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Wir kommen von Osten und fahren nach Konstantinopel. Es ist ein milder Herbstabend. Das Schwarze Meer liegt metallglatt; längs der türkisch-armenischen Küste sehen wir Männer in Hemdärmeln vor ihren Häusern sitzen und rauchen; wir sehen den Rauch aus ihren Pfeifen steigen, so still ist es.
Das ganze Schiff erzittert unter der Maschine. Wir sind an Bord des Marseillebootes »Memphis«. Die Memphis strengt sich an, was das Zeug hält, um noch heute abend nach Konstantinopel zu kommen. Aber je weiter wir vorwärtsbrausen, desto geringer wird die Hoffnung; der Kapitän antwortet uns allen: Nein, es sei zweifelhaft, ob wir's schafften. Gleich beim Einlaufen in den Bosporus, auf der Skutariseite, liegt nämlich eine kleine Stadt namens Kavák; diese Stadt haben wir noch nicht passiert und da sitzt der Knoten! Kavák sieht so unschuldig aus; ungeheure Mauern alter Festungsanlagen liegen auf der Höbe; aber in den Ruinen versteckt liegt auch eine starke Batterie moderner Kanonen, und wenn wir an diesen Kanonen nicht »vor Sonnenuntergang« vorbeikommen, so ist die Bahn gesperrt.
Wir brausen weiter. Schon sehen wir ein Stück vor uns Kavák; aber der Kapitän antwortet uns jetzt allen: nein, wir schaffen's nicht! Der Kapitän ist ein kleiner schwarzer Südfranzose; mit seinem linken Auge ist etwas nicht in Ordnung, er schielt. Und darum begreife ich auch nicht, wie er der Kommandant eines großen Schiffes sein kann.
Bah, so ein Kommandant! denke ich und verhöhne ihn nicht schlecht, weil er Kavák vor Sonnenuntergang nicht mehr schaffen kann. Er ist sicher ganz einfach blind auf dem linken Auge; und so was will Kommandant sein!
So – jetzt haben wir nur noch ein paar Kabellängen bis zum Fort. Wir stehen mit der Uhr in der Hand da und zählen. Da aber keiner von uns mit der türkischen Zeit Bescheid weiß, zählen wir im Grunde aufs ungewisse.
Neben mir steht ein Japaner. Er ist Handelsstipendiat, in England erzogen, ein kleiner, gewandter Herr, der diesen Weg schon früher gemacht hat; seine Ansicht ist Goldes wert. Wieviel ist's nach türkischer Zeit?
O, das werde ich Ihnen gleich sagen, antwortet er und deutet nach dem Fort hinauf. Sie sehen den Soldaten dort, der nach der Flaggenstange hingeht? Behalten Sie ihn im Auge.
Der Soldat blieb neben der Flaggenstange stehen.
Plötzlich ertönt ein Signalschuß. Der Soldat streicht die Flagge.
Sechs Uhr, sagt der Japaner. Sonnenuntergang.
Gerade vor unsrer Nase! In dem Augenblick, als wir ans Fort gekommen sind! Nein, natürlich konnten wir Konstantinopel heute abend nicht mehr erreichen – mit einem blinden Schiffsführer! Gott weiß, ob wir auf die Art Konstantinopel überhaupt je erreichen! Nie wieder reise ich mit einem Franzosen!
Wir ankern. Boote kommen ans Schiff mit allerhand uniformierten Türken, Sanitätsleuten, Zolleuten. Wir sind etwas gespannt darauf, was der Türke mit uns anfangen wird. Hat er Erbarmen im Leibe? Oder ist dies unsere letzte Stunde? Es sind alte, höfliche Männer, die uns auf französisch ein paar Fragen stellen und sonst nichts mit uns anfangen. Es ist heutzutage keine übermäßige Gefahr mehr dabei, mit Türken zusammen zu sein, seit sie aufgehört haben, Menschenfleisch zu essen. Ich biete einem der Zollbeamten eine Zigarette an, um mich bei ihm einzuschmeicheln, – um der letzte zu sein, über den er herfällt; er nimmt die Zigarette und gibt mir dafür eine von seinen. Und dies alles geht unter französischen Bücklingen und Dankesworten vor sich. Es ist doch großartig, denke ich, wie weit man sogar mit einem wilden Türken kommt, wenn man nur die rechte Art hat!
Ist es nicht eine glänzende Tat, so seinen Fuß mitten in die Türkei hineinzusetzen? denke ich weiter. Nicht alle haben solchen Mut bewiesen! Der Türke frißt keine Menschen mehr, nun ja. Aber darf darum irgend jemand behaupten, daß er keine Zähne hätte? Hat sich irgendein andrer norwegischer Schriftsteller je in dies Land gewagt? Goethe reiste dereinst von Weimar nach Italien; aber hat er die Türkei besucht?
Kurz und gut, es ist eine glänzende Tat!
*
Hinter uns liegt das Schwarze Meer, lichtgrün und still. Es beginnt zu dämmern, der Tag erlischt; tief am Horizont brennt ein Streifen aus Blut und Gold. Mich dünkt, unter keinem Himmelsstrich habe ich je so leidenschaftliche Farben gesehen, und ich habe ein Gefühl, daß nichts so schön ist, als was Gott selbst macht. Dies Blut und Gold steht still, es schwindet nur ganz langsam, und als es ganz erloschen ist, wird das Meer darunter schwarzblau und schwer. Dann tritt Dunkel ein; droben in der Stadt Kavák zünden sie die Lichter an, und wir hängen die Laternen aus.
Es ist still an Bord. Der Perser und sein Weib, die die ganze Zeit über auf dem Vorderdeck auf ihren Kissen und Teppichen gehockt haben, haben ihre Andacht verrichtet und sitzen jetzt vornübergebeugt da, stumm und in Gedanken. Sie ist so dicht verschleiert, diese alte Perserfrau; aber gestern sah ich ihr Gesicht, es war auffallend hell. Sie hatte auch auffallend rote Lippen. Weiß Gott, sie schminkt sich noch, die alte Haut! denke ich. Aber vielleicht ist sie gar nicht alt, wer weiß. Der Mann ist ein hochgewachsener, langbärtiger Herr von gebieterischem Aussehen. Seine Nägel und seine Handflächen sind mit Henna gefärbt.
Jetzt geht im Decksalon wieder das Spielen an. Wir haben einen Mann mit zwei Söhnen an Bord, sie sind alle drei gleich groß und erscheinen auf den ersten Blick gleich alt; einer von denen ist's, der jetzt wieder spielt. Sie wechseln die ganze Zeit am Klavier ab. Der eine der Söhne ist schwindsüchtig und hustet, aber die Seeluft hat ihm so gut getan, daß sein grobes, gutmütiges Gesicht wieder ganz gesund aussieht; nur seine Hände und seine Schläfen sind blau. Sie fressen alle drei wie das liebe Vieh, nicht zum wenigsten der Schwindsüchtige. Während der Mahlzeiten sitzen sie nach Franzosenart da und kauen Brot in großen Mengen.
Ich gehe hinunter. Der Japaner sitzt wieder und schreibt Briefe. Das hat er die ganze Reise über so gemacht. Er hat einen ganzen Stapel Briefe fertig, die er von Konstantinopel aus heimschicken will. Er schreibt mit der größten Leichtigkeit, es ist ihm eine Kleinigkeit, eine Masse dieser wunderlichen japanischen Schriftzeichen zu machen, die aussehen wie Fußspuren von Vögeln.
Lassen Sie mich einmal lesen, was Sie geschrieben haben, sage ich.
Bitte! erwidert er lachend und wirft mir seine Briefe zu. Dann sagen Sie mir auch gleich, ob ich dies Zeichen da wagen darf. Ich schreibe an unsern Handelsminister.
Doch, sage ich, lassen Sie es nur stehen. Es sieht ausgezeichnet aus. So ein Zeichen kann ihm nur gut tun!
Es bedeutet Dummheit, erklärt er.
Da werde ich bedenklich. Ich bin imstande, den Mann um sein Stipendium zu bringen, ich halte sein Schicksal in der Hand und ich muß meine ungeheure Macht mit Maß gebrauchen. Ich beschließe also, den Mann mit einem einzigen Federstrich zu retten, nehme ihm die Feder aus der Hand und streiche das Zeichen.
Au! schreit der Japaner und springt auf. Sie haben das falsche Zeichen gestrichen!
Dann setzte er sich fleißig wieder hin, um den ganzen Brief noch einmal zu schreiben.
Ich meinerseits will mich ebenso fleißig zeigen, ich setze mich und warte, bis er fertig ist. Ich weiß, wenn er nur irgendwie Zeit dazu findet, so mag er gern ein wenig mit mir schwätzen. Er ist voller Leben, wenn er jemand nach dem oder jenem ausfragen kann. Manchmal erzählt er auch von seiner Heimat; es gibt kein Land in der Welt, das so wäre, wie Japan dereinst sein würde, wenn es sich entwickeln könnte! Er ist verheiratet und hat ein Kind; übers Jahr will er wieder zu Hause sein, jetzt soll er Konstantinopel, die Städte Kleinasiens, Damaskus besuchen. Er ist sehr gewandt im Englischen und sagt die schnurrigsten Dinge: seine Frau nennt er sein wife in body, sein Weib im Fleische.
Es ist etwas Unechtes an ihm. Er ist ein demoralisierter Morgenländer, seine europäische Kleidung ist gleichsam zu groß für ihn oder er zu klein für sie. Er möchte gar zu erschrecklich gern lernen, sich zu »entwickeln«, develop.
Wie machen Sie nun dies oder jenes in Japan? frage ich manchmal.
Wir? In Japan? Wir machen es wie Sie! antwortet er. Wie sollten wir es sonst machen? Wir entwickeln uns. Es ist schon lange her, daß wir es auf japanisch machten!
Das ist für ihn der Inbegriff: sich abendländisch zu entwickeln, nachzuahmen. Und nichts ist ihm zu schwer zum Lernen, so ein gewandter Kerl ist er!
Er hat in England gelernt, daß man die Serviette nicht unters Kinn stecken darf, wie die Schweden es machen, sondern daß man sie gebildet über die Knie legt. Jawohl, machen wir! Aber wie soll er dann seine weiße Hemdbrust schützen? Da ist z. B. Suppe, eine Flüssigkeit, die verdammt schwer mit dem Löffel zu hantieren ist. Aber er sieht keinen der andern Passagiere sie aus dem Teller trinken. Was tut er? Er legt bloß sein Taschentuch über die Hemdbrust.
Er beklagt den Türken, bei dem er nun ein Jahr lang tätig sein soll. Der Türke ist so weit zurück; ist es nicht geradezu unbegreiflich vom Türken, daß er nichts lernen will?
Ich erwähne China.
Jetzt wird er ganz betrübt und schüttelt den Kopf. China hat auch noch kein bißchen Zivilisation von Europa und Amerika zu sich hereingelassen. Wir haben alle beide Tränen in den Augen – über China.
Wissen Sie, was ich glaube, sagt er. China wird nie zivilisiert!
Jetzt dünkt mich doch, daß dies ein hartes Wort ist, und ich beschwöre ihn, nicht ganz die Hoffnung zu verlieren. Man muß nur die Missionare noch eine Weile wirken lassen! Noch ist's Zeit; man muß mit Schonung vorgehen!
Das Land ist in der Auflösung begriffen, sagt er. Ich bin dagewesen. Wir in Japan versuchen, sie ein bißchen heranzubilden, aber die Schüler sind so selbstzufrieden. Wollen Sie es glauben – in ganz China ist fast kein einziger Fabrikschlot zu sehen! Und im Innern des Landes bauen sie ihren Tee und ihren Reis noch auf dieselbe altväterische Art wie vor tausend Jahren.
Wie ist das eigentlich? Erzählen Sie mir ein bißchen davon!
Ach, ich mag gar nicht davon sprechen. Bloß z. B. eine Kleinigkeit – wie Zäune: noch heutigen Tages haben sie keine Zäune um ihre Grundstücke!
Wie in aller Welt können sie denn ohne auskommen?
Jeder einzelne einigt sich nur einfach mit seinem Nachbarn darüber, wieviel ihm gehört.
Jetzt muß ich die Segel streichen; ich sage:
Gott bewahre uns vor solchen Zuständen! Aber ich habe in San Franzisko viele Chinesen gesehen; sie wuschen mir die Hemden. Es ist mir ein unerträglicher Gedanke, daß Sang Sing und Tsjeng Tsjang so reineweg vor die Hunde gehen sollen! Sie haben so gutmütige Augen und so prächtige Zöpfe!
Prächtige Zöpfe, sagen Sie? Hahaha! Besseres wissen Sie nicht zu sagen von Ihren Chinesen? In unserm Land haben wir den Zopf ausgerottet. Was sollen wir mit dergleichen unzivilisiertem Schwindel!
Sie haben doch auch manches dort im Yankeeland gelernt, sage ich, um meinen Freunden noch weiter die Stange zu halten und sie nicht im Stich zu lassen. Sie haben mich oft mit der Wäsche betrogen.
*
Am Morgen wachen wir davon auf, daß der Anker gelichtet wird. Es ist sechs, ein klarer Morgen.
Droben beim Fort sehen wir Soldaten und Offiziere in Trupps miteinander schwätzen; dann fangen sie zu exerzieren an. Und wir gleiten in den Bosporus hinein.
Stadt auf Stadt zu beiden Seiten, je weiter wir fahren; es sind bloß ein paar Minuten zwischen jeder. Es ist im Grunde eine einzige, endlose Stadt. Wir sehen alles, was am Lande vor sich geht, so nah ist es; und alles, was wir sehen, ist anders, als wir es uns gedacht hatten. Sind wir denn nicht in der Türkei? Dreißig Jahre lang habe ich nun über ein gewisses Land am Bosporus gelesen, das ruchlose Sultane an den Rand des Abgrunds gebracht hätten. Diese kleinen Städte liegen mitten zwischen Weinbergen und Blumengärten; schwer und rot glüht es zu uns herüber von den Rosenbeeten; ein Märchen ist es, durch das wir fahren.
Ich denke: der Kommandant ist doch wohl nicht blind! Er weiß um all diese Herrlichkeit und will hier nur bei Tageslicht fahren! Und ich nehme meine ganze Unzufriedenheit mit ihm vom gestrigen Abend zurück.
So zierlich und geordnet und wohlhabend sieht es am Lande aus! Da sehen wir einen Türken, der Wasser von einem Brunnen herträgt, dort einen andern, der seine kleine Haustreppe mit einem Besen fegt, ein dritter geht in seinem Garten umher und raucht und besieht sich alle seine Blumen. Still ist es in allen diesen kleinen Städten, kein Marktspektakel, kein Fabrikgetriebe; an den Ufern liegen Boote und Fahrzeuge, die aus- und einladen, ab und zu hören wir einen Ruf von Schiff zu Schiff, aber keinen Lärm. Wie ist das merkwürdig: eine Meile lang an Städten vorbeifahren, und kein Geschrei gen Himmel steigen hören! Da und dort liegt in der Landschaft eine prächtige Ruine aus alten Zeiten.
Aber wenn nun so eine kleine Stadt eine Zeitlang hat in Frieden bestehen und so recht in Blüte kommen können, so fällt ja wohl der Sultan in Konstantinopel über sie her, mordet die Bürger und nimmt ihr Geld, ist es nicht so? Er soll sogar die Opfer zu handlichen Bündeln zusammenbinden und sie in den Bosporus werfen. Nun ja, damit fing er an, als er aufhörte, Christenfleisch zu essen; irgend etwas Schlechtes muß dieser Mensch ja doch treiben! O, der »große alte Mann« in England, der alles wußte, der wußte auch von »dem Mörder auf dem Throne«! Und weil er einer danach war, sich vor nichts zu fürchten, so sagte er dem Türken die Wahrheit. Das eine Jahr bombardierte er Alexandrien, und das nächste Jahr erhob er seine Stimme gegen die Unterdrückungen in Armenien. Wer von der Wahrheit war, der hörte seine Stimme!
Das mit der zusammengebundnen wehrfähigen Mannschaft, die dann im Meer ersäuft wird, ist ja doch ein ganz außergewöhnliches schlaues System für einen Kriegsherrn, der seine Leute nötig hat! Drei Großmächte sitzen nur und lauern darauf, daß besagter Kriegsherr sich ganz entblöße; und er selber amüsiert sich aus purem natürlichem Blutdurst damit, sein Heer zu dezimieren und seinen Untertanen das Leben zu verbittern, um sich ja so recht ordentlich verhaßt zu machen bei denen, die ihn doch gerade retten sollen!
Wo da die Wahrheit liegt, ist nicht gut zu ergründen – vielleicht, weil wir eine fast einstimmige europäische Presse haben, die sie uns erzählt. Man wird ein bißchen mißtrauisch. Die andre Partei, die man doch auch hören müßte, ist stumm. Man macht sich folgende Gedanken:
Abd ul Hamid scheint die Türkei zu einem Ansehen und einem Respekt emporgehoben zu haben, wie sie sie in langen Jahren nicht genossen hat. Er hat, so weit es die Gelegenheit eben gestattete, sich für die Hebung des Handels interessiert, hat sich auch nicht ganz der Reform im Schulwesen seines Landes widersetzt, er hat etwas Eisenbahnbau gestattet, er hat sein Heer rekonstruiert. Der Mann soll ein Arbeiter sein, der schafft wie ein Gaul; morgens steht er um fünf Uhr auf, und er hat einen ganzen Stab von Sekretären, die im Palast übernachten, für den Fall, daß etwas vorkommen sollte. Daß er grau und für einen vornehmen Türken geradezu dünnbäuchig ist, habe ich selber gesehen.
Was nun seine Grausamkeit gegen die Christen betrifft, so ist die allerdings recht mohammedanisch. Er ist ja wohl nicht umsonst »der Beherrscher der Gläubigen«, »der Kalif des Islam«. Aber hierüber müßte man eben auch die andre Partei hören; und die andre Partei ist stumm. Nur die eine Partei redet, redet unaufhaltsam und über die ganze Welt hin. In der Contemporary Review z. B. hat diese eine Partei – ein gehässiger Angreifer, der noch dazu türkischer Beamter ist – folgendes mitgeteilt:
Es ist eine bekannte Sache, daß die christlichen Elemente im ottomanischen Reich offenkundige oder heimliche Feinde des Staates sind. Was sie erstreben und was sie ausgerichtet haben in ihrem Kampf um die Unabhängigkeit, darüber weiß Europa genau Bescheid. Dagegen scheint Europa noch nicht entdeckt zu haben, daß dieser Unabhängigkeitsdrang auch bei den mohammedanischen Untertanen, den Kurden, Albanesen usw. vorhanden ist. Diese besitzen allerdings nicht die Kühnheit und Klugheit der Christen – steht da –, zeigen aber doch eine chronische Lust, Abd ul Hamid bewaffneten Widerstand zu leisten.
Da sieht man's!
Gesetzt nun, die Juden in Norwegen fingen an, offenbare oder heimliche Feindschaft gegen den Staat zu zeigen und noch dazu einer chronischen Lust, ihm bewaffneten Widerstand zu leisten, nachzugeben – was dann? Dann würden wir den Widerstand dämpfen, die Aufrührer niederschießen. Aber damit wäre die Sache nicht aus. Jetzt würden die Juden über die ganze Welt hin ein Geheul aufschlagen. Und das christliche Europa würde mit ihnen heulen. Und die Türkei würde mit ihnen heulen.
Und wir, die andre Partei, bleiben stumm.
Von einem Autor in Harpers Monthly Magazin erfahren wir, daß, als der letzte armenische Aufruhr ausbrach, ungefähr fünfundzwanzig Prozent der höchsten Beamten in der Hauptstadt Armenier waren. Es scheint demnach, daß der Kalif des Islam nicht alle seine Kraft daran wendet, die Christen auszurotten, sondern daß er die, die sich dem Staate gegenüber nicht feindlich zeigen, schont. Die mächtigsten Männer im ganzen türkischen Reich sind christliche Armenier und Griechen. Der Schatzmeister des Sultans ist ein Armenier; die Hälfte der türkischen Gesandten im Ausland bestand von Zeit zu Zeit aus Griechen, selbst auf den wichtigsten Plätzen, so der jetzt verstorbene Gesandte in Berlin, Aristarchy Bey. Und diese selben Christen besitzen drei Vierteile aller Ländereien im türkischen Reiche.
Die Armenier sind die Handelsjuden des Ostens. Sie bohren sich überall ein, vom Balkan bis nach China, in allen Städten, wohin man kommt, trifft man Armenier. Während die Zeitungen des Westens überströmen von Tränen über das unselige Schicksal dieses Volkes, kann man im Osten nicht selten hören, daß dies Schicksal verdient sei; sie werden mit auffallender Übereinstimmung als ein Volk von Spitzbuben dargestellt. In der Türkei selbst verdrängen sie die eignen Landeskinder aus einer Stellung nach der andern und nehmen selbst deren Plätze ein. Der Handel kommt in ihre Hände, das Pfandleihwesen und das Geld. Und die Erpressung.
Denn die Türken besitzen nicht »die Kühnheit und Klugheit« der Christen.
*
Langsam dampfen wir weiter und sehen schon fern vor uns Konstantinopel. Es fängt damit an, daß wir ein paar der Gesandtschaftshotels der Großmächte sehen, die durch ihre freie Lage dominieren und durch ihre grobe Größe und ihren Kasernenstil häßlich wirken. Dann sehen wir die Minaretts.
Wo die drei Wasser des Marmarameers, des Goldnen Horns und des Bosporus zusammenstoßen, liegt die Hauptstadt der Türkei. Solch eine Lage für eine Stadt hat in der ganzen Welt nicht ihresgleichen – auf beiden Seiten die naturschönen Höhen und unten die Wasser! Die Stadt liegt in zwei Weltteilen. Konstantinopel hat nicht den Farbenreichtum Moskaus, es hat nicht das Grün, das Gold und Rot seiner Kuppeln; aber es hat etwas, was Moskau nicht hat: die weißen Minaretts gegen den blauen Himmel.
Es wird lebhafter und lebhafter auf dem Wasser; Hunderte von Booten und Fahrzeugen jagen hin und her und machen uns das Weiterkommen unmöglich. Die Matrosen tragen lange Gewänder, manche den blutroten Fez, andre den Turban, – alle haben gebräunte Gesichter und Adlernasen. Diese langröckigen Männer passen zu der morgenländischen Küstenbarke; nichts könnte anders sein: die Form des Rumpfs und der Takelung, die sackartige Tracht der Menschen – das ist alles so wundervoll jenseits der Gegenwart! Es bringt unsre stumpfe abendländische Phantasie wieder zum Spielen!
Den ganzen Weg über pfeifend und warnend, kommen wir endlich an Land. Etwas Ähnliches an Menschengewimmel wie das, was uns jetzt umringt, habe ich nie erlebt! Alle miteinander wollen sie uns helfen, wollen uns Dienste tun, uns zum Hotel führen; und der größte Teil bettelt. Wir sehen viele Hotelbedienstete mit Goldbuchstaben an der Mütze. Wir wählen unsern Mann aus und übergeben uns seiner Gewalt und Fürsorge. Übrigens hätten wir ebensogut einen andern aussuchen können; die Hotels hier sind nämlich alle in den Händen eines Syndikats, und in einem seiner Hotels wären wir auf jeden Fall gelandet. Unser Mann ist aber auch recht gewandt und versteht seine Sachen, als ein alter Aufsichtstürke in Turban und langem Bart uns nicht ohne weiteres unser Gepäck vom Schiff nehmen lassen will – weil es ja ebensogut das Gepäck andrer Leute sein könnte – streckt unser Hotelmann bloß ein Geldstück aus, und der Türke wird mit einemmal umgänglich.
Und weiter geht's jetzt mit Bestechungen den ganzen Weg. Wir müssen durch eine Zollsperre. Es ist ein ungeheures Gedränge, ein Durchwühlen von Koffern und Taschen. Da meine Reisebegleitung eine Dame ist, wird uns persönlich höflich aufgeschlossen; aber unser Gepäck bleibt zurück. Man weist uns Sitze an, und wir setzen uns und warten. Endlich kommt der Hotelmann mit dem Gepäck. Es ist eine ganze Menge, manches davon schwer und dick; unter anderm ein paar Sachen aus Persien, Teppiche. Aber der Hotelmann kennt alle Zollbeamten, er besticht sie haufenweise, nicht mit größeren Geldstücken, aber mit einer Kleinigkeit für jeden einzelnen.
Es geht munter und kurzweilig zu. Wir öffnen nicht einen einzigen Koffer, nicht ein einziges Paket.
Im Wagen erklärt uns unser Mann den Betrieb. Er zieht diese Methode, zu verzollen, der richtigen, die eine Unmasse Zeit und Umständlichkeiten kostet, vor. Er fragt die Zollbeamten geradezu: Habe ich Ihnen schon etwas gegeben? Lautet die Antwort: Nein, so sagt er: Dann bitte! Wie habe ich Sie nur vergessen können! Und bezahlt.