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Wir fahren auf der Fähre über den Bosporus. Auf eigne Faust haben wir uns hinuntergestohlen, um dem Führer zu entwischen. Mag er doch jetzt droben auf der Brücke nach uns suchen! denken wir und fühlen uns ganz froh und befreit; auch seine Derwische können uns gestohlen werden!
Wir wollen hinüber nach der heiligen Stätte Eyub, von der wir schon jahrelang gelesen haben.
Es verursacht uns ein bißchen Schwierigkeit, am Schalter die Karten zu lösen; wir können nicht sprechen und nicht Geld zählen, wir können auch nicht ausdrücklich sagen, daß wir zwei Karten wünschen. Es kostet viel Zeit, uns abzufertigen, wir halten den Mann auf, und hinter uns steht eine Menschenmenge, die in engem Gedränge darauf wartet, bis sie auch dran kommt; trotzdem sehen wir nicht einen einzigen mißvergnügten Blick auf uns gerichtet. Schließlich hat jeder von uns einen grünen Papierlappen in der Hand, und wir folgen dem Strom hinunter zur Fähre.
Es ist ein stiller Nachmittag. Ein endloses Gewimmel von Booten, kleinen Dampfern, allerhand Fahrzeugen umgibt uns; hier wie in andern Seestädten sieht man kleine Jungen in Hemdärmeln draußen herumrudern. Da werden Jollen gewrickt, da sind kanoeartige Fahrzeuge von ungeheurer Länge, einige davon Prunkboote, Kaiks, mit hohen, vergoldeten Schnäbeln. In den Kaiks sitzen Herrschaften, verschleierte Frauen, die von Eunuchen gerudert werden. Meine Reisegefährtin winkt den Frauen zu und sie winken zurück. Sie liegen im Boot auf Polstern, den Kopf über der Brüstung, phantastisch gekleidet.
An Bord der Fähre sieht man alle Rassen der Levante. Frauen mischen sich unter die Männer; Kinder, halbwüchsige Mädchen, zum Teil mit den wunderbarsten Gesichtern. Als die Fähre sich in Bewegung setzt und sich an Bord ein Luftzug erhebt, werden die Schleier einiger schöner Frauen ganz zur Seite geweht; sie zeigen aber keine übertriebene Eile, sich wieder dahinter zu verbergen. Und es ist, als würde der Luftzug an Bord immer ärger; immer mehr Schönheiten werden vor aller Welt sichtbar. Wir erkennen den Kniff vom Osten her wieder! Eine alte Frau sitzt mit dem Gesicht gerade gegen den Zug; je stärker es weht, desto dichter haftet der Schleier. Aber eine Schönheit – die setzt sich schon gerade richtig seitwärts!
Es war auch wahrhaftig ein Anblick, zu sehen, wie manch einem Effendi das Feuer aus den Augen blitzte, wenn ein Schleier wegflog.
Wir kommen an Land und finden einen Wagen.
Eyub! sage ich.
Es heißt Eyub – auch auf türkisch. Aber der Kutscher versteht meine Aussprache nicht. Ich wiederhole es, ausgesucht deutlich; aber es nützt nichts. Laß mich! sagt meine Reisegefährtin, und auch sie sagt Eyub. Da aber schämte ich mich ein wenig, sie machte ein ganz anderes Wort daraus, das sich an Kraft mit dem meinen gar nicht messen konnte! Und doch versteht der Kutscher gerade sie; er fragt jetzt selbst: Eyub? Und meine Gefährtin nickt, ja, diesmal habe er's getroffen! Ich bin ganz sicher, wir kommen zu einem verkehrten Eyub; aber ich muß nachgeben. Die beiden stehen da und nicken und schwatzen türkisch und machen einfach gemeinsame Sache miteinander.
Wir steigen also ein, und fort geht's.
Wir kommen nach dem richtigen Eyub. Ich habe ja nicht die ganze Welt gesehen – aber es gibt sicherlich nur einen Eyub. Es ist die heilige Stätte. Der Kutscher hat wohl schon öfter Touristen gefahren, er weiß, was sie sehen wollen, und hat uns deshalb an dem großen Portal abgesetzt, von wo aus der Zugang zur Moschee Mohammeds II. so leicht ist. Aber wir gehen an der Moschee vorbei. Die großen Moscheen nehmen sich am besten auf Bildern aus. Sie sind nicht hoch, sie sind nur weit. Aber mit einem weiten Hause verbindet man keine Vorstellungen. Die Sofiamoschee ist eine kleine Stadt an Weite und kann die zweitgrößte Gemeinde der Welt beherbergen. Aber sie ist flach. Die Moschee Mohammeds II. birgt den Säbel Osmans, und dieser Säbel ist sehr wichtig; jeder Sultan muß ihn bei seiner Thronbesteigung umgürten. Jawohl – aber wir gehen an der Moschee vorüber, um nach Eyub zu gelangen.
Eyub ist eine Welt der Gräber. Und eine Welt der Zypressen, der Platanen, der Blumen. An vielen Orten sind Moscheen, überall sind Tempel des Todes, Mausoleen, Steinsäulen. Und überall ist Friede. Die Zypressen stehen senkrecht und unbeweglich, sie sind starr wie Türme; in den Palmenhainen flackern die Blätter leise, wenn ein Lüftchen geht, sonst kein Laut. Auch wir fangen unwillkürlich an, behutsam aufzutreten, während wir uns weiter und weiter von Straße und Stadt entfernen. Und wir sprechen leise im Lande des Todes. Es hat freilich seinen Grund, daß wir so leise reden: wir sind bang; denn wir sind Ungläubige und sind vielleicht zu tief in den Eyub eingedrungen, bis zu dem einen oder dem andern heiligen Hain! Dennoch gehen wir stetig weiter, um recht tief hineinzukommen; auf allen Seiten schließt es sich um uns, eine leblose Welt umgibt uns.
Wir setzen uns.
Zum Friedhof zieht's den Menschen auch im lebendigen Leben, um zu ruhen. Er ist die Insel im brandenden Meere. Aber es gibt keine Stätte, wo das Leben so kämpfte und siegte wie hier. Die größten Bäume gibt es hier, und die zappeligsten Regenwürmer. Auf dem Kirchhofe daheim wuchsen einige Himbeeren, die sich selber da gepflanzt hatten und ohne Pflege gediehen. Jedes Jahr kamen sie wieder, und wir Kinder wußten so gut, wo sie standen! Jede Beere war ein Mundvoll Wein ,…
Die Hellenen verbrannten ihre Leichen, bevor sie sie begruben. Und auf ihre Grabmäler meißelten sie Genien, die mit dem Fuß eine Fackel löschten. Denn so war das Leben: es brannte und erlosch wie eine Fackel!
Juden und Christen begraben ihre Toten wie sie sind. Denn sie sollen in Wahrheit auferstehen. Das Begraben ist vermutlich als eine Erleichterung für den Toten gedacht, damit er sich selber wieder zusammenfindet. Aber der Wind trägt den irdischen Staub dahin – in alle Weite.
Zarathustra lehrte, daß die Raubvögel die Leichname haben sollten. Wenn die Menschen im Tale sterben, eilen große Vögel von den Bergzinnen herbei, sagt er. Er fragt Ormuzd: Welches ist das Dritte, das unsrer Erde mißfällt und uns ihrer Gunst beraubt? Und Ormuzd antwortet: daß Dritte ist, daß ihr Gräber grabt und legt darein die Leichname der Menschen.
Bloß die Ägypter wollten von keiner Vernichtung, in keinerlei Form, etwas wissen; sie behandelten ihre Leichname mit Gewürzen und machten sie unvergänglich, machten sie zu Steinen. Und übergaben sie der Erde als Bildsäulen.
Aber Mohammed sagt: Es wächst gut auf einem Friedhof. Er hatte das Leben vor Augen ,…
Wir blicken über eine Stadt von Grabmälern hin. Alle diese Steine sind fein behauen, die beiden aufrechtstehenden Steine auf jedem Grabe sind oft reine Kunstwerke an Verzierungen, Geduldarbeiten ohnegleichen. Alle tragen sie Sprüche aus dem Koran, manche in Gold. An der Spitze des Hauptmonoliths ist ein Turban oder ein Tarbuch ausgehauen. Manchmal ist der Turban grün; das ist die höchste Würde. Die Gräber der Frauen haben auch Monolithe, aber keinen Turban und keine grüne Farbe, das heißt, keine Würde.
Die Toten ruhen in einem reichen Lande. Sie selber sind's, die es reich machen: Es wächst gut auf einem Friedhof. Die Toten sorgen selber dafür, daß sie sich eine gesunde und reinliche Umgebung schaffen, eine kräftige Vegetation, eine fruchtbare Erde, auf der alles wachsen kann. Es ist, als lägen sie da und grinsten in wahnwitziger Komik und führten unerschütterlich einen großen Gedanken durch: die Hygiene des Kadavers.
Still – man macht keine Randbemerkungen im Lande des Todes!
Weiter drinnen, hinter uns, rauscht ein Palmenhain; wir lehnen fast mit dem Rücken daran. Mag das Wetter noch so still sein, die Fächerpalmen regen sich leise, weil sie so breite Blätter haben, und es geht ein fast unhörbares Raunen von solch einem Hain aus. Dies Raunen und die breiten Blätter und diese ganze grüne Herrlichkeit machten uns still und stumm. Wir sitzen und lassen uns zurückführen zu einem Wohlbekannten, nach einem Lande, in dem wir einst gewesen sind, zu einem Erlebnis im Traume oder aus einem früheren Leben. Unsre Wiege war vielleicht einmal ein Lotos, der in einem Palmenlande stand und uns schaukelte ,…
Wir stehen auf und gehen.
Da begegnen wir zwei Männern, die eine Bahre tragen. Ich nehme den Hut ab und behalte ihn in der Hand; die beiden Männer tun uns nichts, sondern eilen vorüber. Es ist eine arme Leiche, die sie tragen, sie hat keinen Sarg, nicht einmal ein Teppich mit Auferstehungssprüchen liegt über der Bahre, und keine Klageweiber begleiten sie. Die zwei Männer suchen mit ihrer Bürde einen abgelegnen Winkel und lassen sie dann zur Erde gleiten. Darauf beginnen sie das Loch zu graben.
Wir blicken auf; hoch oben in der Luft gibt ein Vogel einen Laut von sich. Was sind das für Vögel? Sie sind groß und haben halbmondförmige Schwingen – es sind Milane. Sie kreisen über dem Eyub, sie kennen die Bahre und folgen ihr, schon wittern sie den Dunst der Fäulnis, der Phosphorsäure, und sie geben einander Signale. Sie fliegen nicht wie ehrliche Geier, sie kriechen sacht mit den Schwingen durch die Luft. Jetzt kommt's drauf an, wie tief die zwei Männer ihre Last eingraben!
*
Vor dem Portal hält ein Wagen, und wir hören eine Stimme sagen: Hallo! Endlich habe ich Sie gefunden!
Es ist der Führer. Es ist unser schrecklicher Grieche, vor dem wir uns nie gut genug verstecken können! Er hatte sich vom Fahrkartenschalter bis herein zum Eyub durchgefragt.
Belieben Sie einzusteigen! sagt er.
Und wir steigen ein.
Zu den »heulenden Derwischen«!
Mit einem Male sind wir in die Stadt, ins Leben zurückversetzt. Wir drehen uns um und sehen noch einmal die Geier. Und sehen die Wipfel der starren Zypressen ,…
Schon unterwegs gewahrten wir drei Gestalten, deren absonderliche Kopfbedeckung wir vom Osten her wiedererkannten; es waren heulende Derwische auf dem Wege zu ihrer Kirche. Nachdem wir eine Weile gefahren sind, steigen wir aus, entlassen den Wagen und folgen den drei sonderbaren Käuzen zu Fuß. Sie hatten ernsthafte, gutmütige Gesichter und gingen schweigend ihres Wegs. An ihrer Tracht war weiter nichts Auffallendes, ein braunes Gewand mit einer Binde um den Leib umhüllte ihren Körper von oben bis unten; aber die Mütze war ein Monstrum, an Höhe und Form wie ein Zuckerhut. Sie war aus grauem Filz, steif, luftdicht – es mußte ein wahres Kunststück sein, sie zu tragen.
Derwische sind mohammedanische Mönche. Sie leben entweder auf der Wanderschaft in der Türkei und im Iran, oder auch in Gemeinschaften in eignen Klöstern unter einem Prior. Gleich den Mönchen des Abendlandes sind sie in Orden eingeteilt; es gibt tanzende, heulende, schwimmende, springende Derwische, jeder Orden hat sein Gewerbe. Und dadurch, daß sie dies Gewerbe bis zur äußersten Verrücktheit ausüben, meinen sie, dem ganzen Islam vor Gott Gutes zu erweisen. Es sind religiöse Märtyrer, die ihres Volkes Sünde auf sich nehmen und sich dafür peinigen. Der schwimmende Derwisch »schwimmt« so lange über den Boden hin, bis sich Extase und Krampf einstellen: in diesem Zustande der Entrücktheit ist er Allah nahe. Heute sind es die heulenden Derwische, die wir hören sollen.
Wir kommen zum Kloster, wo wir bezahlen, damit wir eingelassen werden. Die Tür öffnet sich, wir stehen in einem großen Saale, wo wir auf einer Bank vor einer Schranke Platz finden. Die Schranke läuft um den ganzen Raum; außerhalb der Schranke sitzen wir und andre Neugierige, innerhalb sollen die Derwische auftreten. An den Wänden hängen Koransprüche und andre dekorative Malereien; der Fußboden ist mit schwarzen, weißen, gelben, grauen, braunen, roten und blauen Wollfellen – Lammfellen – bedeckt. Wir vermissen es fast, daß nicht auch grüne Lammfelle da sind; ob das wohl Vergeßlichkeit ist? Ach nein! die grüne Farbe ist die Farbe des Propheten, sie ist heilig, auf sie darf nicht getreten werden.
Jetzt kommt der Priester durch eine Tür im Hintergründe. Er ist ein Mann in den Vierzigern mit einem ganz außergewöhnlich schönen, milden Gesicht. Er trägt ein schwarzes Gewand und eine schwarze Mütze mit weißem Knopf. Er liest ein Stück aus dem Koran vor.
Und jetzt heben Tumulte an, die zum Einförmigsten und Langweiligsten gehören, was ich je erlebt habe. Mehr als zwei Stunden dauerte es, bis die Zeremonien vorüber waren, und als das Ende schließlich kam, waren wir ganz mürbe vom Stillsitzen und Anhören des Geheuls und dem Versuche, auch nur einen einzigen vernünftigen Sinn in dem Ganzen zu finden.
Der Gottesdienst verlief in folgender Ordnung:
Nach der Vorlesung des Priesters fielen dreißig Zuckerhüte auf die Knie und plapperten etwas herunter; aber das war nicht das Heulen, bewahre, das war bloß eine Bagatelle, eine Einleitung. Aber auch die Einleitung war reichlich lang.
Als das Plappern zu Ende ist, erheben sich die Zuckerhüte. Der Priester spricht ein Gebet. Seine Sprache ist wohllautend, sie gleitet auf vielen L's dahin und ist reich an Vokalen: La illaha il Allah, es ist kein andrer Gott als Allah. Während des Gebetes werden noch mehr Lammfelle auf den Boden gebreitet. Nie habe ich ein Gemach mit mehr Lammfellen darin gesehen! Das Gebet ist zu Ende.
Ein Vorsänger fällt auf die Knie und singt, die Zuckerhüte antworten stehend; es ist ein Wechselgesang. Auch das kann kein Heulen genannt werden; wir haben schon manchmal Schlimmeres gehört. Die guten Heuler hatten einstweilen noch Faulenzerarbeit, sie antworteten bloß dann und wann; aber für den Vorsänger fing es an, ernst zu werden; er zog sein Taschentuch heraus und trocknete sich den Schweiß ab. Der Gesang dauerte eine Ewigkeit. Es berührte so merkwürdig, wie diese Menschen sich scheinbar vornahmen, daß alles so endlos wie möglich dauern sollte. Merkwürdig? Nein! Natürlich. Sie wollten sich in die Suggestion hineinsteigern.
Der Wechselgesang dauert fort, der Vorsänger hält es schon nicht mehr aus, es greift seine Gesundheit an. Er wirft seine Jacke ab. Und singt weiter drauf los.
Dann kann er nicht mehr, seine Kräfte versagen. Die Zuckerhüte sehen die Gefahr; sie mischen sich mehr und mehr in seinen Gesang und helfen ihm, sie singen mehr, als ihnen obliegt, bloß um ihn vor einem Fiasko zu retten; aber es ist zu spät. Er piepst, piepst immer leiser, piepst schließlich ganz stumm!
Da kommt ein alter Graubart ihm zum Entsatz. Der Alte ist hager und sehnig, bleich, unerschütterlich. Er schiebt den ersten Vorsänger zur Seite und wirft sich selbst auf den Boden. Und nun begann er seinen Sang. Allzuviel Höhe oder allzuviel Tiefe zu geben, wagte er nicht; aber ein paar Töne hatte er, die ihm keiner entreißen konnte. Es war, als ob ein Stein da säße und sänge.
Aber auch der Alte wurde schließlich zuschanden. Und auch die Derwische schonen sich nicht, sie haben Blut geleckt und entreißen dem Alten seine zwei Töne. Darein ergibt er sich nicht, er wehrt sich, er will gehört sein. Wir sehen, wie er sich die Hände und das Gesicht zerkratzt, um sich anzufeuern. Aber er unterliegt der Übermacht. Als er in den letzten Zügen liegt, werden den Heulern die Zuckerhüte abgenommen, und jetzt sind sie zu allem bereit.
Der erste Vorsänger ist wieder lebendig geworden. Er sieht sich verwirrt um, erkennt, was es gilt, und greift wieder ein. Er hat die Kraft, den Stein beiseite zu wälzen und seinen Platz einzunehmen. Worauf er wieder zu singen anhebt.
Und die Derwische verzichten keineswegs auf das Wort, das ihnen gebührt, – im Gegenteil, lauter und lauter singen sie und fangen schon an, Zuckungen zu machen. Das Geheul ist jetzt im Zuge, das muß man sagen! Die Derwische schwitzen, sie ziehen die Gewänder aus. Bisher ist der Gesang laut, halbverrückt gewesen, mit einem einigermaßen fortlaufenden Text; jetzt aber wird es mit dem Text spärlicher und spärlicher, nur ab und zu hört man ein Wort, einen Ausruf, die Stimmen schrillen in ein Geheul hinüber. Und die Zuckungen werden stärker und stärker.
Was tut während der ganzen Zeit der Priester? Der führt den Wahnwitz an. Er ist's, der auf die Zuckungen verfällt, er fängt an, auf den Boden zu stampfen und sich im Takt vorwärts und rückwärts und auf die Seiten zu werfen. Er freilich, er schont sich, er gibt bloß andeutungsweise an, was die andern ausführen sollen; außerdem führt er strenge Aufsicht über jeden einzelnen und macht den Zauderern seine Verrenkungen und Faxen dicht unter der Nase vor. Da schämen sie sich offenbar vor Allah und schreien ganz beispiellos.
Jetzt wird der Lärm groß! Die Derwische schreien einander zu, als ob sie sich gegenseitig mit Hei! und Ho! aufmuntern wollten, beharrlich und blind gegen alle Gefahr. Und die Zuckungen mit dem Oberkörper werden wild und hastig, das sind nicht mehr bloß armselige vereinzelte Zuckungen, es ist ein einziges, großes Schlenkern nach allen Seiten hin, ein unaufhaltsames Durchdieluftjagen. Schon hört man ein und das andre Röcheln zwischen den Schreien. Kleidungsstücke fliegen zu Boden.
Mitten drin tritt ein sehr hochgewachsener, dunkelfarbiger Offizier in Uniform ein. Er hat Oberstenrang. Er begibt sich augenblicklich unter die Heulenden. Er ist voll Eifer, – er kommt zu spät und möchte das Versäumte nachholen. Du schaffst es nicht! denken wir. Du bist zu lang und zu unbiegsam! Aber er schaffte es! Dies neue Mitglied war eine Kraft. Wir sahen bald, daß es ein Fachmann war, ein Meister; mit seinem Auftreten nahm der ganze Gottesdienst einen ungeahnten Aufschwung. Er hatte sich noch nicht viele Minuten lang geschlenkert und nicht mehr als einmal geheult, als er schon den Uniformrock abwarf, damit er Ernst machen konnte. Und als er nun wieder anhub, da mußte es für jeden Freund eines ordentlichen Geheuls die helle Freude sein, ihn anzuhören. Er feuerte die Derwische zum Unglaublichsten an; sie schrien in überlauter Wildheit, sie stöhnten – aber der Offizier war der Situation gewachsen. Er schlenkerte nicht nur wie die andern, nein, noch etwas mehr, und schleuderte seine Nebenmänner von sich wie nichts. Er heulte, ganz auf eigne Rechnung, so daß alle andern auf ihn sahen.
Und so wird geheult und geschlenkert und gezuckt – hin und her und seitwärts. Und die Heuler ziehen ein Kleidungsstück nach dem andern aus und stehen zuletzt, triefend vor Schweiß, in Hemd und Hosen da. Drei volle Viertelstunden dauert dieser Höllenlärm. Dann hört er auf. Die Heuler stöhnen wie zuschanden gejagte Pferde, die Gebrochensten werden in ein Gemach im Hintergründe geführt.
Selten war ich froher gewesen, als jetzt, da ich nichts mehr hörte. Aber die Freude war von kurzer Dauer; noch ist der Gottesdienst keineswegs zu Ende. Wieder beginnt das Geplapper; der Graubart, der Stein, ist wieder zu Kräften gekommen, der Stein sitzt da und singt wieder. Und die Heuler antworten ihm. Aufs neue ein Wechselgesang!
Bald kommen auch die zusammengebrochenen Heuler wieder aus dem Hinterraum. Sie hören, was ihre Brüder noch zu leisten vermögen, und sie wollen dasselbe leisten. Sie gehen jetzt ohne Hilfe; sie können wieder stehen.
Während des Wechselgesanges geht die Tür auf und zu; Kranke werden hereingetragen und in einer Reihe zu Füßen des Priesters niedergelegt. Vier Kinder werden mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gelegt. Sie sind so klein und krank, daß sie wimmern; drei von ihnen werden wieder hinausgewiesen, sie ertragen die Kur wohl nicht, sie sind zu klein; aber das vierte, ein kleines Mädchen, bleibt liegen. Der Priester nimmt seinen schwarzen Mantel ab, um sich's leicht zu machen, und steht in einem zweiten Mantel da. Er geht jetzt über das Kind weg, steigt auf seinen Rücken, bleibt einen Augenblick stehen und steigt auf der andern Seite herunter. Das Kind weint. Der Priester geht denselben Weg zurück, langsam, zögernd; das Kind weint jetzt laut und wird hinausgetragen.
Drei erwachsene Männer werden auf Bahren hereingebracht; man legt sie aufs Gesicht, der Priester schreitet über sie hinweg, sie werden wieder auf ihre Bahren gelegt und hinausgebracht. Vier weitere werden hereingeführt; sie sind etwas kräftiger und können gehen. Einer von ihnen ist ein Offizier in Uniform und mit zwei Orden; der Oberst unter den Heulern grüßt ihn. Der Priester steht einen Augenblick auf dem Rücken der Kranken und steigt wieder herunter.
Während die ärztliche Behandlung der Kranken vor sich geht, sitzt der Stein da und singt, und die Derwische antworten ihm. Als der letzte Kranke hinausgetragen ist, verstummt der Gesang; man hört nur noch vereinzeltes Stöhnen, ab und zu ein Winseln, als fiele es den Sängern schwer, ganz zu schweigen. Und sie schöpfen Atem wie nach einem Schlucken.
Der Priester nimmt seinen schwarzen Mantel wieder um, die Zuckerhüte werden ihren Eigentümern zurückgebracht, alle ziehen ihre Gewänder wieder an.
Der Gottesdienst ist zu Ende.
*
Wir kommen wieder hinaus an die frische Luft. Und man kanns brauchen. Die schwitzenden Derwische und die vielen Zuschauer hatten miteinander eine Luft zustande gebracht, die uns mehr und mehr kraftlos gemacht hatte; wir hatten zuletzt nur noch mit der Nase in den Händen, im Taschentuch, geatmet, wir hatten uns gar nicht mehr zu helfen gewußt. Auch für die Derwische war vielleicht die offne Tür eine Erquickung, wenn sie auch keinerlei Befriedigung darüber verrieten; sie nahmen bloß die Gewänder über die patschnassen Hemden um und verzogen sich durch die Tür im Hintergrund.
So war die Selbstpeinigung also für diesmal zu Ende; nächsten Donnerstag steht sie wieder bevor. Und Jahr um Jahr steht sie bevor, solange das Leben währt. Es gibt kein Zurück aus dem Orden der heulenden Derwische ,…
Wir haben diese Kirche wieder besucht. Und haben der Zeremonie von Anfang bis zu Ende wieder beigewohnt. Es war doch ein Unbekanntes von einem Geist, was da innerhalb der langen Schranke hauste! Gott wird auf mancherlei Art angebetet auf Erden. Diese Menschen hier hatten eine ganz eigene, furchtbare Art herausgefunden, sich zu erniedrigen: durch Geheul. Die Laute, die sie ausstoßen, genügen schon an und für sich vollständig, die menschliche Scham hervorzurufen; dazu kommt aber nun noch die Fratze, das verzerrte Gesicht! Ein Geheul ist kein Ruf – niemand kann ein Geheul ausstoßen, ohne Grimassen zu schneiden. Und je nach dem Grade der Verrücktheit des Geheuls gleicht das Gesicht wechselnd Masken von Fischen, Tieren, allerlei Schimären. Die heulenden Derwische müssen ihre Scham zu Tode heulen. Die Flagellanten peitschten sich mit Geißeln – es war der Akt eines einzigen armseligen Handgriffs, eines einzigen plumpen Willens! Und sie verscherzten sich dabei keineswegs das Mitgefühl der Welt – im Gegenteil – sie rührten Kinder und Weiber zu Tränen. Simon Stylites gewann auf seiner Säule die Achtung der ganzen Welt. Die Selbstpeinigung der heulenden Derwische ist auch der Akt eines Willens, aber eines Willens, der zugespitzt ist bis zum äußersten; ihr Orden erfordert eine Beigabe delikater Schamlosigkeit – sie müssen sich lächerlich machen. Es ist die zehnfach raffinierte Phantasie des Orients, die hier mit im Spiele ist. Während die Derwische heulten, saßen ihre Brüder und Schwestern da und schauten ihnen zu; Türken saßen unter den Zuschauern und lächelten. Aber die Derwische kämpften ihren selbsterniedrigenden Kampf und wußten von nichts als vom Kämpfen! Sie stießen Geheule aus, die die reinsten Raritäten waren – die reinsten Musterexemplare; sie konnten den Mißlaut in sich einsaugen zu einem Heulen, das nach rückwärts heulte. Dann hatten sie Katzengesichter.
Gott wird auf mancherlei Art angebetet auf Erden. Und alle beten Gott auf die einzig richtige Art an – und alle beten den einzig wahren Gott an!
Aber der Türke betet Allah an.