihnen in düstere Grübelei, andre lebten in den Tag hinein und ließen sich's wohl sein bei Trunk und Ausschweifung. Manche ermannten sich auch zu einem Kriege, wenn Europa ihnen zu nahe trat und gemeinschaftlich die Länder des Halbmonds für sich wegnahm. Aber die Türken konnten der Übermacht nicht standhalten, Europa war ihnen über den Kopf gewachsen. Sie kämpften wie Helden, wie die wilden Tiere; aber was konnten sie ausrichten mit ihren Krummsäbeln und Lanzen? Gefährliche, weit tragende Feuerwaffen pflückten ihnen die Köpfe ab. Sie wichen nicht, sie stürmten; aber sie fielen.
Abd ul Hamid II. erbte einen großen Krieg. Im Jahr nach seiner Thronbesteigung mußte er sich gegen Rußland verteidigen. Und er verlor. Er verlor, wie seine Vorväter viele Generationen hindurch verloren hatten. Was in aller Welt war aus den Horden geworden? Hatten sie nicht einst in Wien gestanden? Sollten die Kalifen immer und ewig unterliegen? War der Geist des Propheten von ihnen gewichen? Keineswegs; der Geist des Propheten war über ihnen, und sie verrichteten das Wunder bei Plewna.
Da gaben einige hervorragende Türken Abd ul Hamid den Gedanken ein, daß es vielleicht mit seinen Krummsäbeln nicht so ganz stimme. Wenn der Prophet seinerzeit Siege errungen hatte, so lag das – nächst Allahs persönlicher Hilfe – daran, daß er die besten Waffen jener Zeit kannte und anwendete. Und wie hätten seine Kalifen später sich Arabien unterwerfen, Syrien, Palästina, Mesopotamien, Persien, Ägypten, Nordafrika, Spanien, Sizilien erobern und in Frankreich eindringen können? War das mit Hilfe von Schilfrohren vom Nil oder Sandsäcken aus der Sahara geschehen? Es geschah mit Hilfe des besten Schwertes der Welt!
Abd ul Hamid lernte im Kriege mit den Russen. Er organisierte sein Heer um und kaufte moderne Waffen. Und er verschaffte sich die besten Lehrmeister Europas, um sich im Gebrauch dieser Waffen zu unterweisen. Im Anfang war er wohl nicht Reformator aus Lust und Neigung, sondern aus Not. Aber nicht einmal die Not hat es immer zuwege gebracht, einem selbstzufriedenen Asiaten die Augen zu öffnen. Denn der Asiate hat ja den einzigen Gott der Welt und Gottes größten Propheten – wie kann es ihm da fehlen? Weil aber Europa zu stark wurde, mußte der türkische Sultan in einem Alter, in dem der Asiate in der Regel aufgehört hat, sich zu entwickeln, seine ganze persönliche Denkweise ändern und ein fremdes System annehmen. Ein größeres Wunder hat noch keiner erlebt!
Und mancher rechtgläubige Türke grübelt noch heutigentags darüber nach, warum sein Padischah Europa nicht ausgerottet hat, anstatt zu seinen Waffen und seinen andern Erfindungen überzugehen. Was hätte Suleiman, der Blitz, getan?
Ach, der rechtgläubige Türke versteht nicht, wie schlimm es im Grunde mit seinem Padischah bestellt ist! Da sitzen drei, vier mächtige Fremdlinge in ihren Hotels droben in Pera und bestimmen, was der Padischah zu tun habe. Und tut er's nicht, so lassen die drei, vier Fremdlinge ihre schwarzen Hähne Feuer über die Stadt krähen!
So ist das.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß Abd ul Hamid nach und nach selbst ein bißchen von europäischen Ideen angesteckt worden ist. Selbst wenn man nichts von den wenigen wohlwollenden Aussprüchen über diesen Mann, z. B. daß er »in allem, mit Ausnahme der Religion, mehr Europäer sei als Asiate«, glauben mag, so müssen doch seine Regierungshandlungen ein bißchen für ihn zeugen. Was er vor fünfundzwanzig Jahren an Reformen eingeführt hat, geschah aus Not; was er seitdem eingeführt hat, fängt doch an, Zeichen der Überzeugung zu tragen! In gewissen Richtungen führt er mehr Reformen ein, als von ihm verlangt wird, so errichtet er nacheinander hervorragende europäische Unterrichtsanstalten in der Türkei. Wer hat ihn das geheißen? Sollte er etwa selbst darauf gekommen sein, daß die Methode Suleimans, des Blitzes, veraltet ist, und daß er versuchen muß, Europa mit seinen eignen Waffen zu schlagen?
Was für Unterrichtsanstalten mögen wohl in der Türkei errichtet worden sein? Haben wir nicht zu allen Zeiten das trostlose Geschrei über den unaufhaltsamen Verfall und Niedergang der Türkei vernommen?
Dem Uneingeweihten, der nur so zufällig ein bißchen über die Sache gelesen und ein oder das andere seltene Mal ein paar Türken getroffen hat, die auf etwa gestellte Fragen antworteten – diesem Uneingeweihten scheint es, als ob das Unterrichtswesen in der Türkei keineswegs so ganz skandalös sei, wie wir zu hören gewohnt sind. Da sind zunächst Kinderschulen, öffentliche und private, damit die Türken lesen und schreiben lernen können. Schon das ist etwas; denn ihr Prophet konnte – gleich den Propheten andrer Völker –, zum mindesten nicht schreiben, außer wenn er andre Propheten nachahmte und Hokuspokus im Sand machte. Eine andre Sache ist es, daß vermutlich nicht alle Türken so besonders gewandt in der schweren Kunst des Buchstabenmalens werden! Ein ziemlich starker Prozentsatz der Bevölkerung Frankreichs kann auch nicht lesen und schreiben. Dann gibt es in der Türkei Fortbildungsschulen in etwa hundert größeren Städten; ferner Lehrerseminare in allen Wilajets, endlich die Universität in Konstantinopel. Die Universität hat vier Fakultäten; wie der Unterricht daselbst betrieben wird, darüber weiß ich nicht Bescheid und könnte auch in keiner Hinsicht darüber urteilen. Im Jahr 1892 fiel es der Regierung ein, ein besonderes Landwirtschaftliches Departement und eine Landwirtschaftliche Bank zu errichten, die dem türkischen Fellah Geld zu mäßigen Bedingungen leiht. Ebenso sind in allen Wilajets Ackerbau- und Tierarzneischulen mit den besten Lehrkräften in Betrieb. Auch den Wäldern hat die Regierung ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Es sind in der Türkei enorme Strecken von Wald, zum Teil mit kostbaren Baumsorten, wie Oliven, Zedern, Ebenholz; diese Werte galt es aufrichtige Weise zu behandeln, und die Regierung setzte Forstschulen zur Regulierung der Abholzungen und Neuanpflanzungen in Betrieb. 1885 wurde eine Fischereischule, verbunden mit einer Art Departement zur Ausnützung der reichen Fischereien an der afrikanischen Küste, errichtet, 1888 eine Lehranstalt für Seidenraupenzucht – nach dem System Pasteurs –, ein außerordentlich wichtiger türkischer Erwerbszweig. Hierzu kommen noch Militärschulen, Privatlehranstalten, philosophische Gesellschaften, Klöster, Asyle, Handelsschulen, Bibliotheken; auch ein paar Zeitungen werden herausgegeben.
Es scheint also, als wäre die Türkei seit den letzten fünfundzwanzig Jahren im Zuge, recht wacker nachzukommen. Auch für die, die des Lebens höchste Freude in Eisenbahnen erblicken, ist die Sache nicht ganz hoffnungslos: allein in den fünf Jahren von 1888-1893 erteilte die Türkei die Konzession für zwölf lange und kurze Eisenbahnlinien, die jetzt vollendet oder im Bau begriffen sind.
Aber der rechtgläubige Türke versteht trotzdem nicht, weshalb sein Padischah alle diese Sonderbarkeiten des europäischen Lebens nachahmt. Er versteht nicht einmal, daß mindestens vier Großmächte in der eigenen Stadt des Padischahs ihr eigenes Postwesen haben. Weshalb benützen sie nicht das türkische Postwesen? Weil es nicht sicher ist. Und weil es nicht sicher ist, richten sie ohne weiteres ihr eigenes Postwesen in einem fremden Land ein.
Das kann der rechtgläubige Türke nicht verstehen. Aber Abd ul Hamid und seine Regierung müssen es wohl verstehen.
Im April 1901 wurde die Hohe Pforte von ihrem Gesandten in Paris darauf aufmerksam gemacht, daß in dem Jungtürkischen Revolutionskomitee, das seinen Sitz in Paris hat, Pläne zur Aktion in Gärung seien. Der Gesandte riet der Pforte, die ausländischen Postsäcke, die mit einem näher bezeichneten Zuge anlangen sollten, mit Beschlag zu belegen. Die Pforte tat das; die Briefschaften der Gesandten schloß sie von der Beschlagnahme aus und lieferte sie ab, untersuchte aber die übrigen und behielt die Korrespondenz der Jungtürken zurück. Nun erhoben sich die Mächte, protestierten und verlangten, daß das Geschehene ungeschehen gemacht würde. Die Pforte erklärte und verteidigte die Notwendigkeit einer solchen Handlung; die Mächte jedoch verhießen, sie wollten ihre schwarzen Hähne über den Dardanellen krähen lassen! Da schickte die Pforte ihren Minister des Auswärtigen mit einem Briefe zu den vier mächtigen Herren in Pera; in dem Briefe bat die Regierung um Verzeihung für die Beschlagnahme der Briefe der Revolutionäre und gelobte, es nie wieder zu tun! Der deutsche Gesandte fand die Entschuldigung befriedigend; aber die drei andern mächtigen Herren weigerten sich, die Entschuldigung der Pforte anzunehmen, und wollten mit den Hähnen kommen. Drei Tage darauf ging der türkische Minister des Auswärtigen wieder seinen demütigen Gang zu den mächtigen Herren – mit der gleichen Bitte und dem gleichen Verlangen. Und endlich wurde das Schreiben der Pforte für gut angenommen – aus Gnade!
Nein – und wenn's das Leben gälte –, der rechtgläubige Türke versteht diese Handlungsweise seines Padischahs nicht!
*
Der Padischah muß wohl klug sein, der Padischah muß wohl mit all dem eine kleine Absicht haben. Fürs erste ist er klug aus Notwendigkeit, dann ist er klug aus Berechnung, aus Politik, aus Neigung. Wer weiß. Vielleicht steht vor den Augen des Padischah ein Ziel ,…
Es spitzte sich auf den Krieg mit Griechenland zu, dieser alten türkischen Provinz, die die Mächte im Jahre 1829 losgerissen hatten; Griechenland wollte Kreta haben. Da gab es denn Krieg, und das kleine, schlecht gerüstete Griechenland unterlag. Aber Griechenland hatte die Bischöfin zur Gevatterin: als der Türke Thessalien eroberte, bestimmten die Mächte, daß er Thessalien nicht behalten dürfe; sie bestimmten weiter, daß er ebensogut auch Kreta hergeben könne – das er nie verloren hatte. Der Krieg war also ohne Ausbeute.
Das heißt, der Krieg war der gewaltigste Gewinn für alle Muselmänner über den ganzen Osten hin: die Waffen des Islam hatten vernichtend über eine christliche Macht gesiegt!
Es zeigte sich, daß Abd ul Hamid richtig gerechnet hatte: wenn er Waffen von Europa kaufte und seine Leute lehrte, sie zu gebrauchen, so vermochte er mit dem alten Glück der Kalifen Krieg zu führen. Denn er herrschte ja doch noch immer über das hartnäckigste Kriegervolk der Welt und stritt für die Sache des Propheten. Das Selbstvertrauen der Türken, das darniedergelegen hatte, erhob sich nach dem Kriege mit einem Schlag wieder, Freude durchflutete das gesunkene Volk, und früh und spät stiegen aus den Moscheen Dankgebete zu Allah empor. Wenige nur dachten daran, wie klein Griechenland war, alle dachten daran, wie groß die Türkei geworden war. Aber nicht nur in der Türkei war Freude – durch den ganzen islamitischen Osten ging eine Bewegung des Frohlockens! Die fast dreihundert Millionen in Asien, Afrika und Europa verstreuten Mohammedaner illuminierten ihre Städte, sammelten Gelder für das türkische Heer, schickten Deputationen nach Konstantinopel, um dem Sultan für das, was er getan hatte, zu danken; sogar feindlich gesinnte arabische Stämme überreichten ihm ein großes Geldgeschenk, das er zum Wohl des Islam verwenden sollte.
Denn der türkische Sultan ist der Nachfolger des Propheten und der Kalif des Islam. Er bewahrt den Mantel des Propheten. Und des Propheten Mantel ist es, der im Osten Krieg und Frieden macht ,…
Wer ist der Prophet? An keinen Sterblichen ist je so fest geglaubt worden, wie an ihn! Aus einem kleinen Volke, das steinerne Götter anbetete, trat er hervor; er richtete in seinem Lande den Glauben an einen einzigen wahren Gott wieder auf, er schuf eine Weltreligion. Die Mohammedaner sind geblendet durch ihren Propheten, sind verrückt gemacht durch ihren Propheten! Und er selbst sitzt jetzt in den Gärten der Ewigkeit und erwartet sie alle.
Mohammed, Abdullahs Sohn, wurde im Jahre 569 zu Mekka geboren. Seine Eltern waren arm, gehörten aber dem vornehmsten Stamme der Koreischiter an; die Familie war angesehen, denn erst war sein Vater, dann sein Oheim Oberster des Tempels in der Stadt. Es war dies keine geringe Stellung; denn Mekka war seit undenklichen Zeiten eine heilige Stadt und ihr Tempel, die Kaaba, das höchste Heiligtum Arabiens.
In seinem fünfundzwanzigsten Jahre verheiratete sich Mohammed mit der Witwe Kadischa und wurde reich; und ungefähr gleichzeitig fing er an, epileptische Anfälle zu bekommen. Er legte keinerlei Gewicht auf den Reichtum und fühlte sich in der Atmosphäre von Hochachtung, die ihn jetzt umgab, nicht wohl; dagegen erwarb er sich durch seinen persönlichen rechtschaffnen Wandel ein Ansehen und eine Anerkennung, die ihm kein einziger Stamm verweigerte. Dies Ansehen verspielte er allerdings, als er in seinem vierzigsten Jahre anfing, die Einsamkeit zu suchen und Offenbarungen zu haben. Nur seine Frau und wenige Verwandte glaubten an seine Verzückungen; seine übrige Familie, der Stamm Koreischa, alle Araber verspotteten und verhöhnten den Schwärmer; und als er eines schönen Tages eine große Zusammenkunft einberief und sich zum Propheten erklärte, wurde nach ihm mit Steinen geworfen, und er wurde geschlagen, ja, man trachtete ihm nach dem Leben. Kein Prophet gilt in seinem Vaterlande; Mohammed floh nach Medina. Hier wuchs der Glaube an seine prophetische Mission mit reißender Schnelligkeit. Es war in seiner Lehre eine gewisse Wohlbegründetheit; er hatte ein wenig vom Christentum, etwas vom Mischna und Talmud genommen, er predigte die Wiedereinsetzung des Einen Gottes Abrahams und die Ausrottung aller Steingötzen. Nach einigen weiteren Verzückungen begann er den Koran zu diktieren, der niedergeschrieben und verbreitet wurde, und je weiter seine Lehre bekannt wurde, desto mehr wuchs die Anhängerschar Mohammeds, bis sie zu einer Masse, einer Macht wurde. Mit dieser Macht im Rücken beschloß er, hart gegen hart zu setzen: es wurde ihm die Offenbarung von der Ausbreitung des Islam durch Waffengewalt. Kaum war er nach einem bösen epileptischen Anfall wieder zu sich gekommen, da verkündete er diese Lehre mit prophetischer Glut: Manchen Propheten hat Allah gesandt; Jesus Christus war einer von ihnen. Er war gerecht, er lebte in Reinheit, er tat Wunder – und nichts von dem allen war doch imstande, die Menschen zu bekehren. Mich, Mohammed, den letzten Propheten, hat Allah mit dem Schwerte gesandt!
Wie mußte das den Arabern, diesen geborenen Kriegern und Piraten der Wüste, munden, als ihnen Gottes Erlaubnis, ja sein Befehl zum Kämpfen kam!
Und der Krieg begann. Mohammed eroberte Mekka, er unterwarf sich jüdische und arabische Nachbarstämme, er errang Siege über die Römer in Syrien. Und Mohammed starb, und der Krieg währte fort; überall siegte der Islam; der Krieg nahm niemals ein Ende.
So war der mohammedanische Krieger beschaffen: er ging voll Jubel in die Schlacht, zügellos, ohne Befehl, ohne einen andern Gedanken als den Triumph! Denn für jeden Tropfen Blutes, den er um des Glaubens willen vergoß, würde er im Jenseits wunderbar belohnt werden. Blieb er am Leben, so wartete seiner sein Lohn, fiel er, so ging er sofort zu den Freuden des Paradieses ein. Der Koran beschreibt sie genau, diese Freuden: sie bestehen – nach arabischen Vorstellungen – unter anderm darin, daß man in einem seidnen Zelt, in Fluten von Milch und Honig, unter Bergen von Blumen lebt. Die Erde ist im Garten des Paradieses gleich Weizenmehl; wenn die Bäume sich im Winde bewegen, flutet Musik über den Garten hin. Und jedem Glaubensstreiter werden viele dunkeläugige Huris zur Gesellschaft.
War es nun richtig, so, mit dieser Todesverachtung, in den Kampf zu gehen? Mußte man sich nicht in acht nehmen, sich decken? Auf diese Frage gab Mohammed eine Antwort, die für spätere Zeiten von größter Bedeutung werden sollte, denn sie machte seine Krieger so gut wie unüberwindlich. Es war nach der Schlacht von Ohod, wo viele der Leute Mohammeds gefallen waren, unter ihnen sein eigner Oheim; später standen die Krieger vor Mohammed und verteidigten sich wegen ihrer Flucht. Da verkündete der Prophet – als Willen Gottes – die Lehre von der Prädestination: das Schicksal eines jeden ist von Allah vorausbestimmt; wenn die Stunde gekommen ist, wird der Tod ihn fällen, sei es nun auf dem Schlachtfelde oder auf dem Siechenlager. Mohammed begriff sicherlich außerordentlich gut den Unterschied zwischen Soldaten, die sich in acht nehmen, und Truppen, die blind drauf losgehen, sei es zum Leben oder zum Tode, was ja doch alles voraus bestimmt war. Der Glaube an die Vorausbestimmung mußte die blinde Wildheit verstärken und mußte zu allen Zeiten der Unzufriedenheit und der Demoralisation in einem Heere vorbeugen. Was Mohammed vielleicht im voraus berechnet hatte.
Denn wohl wird Mohammed nicht als besonders starker Heerführer angesehen; aber er war ein glänzender Theoretiker. Um den Krieg für den Islam allem voranzustellen, scheute er nicht einmal die Sabbatschändung. Und er wagte diesen Streich zu einem noch frühen Zeitpunkt, als seine Autorität bei weitem noch nicht befestigt war. Das war, als er seine Leute mitten im Rhamadan, dem heiligen Monat, da alle und alles Frieden haben sollen, eine Mekkakarawane überfallen ließ. Es erhob sich denn auch ein Sturm gegen ihn, aber Mohammed verkündete nach seinem nächsten Anfall die göttliche Sanktion der Missetat und ließ sie im Koran aufzeichnen. Welche Sanktion die Kalifen sich für später gemerkt haben.
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Nun aber hinterließ der Prophet unter andern Kleinigkeiten einen Mantel. Und dieser Mantel wird in dem alten Serail zu Konstantinopel aufbewahrt; der Kalif, der türkische Sultan, ist sein Hüter. Des weiteren verhält sich die Sache so: der Mantel soll nie zu sehen sein, außer wenn der Islam in höchster Not ist. Wenn aber die Not da ist, so soll der Mantel vor den Augen alles Volks im Winde entfaltet werden; und jeder Mohammedaner muß da um des Glaubens willen zum Schwerte greifen. Dies Entfalten des Mantels wird auch nie seine Wirkung verfehlen; ihn enthüllen, heißt eine Allmacht enthüllen! Das ist des Kalifen letzte Zuflucht!
Freude durchflutet den Osten ob des Sieges über Griechenland; und gleichzeitig wächst der Haß gegen die »Ungläubigen«. Das Vorgehen der christlichen Mächte gegenüber dem Sieger, das stete Vorgehen der christlichen Mächte im Osten bringt den Haß ab und zu zum Aufflackern. Eines Tages kann er in heller Lohe stehen!
Die christlichen Mächte können die Sache ja leicht nehmen; kein Land vermag sich Europa gegenüber zu behaupten, die ganze Welt könnte sich wohl kaum Europa gegenüber behaupten! Aber die lichte Lohe im Osten könnte das herbeiführen, wovor der Menschheit und dem Jahrhundert graut: einen Weltbrand. Man spielt nicht mit dem Feuer. Aber wenn man damit spielt, müssen viele daran beteiligt sein. So daß der, der es entzündet – niemand gewesen ist!
Man spricht von dem Tage, da Rußland in Konstantinopel stehen wird. Nun ist es ja gar nicht so ganz unmöglich, daß Rußland nie in Konstantinopel stehen wird; wenn ein Reich zu groß wird, so pflegt das Schicksal ein wenig zu regulieren, es sacht in Stücke zu schlagen und die geraubten Länder wieder auszustreuen. Es hängt von Europa ab, wo für Rußland am Schwarzen Meer die Grenze sein wird; und – seltsam genug – es hängt auch ein klein wenig vom Osten selbst ab. Laßt es nur so weiter gehen, wie es bisher gegangen ist, womöglich noch ein bißchen schlimmer – der Osten wird sich still und gleichmäßig vorbereiten, und eines Tages steht er bereit. Denn der Osten hat den richtigen Weg eingeschlagen und hat – nach der Berechnung der Sachverständigen – Zeit vor sich, ihn weiter zu verfolgen.
Wenn der mohammedanische Dreimächtebund zustande kommt, ist der Osten nicht ohnmächtig; und die Türkei, Persien und Afghanistan haben für eine und dieselbe Sache zu kämpfen. Und für eine und dieselbe Sache werden weiter die achtzig Millionen Mohammedaner streiten, die England regiert, die vierzig Millionen in China, die dreißig Millionen in Afrika, die vierzig Millionen unter russischer und holländischer Herrschaft. Zählt man die Millionen zusammen, so werden es ihrer recht viele! Und aus diesen Millionen werden Hunderttausende an waffentüchtiger Mannschaft hervorgehen. Rechnet man noch dazu, daß die großen mohammedanischen Staaten, die Türkei an der Spitze, europäische Kriegskunst lernen und modernes Material kaufen, daß sie die Verteidiger des Islam zu Soldaten haben, daß sie den Mantel des Propheten besitzen ,…
Der rechtgläubige Türke kann mit dem Turban nicken und ruhig sein: sein Padischah tut alles, was zur Zeit ihm zu tun möglich ist. Der Padischah ist klug und hat angefangen zu lernen. »Der kranke Mann« ist munter wie ein Fisch; jetzt wartet er bloß und wächst und mehrt seine Kraft. Die drei mächtigen Herren in Pera sollten sich lieber auf ein anderes Vergnügen besinnen, als im Osten Funken zu schlagen. Sie sollten lieber von dem vierten Herrn lernen, der in germanischem Ernst die Türkei gerade vor ihrer eigenen Nase zivilisiert und ausbeutet. Die Resultate dieser Taktik werden sich wohl einmal zeigen!
»Der kranke Mann« blickt über den Osten hin und rechnet nach. Es geht vorwärts mit ihm, stetig vorwärts, die Kräfte nehmen zu, es tagt. »Der kranke Mann« am Bosporus ist der Mann, der eines Tages zum Serail der alten Sultane herniederschreiten, den Mantel des Propheten entfalten und die Welt in Brand setzen kann. Der Mann ist er.
Der Islam war einst der Träger einer hohen und feinen Kultur. Mit Konstantinopel als Hauptstadt einer mohammedanischen Konföderation würden die Zivilisationen des Ostens und des Westens ihre Quellen vermischen, und es würde möglicherweise eine neue Kultur in lebendigem Strom einherbrausen. Es gibt ja Toren, die nicht imstande sind, das Heil der Welt und das Leben der Zukunft nur in Eisenbahnbau und Sozialismus und amerikanischem Geschrei zu erblicken; so könnte diese neue Kultur die der Toren sein. Und könnte dastehen – eine kleine Kuriosität, die die Milliardäre der Welt sich zu leisten vermögen!
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