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Der Kirchenbesuch des Sultans

Heute ist Freitag. Der Sultan geht zur Kirche. Jetzt gilt's, Zutritt zu der Feierlichkeit zu erhalten. Nicht zur Moschee, die Se. Majestät mit dem Gefolge allein betritt, aber zu dem Schauspiel außerhalb der Moschee, zum Schauspiel einer orientalischen Parade.

Zwei Tage lang haben wir daran gearbeitet, diesen Zutritt zu erlangen; jetzt gibt uns die Gesandtschaft einen Brief, der uns auch die innerste Tür öffnen soll. Der Brief ist an » Son Excellence, Monsieur l'Aide de Camp du Service pour la Cérémonie du Sèlamlic etc. etc. etc. Palais Impérial de Yildiz.«

Merkwürdig, denke ich, wie geschmeidig doch die französische Sprache ist! Wie würde so eine Adresse auf Norwegisch lauten? Herrn Dalai Lama, Lhassa, Tibet. Nackte Fakta. Kein Usw., kein wer weiß wie langes Festhalten ein und desselben Gegenstandes! Wie beträgt sich nicht allein schon das Landvolk in Norwegen, wenn es einen Brief erhält! Haben sie den Verstand dazu, ihn in einer Sekunde aufzureißen, den Umschlag auf die Erde fallen zu lassen? Ganz genau wollen sie wissen, von wem der Brief ist, bevor sie ihn annehmen. Und der Bote muß oft noch Bescheid darüber geben, was im Brief stehe, bevor er ihn abliefern darf. Was für eine Meinung muß so was »dem Ausland« von unserm »kleinen Volke« beibringen! ,…

Wir fahren in einem ganz gewöhnlichen Wagen, den wir gemietet haben. Aber wir haben einen Diener auf dem Kutschbock, unsern Griechen, der alles Äußerliche für uns tun muß, der die Wagentür aufreißen, vorangehen und uns den Weg zeigen und uns die Mäntel – mit dem Seidenfutter nach außen – tragen muß. Die Leute, denen wir begegnen, schenken uns keine Aufmerksamkeit, sie ahnen nicht, daß wir einen Brief an Se. Exzellenz den Zeremonienmeister oder an seinen Aide – was ja auf eins herauskommt – in der Tasche haben. Oho! Wie dumm das ist von den Leuten, daß sie uns keine Aufmerksamkeit erweisen! Wir könnten Bittschriften von ihnen mitnehmen, könnten an allerhöchster Stelle für sie sprechen. Sie blicken gerade so interessiert auf einen Wagen hinter uns, einen Wagen mit Deutschen. Diese Deutschen wollen natürlich auch auf den Moscheeplatz, denken wir; aber ins Haus gelangen die nicht, kein Drandenken!

Je weiter wir vorwärtskommen, desto mehr und mehr Leute werden es, durch die man sich hindurchschlängeln muß, Militär zu Pferde und zu Fuß, Musik, gemeine Neugierige, alle drängen nach demselben Ziel. Wir sprechen unserm Griechen den Wunsch aus, in eine Seitenstraße einzubiegen, in der wir rascher vorwärts kommen können. Der Kutscher tut wie ihm befohlen wird. Aber es half nichts, es waren hier genau so viel Leute. In ganz Galata und Pera wimmelt es von Menschen, die alle nach einem bestimmten Punkt hinter Beschick Tasch wollen, nach der Hamidiémoschee.

Militärmusik belebt unsre endlose Fahrt, bald aus der Straße, bald aus jener hört man Hörner blasen. Es fällt uns auf, daß die berittenen Offiziere mit Musik rascher vorwärtskommen, die aufgeweckten Jägerpferde durchzuckt Freude beim Klang der Trompete, und sie tanzen mit aufgeblasenen Nüstern, wenn die Trommel gerührt wird!

Da drinnen ist des Sultans Sommerresidenz, sagt der Führer, als wir an einem vergoldeten Tor vorbeifahren. Wir kommen an eine ungeheure Mauer, und der Führer sagt: Das ist der Harem des Sultans. Die Mauer ist zweihundert Fuß hoch; wir sehen die Türme mehrerer Paläste darüber emporragen. Der Harem ist groß.

Der Sultan der Türkei soll, nach alter Sitte, »das Recht auf dreihundert Frauen« haben. Und wir im Westen glauben, daß er so viele habe. Solch ein Wollüstling ist er!

Fürs erste ist in Betracht zu ziehen, daß der Sultan der Türkei sich nicht vermählen kann. Dies Gesetz ist in dem Tatarenzelt gegründet worden, als er noch Stammeshäuptling war. Seine Macht durfte nicht eingeschränkt werden, er besaß nicht etwas Einzelnes, sondern alles und alle. Auch seine Vorväter waren nicht vermählt; der Sultan selbst ist der Sohn einer Sklavin.

Fürs andre hat er eine Gemahlin: die Mutter des künftigen Sultans. Diese Sklavin wird legalisiert und tritt ungeheure Würden und Rechte an, die keine türkische Macht je wieder von ihr nehmen kann. Man stelle sich vor, daß diese Frau mit der ungeheuren Macht zweihundertundneunundneunzig Rivalinnen dulde! Wie ein Orientforscher sagt: da kennt man die menschliche Natur und die Frauen des Orients schlecht! Eine andre Sache ist es, daß das System mit den Lieblingsfrauen sich auch hier geltend macht, und zwar hier mit dem freiesten Spielraum, als vom Propheten selbst autorisiert. Und schon weil eine solche Lieblingsfrau nicht gern Rivalinnen um sich her auftauchen sieht, ist anzunehmen, daß die Zahl der letzteren beschränkt ist. Vambéry, der den Orient durch und durch kennt, gibt uns Gelegenheit, diese Verhältnisse mit denen abendländischer Majestäten zu vergleichen.

Zum dritten beachte man, daß der Harem keineswegs aus »Frauen« des Sultans besteht, sondern eine Gemeinschaft sämtlicher Damen des kaiserlichen Hauses mit ihren Sklavinnen und den Dienerinnen der Sklavinnen ist. Da ist zuerst der Harem des abgegangenen Sultans. Dieser wird vom nachfolgenden Herrscher unterhalten. Dann sind da des Sultans Mutter, seine Schwestern, Tanten und Nichten mit Sklavinnen und Dienerinnen der Sklavinnen in die Hunderte. Abdul Medschids Harem war seinerzeit fabelhaft – zwei-, manche sagen, viertausend Frauen – und verschlang ungeheure Summen jährlich. Wie konnte er anders als groß werden und Unsummen verschlingen? Allein die Schatzmeisterin seiner Frau Mutter hatte fünfzig Sklavinnen, von denen jede eine oder zwei Dienerinnen hatte.

Es ist dies ein Maßstab, nach dem im Orient gerechnet wird. Große Dienerschaft ist ein Zeichen von Rang und Ansehen. Die betreffenden kaiserlichen Damen oder Gemahlinnen versehen sich selbst mit Sklavinnen. Wir haben uns erzählen lassen, daß die Sultane in ihrer Ruchlosigkeit unmenschliche Agenten auf einen Markt in Konstantinopel geschickt und Schönheiten für den Harem hätten aufkaufen lassen. Eine Fabel, die der abendländischen Phantasie würdig ist: vermag sie auch sonst wenig, so weiß sie sich doch auf diesem Gebiete sachverständig zu tummeln.

Zu allen Zeiten haben die Damen Wert darauf gelegt, daß ihre Sklavinnen zahlreich und von gutem Aussehen waren, sagt Vambéry. Es ist also für sie eine Art Luxus, ähnlich dem Schmuck. Die fünfzig Sklavinnen der oben erwähnten Schatzmeisterin waren denn auch wegen ihrer Schönheit berühmt. Die Sklavinnen werden in ihrer Kindheit erworben – brutal für bares Geld gekauft – und im Harem aufgezogen, sie wachsen heran, nehmen immer höhere Stellungen bei ihren Herrinnen ein und erhalten schließlich selbst eine kleine Sklavin zu ihrer Bedienung. Aber der Herrin gehören sie alle, und sie kann sie verkaufen, wenn sie will. Das ist nun so ein Fall, wobei sich ja wohl der Sultan als Herr des Hauses zeigen und eines schönen Tages den Sklavinnenhandel abschaffen müßte – freilich. Aber der Sultan ist selbst Orientale und findet es vielleicht ganz angenehm mit der ganzen schönen Dienerschaft. Außerdem ist es möglicherweise gar nicht so leicht, diese Änderung einzuführen, da sie eine tausendjährige soziale Einrichtung bei seinem Volk umstoßen und zudem die Religion angreifen würde.

Aber solch, eine Ungeheuerlichkeit wie das System mit den Günstlingsfrauen, ganz offen am Hofe ausgeübt, – wie wirkt das auf das Volk? Die Türkei müßte ja doch in Grund und Boden hinein ruiniert sein. In den mohammedanischen Ländern, die ich kenne, sagt Vambéry, gibt es unter Tausenden kaum einen Hausherrn, der von der gesetzlich gestatteten Vielweiberei Gebrauch machte. Bei Türken, Persern, Afghanern, Tataren ist im allgemeinen die Vielweiberei unerhört, undenkbar. Das deutet auf eine nicht geringe Erziehung in der Kultur, im Verantwortlichkeitsgefühl hin. Sie haben die Erlaubnis, der Prophet hat die Torheit nicht verboten, der Prophet hat sie vielmehr durch sein Beispiel viel eher geboten; aber der richtige Türke entsagt dem ganzen Vergnügen. Nun ist es ja allerdings wahr, daß mehrere Frauen auch größere Ausgaben mit sich bringen; dem armen Fellah sind also schon aus diesem Grunde derlei Flottheiten abgeschnitten. Aber alle die hohen Herren, die es sich leisten können? Und der ganze Mittelstand? Alle die Leute innerhalb der Bürgerklasse, die mehr haben, als sie gerade zum täglichen Brot bedürfen? Wie viele sind da nicht, die die Brotscheiben, die Weintrauben und das Feigenwasser für zwei Frauen beschaffen könnten? Und viele könnten ja so töricht sein und denken: drei kosten auch nicht viel mehr; ich nehme mir drei! Die dritte könnte ja dann ein bißchen weniger kriegen und nur so als ein kleiner Abglanz der zwei andern dabeisitzen und die magerste sein!

Aber eine Frau hat der arme Fellah, und eine Frau der hohe Effendi. Der Herrscher ist eine mehr oder minder einzig dastehende Ausnahme – wie im Abendlande.

Ich denke daran, was wohl in den Mittelklassen in Europa werden sollte, wenn die Religion die Vielweiberei gestattete und das Gesetz sie nicht verböte! Was für eine uneindämmbare Frivolität da im Haus und auf der Straße herrschen würde! Nach jedem Christianiakrach würde da auf einmal ein Harem den Aktivposten in der Konkursmasse darstellen!

Wir kommen zur Hamidiémoschee und steigen aus. Den Wagen lassen wir vom Griechen bezahlen; es ist das Amt unseres Dieners, malpropre Scheidemünzen zu zählen. Der Wagen mit den Deutschen folgt uns auf den Fersen und hält auch am Portal. Wo wollt denn ihr hin? denke ich und gebe den Deutschen mit einem Blicke zu verstehen, wie hoffnungslos es ist. Hier schlüpft nicht jeder erste beste hinein!

Diesen Weg! sagt der Grieche und geleitet uns über den großen Platz. Von der Moschee aus führt eine mit Sand bestreute Straße auf die Höhe des Hügels, wo Yildiz Kiosk, das Sternenzelt steht; wir sehen einen Flügel des Schlosses zwischen Bäumen und hohen Blumengewächsen. Auf dem Hügel ist schon eine Menge Militär versammelt, aber noch ohne Aufstellung; die Offiziere schlendern umher, schwatzen miteinander und rauchen.

Wir geraten zwischen hohe Offiziere, die kommen und gehen, passieren eine Wache und treten in ein Haus, links vom Sternenzelt. Der Grieche führt uns glänzend; er deutet auf einen Tisch und sagt: Da sitzt der Zeremonienmeister!

Er ist kein Mann der Form, der gute Grieche! Er trieb uns durch einen Knäuel von Offizieren um den andern, ohne uns nur Zeit zu lassen, uns dünn zu machen, er passierte die Wache, ohne zu grüßen, während ich den Hut abnahm und die Honneurs erwiderte. Ich trug auch den Brief der Gesandtschaft in der Hand, damit alle sehen könnten, daß ich notwendig den Zeremonienmeister sprechen müsse. Da sitzt er, sagte der Grieche.

Ich trete an den Tisch heran und bleibe vor dem reichstdekorierten Mann stehen, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Die Orden hängen ihm in dicken Trauben von beiden Schulterblättern bis auf den Bauch hinunter. Seine Uniform ist von hellem Tuch. Ich nehme an, daß die Türken auf dem Standpunkte der norwegischen Landbevölkerung stehen, und daß ich Rechenschaft ablegen müsse, von wem der Brief sei und was er enthalte, bevor ich ihn abliefern dürfe. Ich verbeuge mich also und reiche dem Zeremonienmeister meinen Brief als sei er ein gewichtiger Brief.

Eure Exzellenz, sage ich, ein Brief von der norwegischen und schwedischen Gesandtschaft.

Du großer Gott! hätte er eigentlich antworten müssen und aufstehen und sich verbeugen. Aber er blieb sitzen. Meine Rede machte keinen Eindruck; der Mann nimmt den Brief, reißt ihn in einer Sekunde auf und läßt den Umschlag auf die Erde fallen. Es ist doch großartig, wie weit diese Türken gekommen sind! denke ich. Der Mann liest den Brief mit einem Lächeln. Mit einem Lächeln. Meine Reisegefährtin sagte, er habe über mein Französisch gelächelt; aber ich glaube, er lächelte über das Französisch des Briefes. Er winkt mit der Hand, ein dienstbarer Geist in Goldbrokat tritt herzu und führt uns in ein Nebengemach. Unsern elenden Griechen ließen wir draußen.

Es sind drei große Fenster hier, wir haben den Hügel gerade vor Augen, das Sternenzelt oben zur Linken, die Hamidiémoschee vor uns zur Rechten. Der Sultan muß auf zwei Schritte Entfernung an uns vorüberkommen.

Ein entzückender Aussichtsplatz, den wir da bekommen haben! Da es verboten ist, den Sultan durch den Feldstecher anzusehen, haben wir die Gläser im Hotel zurückgelassen: aber ich putze meine Brille ordentlich. Es scheint, als ob das Gemach für uns reserviert bleibe; wir hören andre Fremde die Nebenzimmer füllen, aber unsre Tür öffnet keiner. Und ich nicke und finde das ganz in der Ordnung.

Draußen auf dem Platz erscheint eine Truppenabteilung nach der andern, ein kurzes Kommando ertönt, und die Abteilung schwenkt auf ihren Platz ein und steht still. Der Hügel füllt sich nach und nach mit ganzen Menschenmassen. Zahllose Regimenter aus Völkern aller Länder und Reiche des Sultans marschieren unter Musik und Trommelwirbel auf, zwei, vier, acht Reihen hintereinander sind aufgestellt, die Masse des Fußvolks und der Reiterei wird zu dicht, sie schwellen bis in alle Seitenstraßen, sie besetzen jeden Fußbreit Erde, so weit das Auge reicht. Die Sonne scheint auf das Ganze und schlägt Flammen aus den Uniformen voll Gold und Silber, aus den vergoldeten Federbüschen, aus den Orden der Offiziere, den Säbeln, den Bajonetten, den Gewehrläufen, aus den Instrumenten der Musikkorps. Ein unvergleichliches Spiel von Glanz und Herrlichkeit! Luxusequipagen mit der vornehmsten Welt Konstantinopels drängen sich durch die Truppen, gefolgt von riesenhaften Eunuchen zu Pferde. Weit drunten tauchen Myriaden roter Roßschweife auf, hoch in der Luft, auf Lanzenspitzen getragen: es ist ein Regiment Ulanen, das sich auf lauter weißen Arabern nähert. Einen Augenblick später hallt die Erde vom Stampfen der Infanterie wider; es sind Albanesen, die da kommen und auf ihren Platz einschwenken. Sie tragen Sandalen, die Beine mit Lederriemen umschnürt, darüber rockartige Kniehosen aus weißem Tuch. An der Seite haben sie lange Schwerter. Da stehen sie, die berühmten Albanesen, wie eine Mauer, stumm, regungslos; im Krieg heulen sie, nicht aus Schmerz – aus Raserei! Ihr letzter Gedanke gilt dem Tode ,… Wieder erklingt das dumpfe Gedröhn einer Menschenmenge auf dem Marsche – Klarinetten und Trommeln nähern sich – von einer andern Seite her schwenken die Zuaven ein und machen dicht vor der Moschee halt. Sie haben gewundene grüne Turbane auf, ihre ganze Uniform ist blau und grün. Offiziere mit dem Tarbuch, dem Turban oder der Astrachanmütze bewegen sich, ab- und zugehend, vor den Truppen; da und dort verdunkeln Neger aus Nubien die Reihen; aus fernen Landen sind ein paar Reiter da, im Dolman, mit weiten, herabfallenden Ärmeln, die Hüte mit Leopardenfell verbrämt. Die Kurden stehen im Glied gleich Männern aus Eisen; sie tragen prachtvolle Westen, die ihre Weiber gestickt haben, offne kurze Jacken und auf dem Kopf kleine Seidentücher. Ab und zu geht ein grüngekleideter türkischer Feldpriester mit dem Säbel über dem Mantel vorbei.

Araber, Albanesen, Lasen, Kurden, Tscherkessen, Tataren, Beduinen, Armenier, Syrer sind hier. Viertausend Reiter und sechstausend Mann Fußvolk.

Jetzt kann der Sultan kommen.

Unsre Tür geht auf, und die Deutschen aus dem Wagen treten geräuschvoll ein. Die auch! Solch eine Aufdringlichkeit! Sie sprechen laut miteinander und finden die Pracht draußen auf dem Platze famos! Was hätte es nun Sr. Exzellenz dem Herrn Unterzeremonienmeister geschadet, wenn er dies Gemach mit drei Fenstern bloß für uns beide allein reserviert hätte? Wir hätten dafür auch seiner gedacht, wir hätten ihm einen Gegendienst geleistet. Jetzt hat er diese Gelegenheit, der Türkei in Europa gute Freunde zu verschaffen, verpaßt!

Es ist, als wäre mit diesen Deutschen auch über den Moscheeplatz draußen ein disharmonisches Element verbreitet. Ein paar schwarzlackierte europäische Equipagen durchbrechen den Kordon und rollen den Hügel hinauf. Es sind fremde Gesandte, die dem Herrscher des Landes ihre Aufwartung machen wollen. Eine Aufwartung mit geballter Faust, mit einem Lächeln, das die Zähne zeigt! Die Wagen verschwinden im Portal des Sternenzeltes.

Öfter und öfter geht jetzt unsere Türe auf und läßt neue Neugierige herein; wir erkennen sogar die Yankees aus unserm Hotel, die einer der drei andern Führer des Hotels hierher gebracht haben muß, der Satan! Wir hätten den Führer bestechen sollen, damit er es hätte bleiben lassen! Eine gemischte Gesellschaft, in die wir da geraten waren, das muß man sagen! Die Deutschen – na, meinetwegen! Es sind vielleicht Barone; einer von ihnen sieht soweit ganz bedeutend aus. Aber die Yankees – was sind die? Chikagoleute, Börsenmänner mit ihren Frauen! Nächsten Freitag werde ich das nicht dulden!

Die Luft wird auch recht dick in unserm Zimmer. Die Yankeedamen haben Düfte von mancherlei Art an sich; die Fenster gehen gerade nach Süden, und die Sonne brennt wie verrückt zu uns herein! Und wir werden ganz dicht an die Scheiben gepreßt. Aber wir harren aus, um der guten Sache willen!

Jetzt kommen rotgekleidete Männer und bestreuen die Straße mit frischem Sand, andre bringen Wasser und besprengen sie. Es ist beinahe ein Uhr; die Uhr auf der Hamidiémoschee zeigt fünf Minuten vor halb sieben.

Jetzt kann der Sultan kommen ,…

Oben auf der höchsten Galerie des Minaretts der Moschee taucht plötzlich ein Turban auf und ein alter Mann. Es ist ein Mullah, der sogenannte Muezzin, der Gebetsausrufer. Er ist innen im Minarett emporgestiegen und steht jetzt mit gekreuzten Armen oben und wartet. Es vergehen ein paar Minuten.

Da bricht ein brausendes Signal von allen Musikkorps auf einmal los, alles um uns her erzittert von Hörnern und Trommeln; in demselben Augenblick öffnet sich das Schloßportal, und fünf Wagen rollen hintereinander den Hügel herab. Es sind große und kleine Prinzen und Prinzessinnen mit Paschas und hohen Militärs auf den Rücksitzen. Zwei von den Wagen sind geschlossen, darin sind Frauen. Läufer in Goldbrokat vom Scheitel bis zur Zehe begleiten die Wagen zu Fuß.

Es vergehen zwei weitere Minuten, die Moscheeuhr zeigt halb sieben, da kommt mit einemmal Leben in die Truppen. Ein einzelner langer Trompetenstoß erschallt, ein Offizier kommt aus dem Tore des Sternenzelts und den Hügel herunter, ein Stück hinter ihm kommt noch einer, beide mit gezogenem Säbel. Als sie ganz unten an der Moschee sind, präsentieren alle Truppen das Gewehr: der Wagen des Sultans kommt aus dem Schloßportal.

Der Sultan hat zwei rote Araber vor seinem Wagen. Er läßt im Schritt fahren. Das heißt, es ist unmöglich, diese wunderbaren Rassetiere im Schritt zu halten, sie tänzeln, sie schnauben mit weitgeöffneten Nüstern, sie machen elastische Sprünge, sie spielen mit der Erde. Ihre Mähne reicht ihnen bis zur Brust, ihr Schweif fegt den Hügel. Sie sind wie Menschen, denen der Kutscher leise zuredet; eine Weile sehen wir ihnen gerade ins Gesicht, ihre Augen funkeln. Sie sind überwältigend prächtig aufgezäumt.

Der Wagen ist dunkelgrün, fast schwarz, lackiert, ohne Prunk, ein modernes europäisches Fuhrwerk. Das Verdeck ist halb zurückgeschlagen. Darin sitzt der Sultan, ruhig, stumm, hier und da mit der behandschuhten Hand grüßend an seinen roten Tarbuch hinauflangend. Auf dem Rücksitz hat er zwei seiner Minister. Hinter dem Wagen drein wimmelt es von Haufen goldbetreßter Lakeien, Kammerherren, Offizieren, Läufern, alle zu Fuß.

Der Sultan nähert sich uns. Er trägt einen dunkelblauen Rock, darüber einen einfachen grauen mit schwarzem Band eingefaßten Militärmantel. Gerade vor unsern Fenstern schlägt er die Augen auf und blickt zu uns herauf; er weiß wohl, daß Freitags diese Fenster meist voll von Abendländern sind, von denen einige ihn dumm und blind wie Köter hassen. Sein Blick war offen und rasch; als er ihn wieder zurückzog, bemerkte ich, daß seine Augenlider zitterten. Abd ul Hamid ist von mittlerer Türkengröße und hat ein ganz gewöhnliches Gesicht mit einer etwas krummen Nase und einem graugesprenkelten Vollbart. Das Haar an den Ohren hatte etwas Zottiges.

Der Wagen hält drunten an der Moschee, wo die Garde des Sultans präsentiert. Der Herrscher steigt aus und geht die Stufen hinauf. Ein Priester, der sich bis auf die Erde verneigt, empfängt ihn, der Sultan geht an ihm vorüber und verschwindet vor unsern Augen im Innern der Moschee.

In demselben Augenblick ruft der Mullah auf der Galerie des Minaretts etwas über die Volksmassen hin: er ruft die Gläubigen zum Gebet.

Nun nehmen die Truppen das Gewehr bei Fuß; einige der Offiziere stecken sich Zigaretten an. Ab und zu ertönt Gesang aus der Moschee ,…

Er hat gar nicht fürchterlich ausgesehen! sagten die Yankeedamen. Ob sie darüber enttäuscht waren? Ich weiß, ich für mein Teil gönnte diesem Manne ein menschliches Gesicht und eine würdige Haltung gerade vor unserer Nase. Mein altes Mißtrauen gegen das Urteil der sensationellen Presse über den türkischen Sultan ward dadurch zwar nicht besonders verstärkt, aber auch nicht ausgerottet. Wo war das Grausame an diesem Mann? Das Lauernde, das Entsetzliche, der Mörder – wo war das? Ich habe ihn auch später noch einmal gesehen, und sein brauner Blick sprach mich durch seinen offnen, wohlwollenden Ausdruck an.

Er sah abgearbeitet aus. Die Honneurs der Truppen erwiderte er mit asiatischer Gleichgültigkeit. Aber auch dieser Gruß ist etwas, was er sich ganz persönlich auferlegt hat. Sein Vorgänger auf dem Thron, Abd ul Asis, hat niemals wiedergegrüßt. Will man ganz gerecht urteilen, so müßte auch dieser kleine Zug von der tierischen Natur des jetzigen Sultans abgezogen und seiner etwas menschlicheren zugerechnet werden. Ich las neulich in einer Depesche, Abd ul Hamid sei so aufgescheucht und nervös, daß er des Nachts Messer neben seinem Bette liegen haben müsse. Seine Gemahlin hätte sich im Schlafe gerührt, hieß es, und der Sultan in seinem Entsetzen sei aufgefahren und hätte ihr das Messer in den Leib gestoßen. Es ist gerade so, als hätte der türkische Sultan ein ausgezeichnetes norwegisches Sprichwort von der Wurst in der Schlachtzeit auswendig gelernt: Er hat ja noch zweihundertneunundneunzig Frauen! Eine andre her!

Jahraus, jahrein hallen die Zeitungen von den Unmenschlichkeiten des Sultans wider. Nur selten kommt auch einmal eine Nachricht, die auffallend stark vom allgemeinen Urteil der Journalisten abweicht. Der vorige amerikanische Gesandte bei der Pforte, Terrell, hat eine solche Mitteilung veröffentlicht, General Wallace, der Verfasser von »Ben Hur«, eine weitere, Pierre Loti, ein alter Konstantinopolitaner, der den Sultan persönlich kennt, eine dritte, Sidney Whitman, »ein mit türkischen Verhältnissen wohlvertrauter Schriftsteller«, eine vierte. Es sind dies nur Tropfen im Meere der Presse, aber vielleicht haben sie doch ein bißchen Gewicht. Und worauf zielen diese Mitteilungen? Abd ul Hamid sei »ein Mann von seltnen intellektuellen Fähigkeiten«, aber ohne die Fähigkeit, »mit Wissen und Willen grausam zu sein«. »Kein europäischer Souverän unterhalte seine Gäste mit mehr Würde und feinerer Bildung«. »Er habe mehr für die Aufklärung seines Volks getan als irgendeiner seiner Vorgänger. Er verdiene hohes Lob«. »Die armenischen Metzeleien« seien von den Armeniern selbst angezettelt worden, damit sie nachher »das Blutbad« als Agitationsmittel benutzen könnten.« Die Mächte vernahmen das Geheul der Armenier und forderten augenblickliche Reformen in Armenien. Die Reformen gingen darauf aus, die Armenier zu bewaffnen und ihnen Rechte zu geben, die sie mit einem Schlage zu Herren in dem Lande machen sollten, wo sie zuvor die beschützte, aber unterdrückte und durch Unterdrückung demoralisierte Rasse gewesen waren, auf die die Türken, als Herren des Landes, stets hinuntergesehen hatten. Einen solchen Machtwechsel duldet keine starke und herrschende Rasse. Der Sultan legte dies den Mächten im voraus dar; aber seine Einwendungen wurden als bloße Ausflüchte angesehen, und er wurde gezwungen, den Befehl zur Einführung der Reformen auszustellen. Daraufhin kamen die Metzeleien. Und daraufhin das Urteil der Journalisten.

*

Eine halbe Stunde ist vergangen, seit der Sultan die Moschee betreten hat. Die Truppen werden wieder aufgestellt, aber nur, um ein Manöver auszuführen: unter Musik und Trommelwirbel zieht das Fußvolk sich zurück und macht den viertausend Mann Reiterei Platz. Alle Musikkorps haben sich zusammengetan und spielen, während dies vor sich geht, mit ohrenbetäubender Kraft.

Dann wird von der Moschee drunten ein Zeichen gegeben, und das gewaltige Orchester verstummt mit einem Schlag. Die Garde präsentiert wieder das Gewehr, die Offiziere grüßen mit dem Degen; der Sultan tritt aus der Moschee. Sein Gottesdienst ist zu Ende. In dem Augenblick, als er in der Türe sichtbar wird, schmettert die Musik wieder los.

Der Sultan fährt allein heim. Er besteigt einen kleineren Wagen als den, in dem er gekommen ist, läßt das Verdeck halb zurückschlagen und ergreift selbst die Zügel. Seine Pferde sind jetzt weiß. Er hat Mühe, die Tiere zurückzuhalten, bis er die Zügel ergriffen und die Peitsche genommen hat; die Pferde schnauben und stampfen im Sand.

Dann fährt er ab. Er fährt langsamen Trab und hat Zeit, einen und den andern Offizier zu Pferd zu grüßen. Während er fährt, schlägt hinter seinem Gefährt wieder die Woge derselben Menge goldbetreßter Lakaien, Kammerherren und Offiziere zusammen, die ihn auf dem Herunterweg begleitet hatten. Pustend und stöhnend laufen sie den Hügel hinauf und versuchen, mitzukommen. Der Sultan fährt durch das Portal des Sternenzelts und verschwindet hinter den Bäumen und den hohen Blumen. Sein rennendes Gefolge von Offizieren bleibt am Portal stehen und sieht ihm nach.

Jetzt kommen die Wagen mit den Prinzen, den Prinzessinnen und den übrigen Damen von der Moschee herauf, alle von Läufern zu Fuß und gewaltigen berittenen Eunuchen eskortiert. Auch sie verschwinden dort oben durch das Schloßportal, und der ganze Zauber ist vorüber. Das Militär zieht ab, die Musik schwenkt blasend in die Seitenstraßen ein und verstummt nach und nach. Alles begibt sich nach Hause.

Und der Moscheeplatz liegt groß und still wie zuvor.


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