Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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122 24.

Erst lange nach Mitternacht mußte Armgart zur Ruhe gegangen sein; denn als sie erwachte, war es schon heller Morgen. Die Sonne fiel ins Zimmer, ihr Lichtglanz rief sie aus ihrem dunkeln Alkoven heraus.

Die Besinnung auf ihre Lage kam ihr schnell genug. Das Donnergeräusch um sie her hatte wol nur während ihres Schlafes aufgehört. Schon war die Luft von demselben verwirrenden Geräusch erfüllt, wie gestern.

Schwankend schritt sie aus dem Alkoven hinaus und sah sich in ihrem Gefängnisse um. Es war ihr, als hätte es gestern Abend anders ausgesehen. Und bald auch bemerkte sie ein neues Licht. Auch frisches Wasser stand schon auf dem Tisch. So mußte also eine ordnende Hand hier schon gewaltet haben, während sie schlief. Nur der Klingeldraht hing zerrissen wie bisher.

Im Ofen fand sie auch ihr Frühstück. Sie nahm es und ergab sich jetzt. Ihre Augen, noch geröthet von den gestrigen Thränen, füllten sich aufs neue mit dem Ausbruch ihres Schmerzes. Aber sie klagte Hedemann's Grausamkeit nicht mehr an. Sie wollte nun dulden. Blinzelnd und erschrocken sah sie auf den zur Seite liegenden Brief, der jedoch keine Spur trug, daß er gelesen worden war.

123 Sie machte sich zu schaffen, so gut es ging. Das Zimmer war warm. Die Bibel lud zur Erbauung, zur Zerstreuung ein. Sie las einige Seiten. Dann ging sie an ihre Kleidung, die zu ordnen war; denn zerknittert und zerdrückt war alles. Sie öffnete ihre Tasche, nahm ihr Nacht- und Nähzeug heraus und sagte: Diese Nacht wirst du, wenn man dich nicht befreit. dem Bett vertrauen und dich getrost hineinlegen –! Sie gedachte der Märtyrer in Indien, »die ja auf viel schlimmere Art ein ganzes Leben lang in Kerkern schmachteten!« Das Brausen der Luft um sie her nahm sie schon so, als wäre es bestimmt, ihr das Gehör zu rauben. Auch darüber lächelte sie seufzend. Ein Geist der Ergebung war über sie gekommen. Den Brief Terschka's wollte sie erst lesen, wenn sie die Hoffnung baldiger Freiheit gewann. Sie ahnte, daß er ihre Bereitwilligkeit zum Dulden, ihr ergebenes Martyrium nur stören würde.

Stundenlang saß sie, das Haupt aufstützend und in grübelndes Sinnen verloren. Sprang sie zuweilen auch auf und rief mit Wildheit: Nein! Nein! Ich will nicht länger! so brach sie sofort wieder zusammen, schlich an die Thür, kratzte an ihr mit den Nägeln, stieß sie auch wol plötzlich mit Füßen, allmählich aber schlich sie wieder zum Sopha zurück und ergab sich ihrem Loose. Dazu fing die Bibel an ihr vertraulicher zu werden. Sie vermißte zwar in ihr die Gottesmutter und die Heiligen. Aber sie konnte sich auch an Abraham und die Patriarchen halten.

Kein lebendes Wesen um sie her bemerkte sie, als – einige Fliegen, mit denen sie schon Bekanntschaft gemacht hatte.

Als sie gegen Mittag wieder im Ofen rumoren hörte, sprang sie auf und rief Drohungen und Zornausbrüche in die geöffnete Klappe, die sich dann sofort wieder schloß. Niemand hatte geantwortet. Eine halbe Stunde raste sie umher und konnte sich nicht fassen. Auch die gestrige Mittagsrast der Mühlen fand heute nicht statt.

124 Ihre Kost war heute noch besser, als gestern. Ihr Wasservorrath reichte bis über die Nacht hinaus. Sie beschloß diese Nacht früher zu Bett zu gehen, damit sie den heimlichen Besucher am Morgen nicht verschlief, sondern aus dem Bett springend ihn überraschen könnte.

Wenn Shakspeare seinen Menenius sagen läßt, nach Tisch wäre der Mensch dem Mitleid zugänglicher als mit leerem Magen, so stumpfen sich jedenfalls mit zunehmendem Behagen des Körpers die heroischen Entschlüsse ab. Nach ihrer Mahlzeit konnte Armgart dem Verlangen nicht widerstehen, endlich den Brief Terschka's zu lesen. Sie that es jetzt. Sie las mit jener Scheu, die sich beim Oeffnen eines Briefes zuvor auch auf das Gegentheil dessen gefaßt gemacht hat, was man zu lesen wünscht.

»Verehrte Freundin!« war das erste Wort. Doch nicht »Geliebte Freundin!« sagte sie sich und hielt einen Augenblick inne, um neuen Muth zu schöpfen. Aber nicht zu lange währte die Hoffnung auf einen Ton, der ihr hätte beweisen können, wie voreilig sie urtheilte, wie überflüssig das Opfer war, das sie bringen wollte.

Zu ihrem Schrecken las sie: »Ich begrüße Sie in einem Augenblicke wieder, wo ich den Rath der weisesten Männer der Erde, die Hülfe der mächtigsten Gewalthaber anflehen möchte und wo ich doch niemand habe, dem ich vertrauen kann, als Ihr edles, starkes Herz! Sie, Sie sind die letzte Rettung meines Lebens –!«

Armgart hätte schon aufhören und erst neue Kraft sammeln mögen, aber die Buchstaben waren wie die Wirklichkeit dessen, was sie nur beschrieben, wie eine Scene, die sich auf einmal und sofort ganz gab. »Wenn ich mich erinnere, wie mir die gütige Freundschaft der Gräfin Erdmuthe stets so nachsichtig war, erinnere, wie für mich die Gräfin so oft bei Ihnen und Sie wieder bei der 125 Gräfin gesprochen haben, so schöpf' ich Muth und denke mir, der Zusammenbruch meines Lebens läßt sich noch aufhalten! Ich habe in diesen Tagen Schmerzliches gelitten und viel gekämpft. Bedenken Sie zu den innern Erfahrungen, die ich für meine Person allein machte, noch die Schreckenserlebnisse auf dem Schlosse! Der Brand, der Fund jener Urkunde, die unsern Freund, den Grafen, vollends zum Schattenbilde seines Namens und seiner gesellschaftlichen Würde macht! Ich weiß es, diese Bekenntnisse meiner Verzweiflung werden Ihnen räthselhaft erscheinen. Sie werden sie auf die Veränderung meiner Stellung zu Hugo und der Gräfin, zu Ihrer mütterlichen Freundin, beziehen – Aber das, was in mir vorgeht, liegt tiefer –! Ich muß ein Ende machen mit dem Elend meines ganzen Lebens. Der Wechsel der Religion ist ein leichter Schritt für eine starke Seele, die sich ihre eigene Philosophie gebildet hat; bei mir würde dieser Schritt mit Folgen verbunden sein, die meine Freiheit, nicht unmöglich mein Leben, wenigstens die Fortdauer meiner gegenwärtigen Lebensstellung bedrohen. Gern will ich untergehen, wenn ich wenigstens eine Hand finde, die mir den Tod versüßt! Nur das eine, eine Glück, einen letzten Preis für den Rest meines Lebens errungen zu haben, wenn es sonst auch in Nacht und Grauen dahinfährt! Ich bin schwach! Ich möchte nicht den Kampf mit dem Geschick zu herbe kämpfen und das vermag ich nur – durch Sie! Nur Sie blicken tief in das Menschenherz! Nur Sie können mit Engelzungen reden – reden, wo die irdische Sprache nichts Ueberzeugendes mehr hat –! Ein Entschluß muß gefaßt sein. In vierundzwanzig Stunden schon kann für mich alles verloren sein. Deshalb schreib' ich Ihnen! Deshalb fleh' ich fußfällig, gewähren Sie mir heute Abend, wenn ich von Witoborn zurückgekommen bin und ich Sie den Umständen angemessen auf Westerhof begrüßt habe, eine Stunde zur Verständigung! Ich 126 weiß nicht, wo es anders sein kann, als auf Ihren Zimmern. Um zehn Uhr ruht schon im Schlosse alles. Nehmen Sie mich an! Hören Sie mich! Vielleicht schon am Morgen darauf will ich nach England, zu unserer theuern Gräfin, die das Richtige in meiner Sache nur durch Sie allein finden kann! Denken Sie rein von mir, so rein, wie die Blumen sind, die Sie in meinem Namen zu begrüßen bereit stehen! Ich ahne, daß Ihre holdselige, liebliche Tochter sich wiederum der Umarmung der edelsten Mutter entzieht: aber auch sie wird Frieden stiften helfen für Ihre Brust und – für die meine! Ihre Hand, edelste Frau, wird eine segnende sein! Nur muß ich Sie heute Abend sprechen – ich muß – muß es! Ihr Urtheil hör' ich, ich versichere Sie, über Leben oder Tod –! Ihr Terschka.«

Falscher, gleisnerischer Bösewicht! rief Armgart aus, als sie zu Ende gelesen hatte. Deinen Glauben willst du ändern, nur um die Mutter heirathen zu können? Daß sie deinem Beispiel folge, dazu willst du sie überreden! Einlaß begehrst du zu ihr mit deiner schmeichlerischen Rede! O sie würde sich von deinem Winseln gerührt gefühlt haben! Sie hätte dir nachgegeben! Gott hat es gewollt, daß ich den Brief unterdrückte –! . . . Was kann aber dennoch inzwischen geschehen sein! Die List und Verschlagenheit dieses Menschen ist ja der Hölle entstammt –! So urtheilte Armgart. Sie ahnte nicht, daß in diesem, allerdings in jenem seraphischen, der Rhetorik der Jesuiten entsprechenden Ton geschriebenen Brief Wahrheit lag. Terschka wollte in der That mit seinem Stande brechen, wollte unter dem Schutz der Gräfin Erdmuthe, dieser heroischen Bekennerin ihres lutherischen Glaubens, vor den Folgen seiner Entlarvung sich sicher stellen. Monika's Zeugniß wollte er zu seiner Rechtfertigung vor der Gräfin für sich haben, wollte sich ganz in den Folgen seiner für den Grafen empfangenen Mission enthüllen, wollte Monika das 127 Räthsel seines Lebens zur Entscheidung vorlegen und für sich und zur Gewährung der Verzeihung sprechen lassen, wie er im Gegentheil ein Freund des Grafen wurde und seine römischen Aufträge nicht erfüllte. Wer konnte wie sie so tief nach den obwaltenden Umständen alles überblicken und ergründen, was zur Entschuldigung seiner Lage und – Lüge dienen konnte? Zuletzt wollte er in That und Wahrheit seine Liebe für Armgart bekennen. Diese Leidenschaft war so übermächtig in ihm, daß sie alle seine Schritte bestimmte. Gerade deshalb, weil sie ihm Kraft gab, den muthigsten Entschluß seines Lebens auszuführen, hielt er sie fest, und während er diese ebenso verzweiflungs- wie hoffnungsvollen Zeilen schrieb, stand wirklich nur Armgart vor seinen leuchtenden Augen. Die Liebe, die den Mann auf der Höhe seines Lebens ergreift, die Liebe, von der er ahnt, daß sie die letzte sein wird, die noch erhört werden dürfte, hat für ihn eine unabweisliche Kraft.

Armgart las jedoch aus allen diesen Hülferufen nur im Gegentheil die Liebe zu ihrer Mutter. Jedes Wort dieser glühenden Rede war ihr ein Ausdruck der Zärtlichkeit nur für sie! Für diese Liebe wollte Terschka seinen Glauben ändern und nach England entfliehen. Die Mutter mußte dann ein Gleiches thun. Von alledem hatten sich schon dunkle Sagen verbreitet. Schon als man hörte, Monika reiste mit Gräfin Erdmuthe nach England, war man auf einen solchen Schritt gefaßt. Diese Voraussetzungen des Briefes, wie sicher waren sie! Ein Angenommenwerden auf den Zimmern der Mutter in nächtlicher Stille konnte ihr nur beansprucht erscheinen nach längst vorausgegangener Vertraulichkeit. Der letzte Hinweis des Briefes auf sie selbst war ihr nur der Ausdruck einer matten Rücksicht; in nichts, nichts entsprach er den seit acht Tagen ihr gewidmeten Zärtlichkeiten und Huldigungen – »dieses treulosen Verräthers –!« »Das 128 der Dank für das Opfer eines – Lebens!« Hatte sie ihm nicht deutlich genug zu erkennen gegeben – daß sie ihn zum Gatten wählen würde, wenn auch mit blutendem Herzen – –?

Eine purpurne Glut des Zorns und der Scham färbte ihr Angesicht. Sie rannte auf und ab. Sie starrte den Brief unausgesetzt an und floh seine Buchstaben wieder wie Nattern. Das also ist die aufgedeckte Seele eines Menschen! Das ist der Abgrund der Wahrheit, den das Lächeln der Lüge, die Blumen des Scherzes meist verhüllen –! Namenloses Elend aller betrogenen Menschen! Und du, du Schimpf meines geliebten Vaters! Ich kann nicht, ich kann nicht erfüllen, was ich wollte! Die Mutter ist für mich verloren –! Vergib mir, o Himmel! Vergebt mir ihr alle, die ihr Recht hattet, mich zu tadeln! Vergib mir auch du, Hedemann! Ich will dulden! Will hier bleiben, deine Gefangene! Schwände das Licht des Tages doch ganz und säh' ich nichts mehr, als Nacht und Dunkel, wie ein Kind im Mutterleibe –!

Ein solches Bild zu wählen, war für Armgart nicht anstößig. Natürlichkeit und ihre Wahrheit gingen ihr über alles. Sie beugte das Haupt auf ihre weißen Hände, die sie aufstützte. Sie dankte, niederblickend, dem Himmel für die Lage, in der sie sich befand, dankte für das Brausen, das in ihr betäubtes Ohr drang. So war es ja doch schöner! So hätte sie jetzt untergehen mögen –! »O, diese Welt ist zu schlecht –!« Ihrem Vater hätte sie auf dem Schoose sitzen mögen, den allein mit allen verborgenen Zärtlichkeiten ihres Herzens liebkosen und freilich dann diese Zärtlichkeiten selbst wieder beweinen.

Nichts aber geschah zur Veränderung ihrer Lage. Sie blieb verurtheilt, auch diesen Tag, auch die Nacht so hinzuleben. Sie konnte ihren ersten Entschluß nicht ausführen, nicht zeitiger zur Ruhe gehen. Immer nur saß sie und dachte: So wandelt 129 euere Wege nur hin! So seid nur Lügner! So leugnet nur Gott und die Treue! So brecht euere Eide, enthüllt euere Sünden und schmückt euch mit ihnen noch sogar! Herr, laß mich nicht sitzen, wo die Spötter sitzen! . . . Wie erquickten sie jetzt die Psalmen! Die Bibel wurde ihr ein Trost. Jedes ihrer Worte paßte nun auch auf sie.

Spät ging sie zur Ruhe. Da ihr ganzes Sein Schmerz und Ergebung geworden war, schlief sie jetzt still und fest und träumte nichts Erschreckendes. Am Morgen hatte sie wieder den geheimnißvollen Besuch verschlafen. Gewiß war es die taube Alte, die indessen im Zimmer gewesen und aufgeräumt hatte. Armgart sah sich um und fand es ganz so friedlich und wohnlich um sie her, wie sie sich ihren Aufenthalt im Kloster gedacht hatte. Das Zimmer war schon warm, im Ofen fehlte ihr Frühstück nicht, auf dem Tisch stand das frische Wasser, auch ein neues und ein besseres Licht – Zeichen einer noch vorauszusehenden längern Gefangenschaft. Sie setzte sich dann und malte sich aus, was in ihrer nun schon dreitägigen Abwesenheit von Westerhof alles geschehen sein könnte. Terschka sah sie mit ihrer Mutter auch ohne den Brief – heimlich und aufs zärtlichste verbunden!

Zuletzt konnte sie Eines nicht fassen, was ihr heute Morgen besonders neu und wohlthuend war. Sie blickte um sich. Es war etwas vorhanden, was gestern fehlte. Waren es Blumen? Die dufteten doch nicht. Musik? Jetzt erst bemerkte sie, daß es um sie her still war. So in sich verloren, so an ihre Lage gewöhnt war sie schon, daß sie nicht bemerkt hatte: die Mühlen standen ja, die Wasser rauschten ja nicht, die Sägen schwiegen! Was ist das? erhob sie sich von ihrem Frühstück. Das ist der Himmel! Die Musik liegt in der ewigen Stille nach dem Geräusch des Lebens! Unwillkürlich mußte sie die Hände falten.

130 Und vorgestern und noch gestern hatte sie dies plötzliche Schweigen um sich her benutzt zu ihrer Befreiung. Heute, wo sie endlich wieder auch die Kirchenglocken hörte, riß sie nichts ans Fenster, drängte sie nichts, um Hülfe zu rufen. Selbst das Läuten des Münsters und der Jesuitenthurmglocke und der Dominicanerkirche – all diese Glocken konnte sie seit frühester Kindheit unterscheiden – all diese Zungen der Luft redeten nicht die Sprache ihres Innern. Sie sah in die Bibel und fand, daß dort die Psalmen und die Propheten andere Worte sprachen, als wie sie jetzt im Münster hätte vernehmen können.

Um etwas zu sehen von der Außenwelt, stieg sie zum Fenster hinauf. Es war ein bedeckter Frühlingsmorgen, Nebel verhüllten die schon hoch stehende Sonne, Schnee und Eis waren geschmolzen. Sie öffnete, um die frische, verheißungsreiche Luft einzuathmen. Sie sah Menschen vorübergehen. Niemand blickte zu den kleinen Schießscharten des Thurms empor. Auch waren die Wände so dick, daß ein hinter den kleinen Scheiben befindliches Antlitz nicht gesehen werden konnte. Dabei war um Hülfe zu rufen gar nicht mehr ihr Bedürfniß. Ruhig stieg sie von Tisch und Stuhl hinunter und ordnete ihre Kleider, flocht ihr Haar und schmückte sich mit jener Einfachheit, die sie seit Jahren gewohnt war.

Die Mühlen standen immer noch still und schon berechnete sie, ob heute ein Feiertag war. Die Fastnachtszeit ging zu Ende. In wenig Tagen war Aschermittwoch. Heute begann zu St.-Libori die vierzigstündige Anbetung des allerheiligsten Sakraments. Sie wußte, daß nun die Bilder aller Altäre der katholischen Christenheit verhüllt werden und nur das Kreuz offen blieb, um für die Passionszeit allein nur auf die Leidensgeschichte die Aufmerksamkeit zu lenken. Alledem suchte sie in ihrer Bibel nachzuleben, soweit es noch zutraf.

131 Gegen elf Uhr hörte sie ein näher kommendes Geräusch. Nicht vom Ofen her kam es, sondern vom Eingang. Sie hob ihr Dulderhaupt und sah ruhig auf die Thür, durch die ohne Zweifel Hedemann eintrat. Sie wollte ihm nichts Zorniges sagen, ob sie gleich im ersten Augenblick eine auflodernde Wallung nicht unterdrücken konnte. Hülfebringende müßten wol eiliger kommen! berechnete sie.

Draußen ging ein Schlüssel. Die Thür öffnete sich. Armgart hatte sich nicht erhoben. Ruhig, den Kopf auf die Hand stützend und nur von ihrem Buch aufsehend, saß sie da.

Jetzt aber mußte sie sich unwillkürlich erheben. Hedemann kam nicht allein. Er ließ einen Herrn und eine Dame vor sich eintreten. Die Besuchenden waren ein Paar. Sie kamen Arm in Arm. Die Dame war nicht groß, das Antlitz von einem schwarzen Schleier bedeckt. Der Herr erschien stattlich, frischen und gebräunten Antlitzes, den Kopf mit einer dunkeln Tuchmütze bedeckt, die rund herum ein goldener Streifen zierte. Hedemann sprach nichts. Die Besuchenden blieben oben an der Thür stehen und blickten auf Armgart und die Stufen hinunter.

Armgart überfiel eine seltsame Regung. Ihr Herz schien eine Weile zu stocken. Ein Zittern ergriff sie, als sie einen Schritt weiter machen und den so lange auf sie Niederblickenden entgegengehen wollte.

Die beiden Fremden blieben oben auf den Stufen und sahen nur stumm ins Zimmer. Der Herr mit der Mütze hatte einen schwarzen Ueberwurf um, ein buntes Tuch fast noch jugendlich um den Hals geschlungen, einen weißen aufrecht stehenden Halskragen – Er hatte etwas vom Onkel Levinus.

Da schlug die Dame den Schleier zurück. Lange silbergraue Locken quollen unter dem dunkeln Sammethut hervor. In den 132 Augen der frommen, jugendlich schönen Frau, in den Augen des stummen Mannes blinkte ein feuchter Glanz wie Thränen.

Armgart bebte – ermannte sich – glaubte – zweifelte – Endlich stürzte sie mit einem ausbrechenden Schrei auf beide schon die Stufen Herabkommenden und lag zunächst doch nur – in den Armen der Mutter.

Während dann auch Ulrich von Hülleshoven sein Kind an sich zog und in Armgart's Auge zu blicken suchte, blieb Armgart's rechte Hand noch in der Linken Monika's ruhen und zugleich hielt Monika's Rechte die edle, würdige Gestalt des Gatten umschlungen.

Die Rührung dieser drei Herzen war unaussprechlich und auch Hedemann, der den Empfindungen als Dolmetscher zu dienen hatte, konnte nicht damit vorwärts kommen. Monika riß ihr Kind fast wie eifersüchtig wieder allein an ihr Herz. Armgart – zwar noch tief mistrauend und doch wie von himmlischem Lichtglanz geblendet, wagte nicht zu ihr aufzublicken und wandte sich mehr und mehr zum Vater, aus dessen hellen blauen Augen sie eine selige Welt der höchsten Himmelsreinheit ansah. Der Oberst drängte sie aber selbst der Mutter zu und sprach in einem vor Rührung leisen, sonst männlich festen, wohllautenden Tone: Das ist ein Sieg nach langem Kampf! O Gott, o Gott! Was sind doch Menschenherzen verkehrt –!

Armgart, die bisher ihr unbekannten Aeltern nun endlich sprechen hörend, sank in die Kniee. Sie umschlang die Kniee des Vaters und reichte der Mutter mit krampfhaftem Zittern die Hand. Dann blickte sie wieder zu ihnen beiden empor und sog mit ihren schwärmerisch irrenden braunen Augen ihre Bilder auf. Und wieder den Aeltern mußte es sein, als sähen sie in einen See hinunter, über dem Rosen und Lilien schimmerten – in die tiefsten Tiefen dessen, was auf Erden und im Himmel schön und gut ist – in ihre eigene Jugend.

133 »Selig, selig«, sprach Hedemann und faltete die Hände über seiner – grauen Müllermütze, »bist du, die du geglaubet hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn!«

»Und Maria sprach«, fuhr Armgart, mit beinahe tonloser Stimme, mit den Worten des englischen Grußes fort: »Meine Seele erhebet den Herrn –!«

Noch einmal traten Pausen ein, deren die vom höchsten Glück erschütterten Herzen bedurften. Dann folgten Verständigungen und diesen die Entschuldigungen Hedemann's. Monika sah in der von Hedemann ihr dargereichten alten Bibel die Stunde der Geburt Armgart's verzeichnet und zeigte dem Gatten dies Blatt. Dieser warf einen mild überrascht und schmerzlich lächelnden Blick darauf und zog Monika an sein Herz. Der Oberst schien ein Mann, der nicht schon mit dem Sturm der Jugend die sanfte zärtliche Empfindung verloren hatte; alles, was er sprach, war zwar eigenthümlich gemessen und bedacht, doch jugendlich innig und wohlthuend. Monika staunte nur immer und strich wie in unbewußtem Träumen ihre grauen Locken.

Wo wir uns wiedergefunden haben? sprach der Oberst. Bei unserm Kinde! Bei deiner Liebe! Deiner – nun wandte er sich zu seinem Weibe – deiner vergebenden Liebe, Monika –!

Beim Geist und bei der Wahrheit! sagte Monika mit leuchtenden Augen, zeigte auf die Bibel und stand neben der aufhorchenden, immer noch scheu vor ihr niederblickenden, immer noch zweifelnden Armgart wie eine ältere Schwester, so jung, so schön noch und dies keineswegs nur infolge einer sie durchleuchtenden Verklärung.

Hedemann sprach vom »Kampf der Gerechten« und Armgart begriff immer noch nicht, was die Aeltern so plötzlich verbunden hätte? Sie fragte dies auch leise.

134 Monika sprach: Dein Opfer hat uns verbunden, Kind! Du bist das Kind – meiner Schmerzen! Deine Gefangenschaft! Hier dieser Thurm hat uns verbunden! Ist es nicht so? Hedemann! Wie dank' ich Ihnen –!

Auch Ulrich wollte Hedemann danken, umschlang aber nur die Sprecherin und umschlang sie mit jener männlichen Würde, die den Ausbruch einer noch jugendlich regsamen Leidenschaft mildert. Sie soll noch alles hören! sprach er. Nun aber kommt! Laßt uns im Triumph nach Westerhof fahren und zeigen, was wir mitbringen können! Nun, nun erst zieh' ich ein! Anders wär' ich dort nicht erschienen!

Nicht blos Armgart, sagte Hedemann, sondern sich selbst bringen Sie beide mit!

Monika's Ja! war so einfach, aber sie konnte nichts besseres sagen, als dies Ja! und reichte dem Gatten die Hand.

Noch schien die Aussöhnung das Werk einer vor wenigen Minuten erst gekommenen Verständigung zu sein. Monika schwankte noch wie ein vom Wind bewegtes Rohr. Kind und Gatten hatte sie in Einem Moment gefunden.

Wen nur nehmen wir noch mit? rief der Oberst. Benno ist fort! Mein »Geretteter«, Thiebold de Jonge, auch – Selbst die schwarze Hexe, mit der du von Westerhof entflohen bist, du Schwarmkind, ist nicht mehr da! Der Domherr ist im Amte! Aber gestern noch suchte mich ein Herr von Terschka auf, der heute wiederkommen wollte – er wohnt auf dem Schlosse! Wer begleitet uns im Triumph? Ganz Witoborn müßte eigentlich mit!

Armgart zuckte auf den Namen Terschka's zusammen und blickte zur Mutter hinüber, die sorglos und nur voll Wehmuth stand. Denn Monika sah es, offenbar gab das Herz des Kindes dem Vater den Vorzug. Sie sah dies an dem auf sie so sonderbar scheu und prüfend gerichteten Blick Armgart's.

135 Terschka suchte dich wie einen verlorenen Edelstein! fuhr der Vater harmlos fort. Und das bist du ja auch! Terschka verdanken wir eigentlich Alles! Nicht wahr, Monika –?

Armgart hörte und hörte. Durch Hedemann reisefertig gemacht, ging sie schon wie eine Führerin voraus. Eros, der Griechengott, voranleuchtend mit der Fackel!–

Monika rühmte im Nachfolgen Terschka's Gefälligkeit. Der Vater war ganz erfüllt von dem böhmischen Rittmeister. Fast schien es, als hätte bei ihm Terschka um Armgart angehalten. Klar blickte Armgart über nichts und sah sich nur immer nach einem störenden Schatten zwischen ihnen allen um, zerpreßte den Brief, den sie wieder auf der Brust verborgen trug, und deutete noch dies und das nach dem Lügengeist, den sie gestern als den Beherrscher des Lebens erkannt haben wollte. Wie ist das nur –? sprach sie vor sich hin und zog Vater und Mutter sich nach in die freie Gotteswelt.

Jetzt begannen auch wieder die Mühlen, die Wasser rauschten. Man stieg über die Schwelle des Thurms. Die taube Alte sah ihnen verwundert und schelmisch lachend nach. Unten standen Gesellen und Bursche und zogen die Mützen und weiter und weiter ging's. Durch die Bächlein, über die Brücken. Zu sprechen war hier nichts, nur zu sehen, nur der Druck der Hand zu fühlen.

Der Thurm da hat euch verbunden? hauchte Armgart, als sie an den Wällen ankamen, wo in der Allee ein Wagen auf sie wartete, ein Kutscher von Westerhof in den Dorste'schen Farben. Sie schüttelte den Kopf und ihre lieblichen beiden Zähnchen blinkten.

Ja! Die Seele des Thurms! sprach der Vater.

Die Mühlen! Die Mühlen! lachte Hedemann und bat Armgart um Vergebung. Er selbst konnte dann nicht weiter folgen. So stiegen die Aeltern und Armgart allein ein.

136 Im Wagen sah Armgart, daß das Band ihrer Aeltern in der That eben erst wieder geschlossen war. Das Auge des Vaters ruhte mit gleicher Wonne auf ihr, wie auf der Mutter. Das Auge der letztern war umflorter, als das seinige. So dachte sie sich Braut- und Bräutigamswonne beim Heimfahren von der Kirche.

Du begreifst es noch nicht recht? sprach der Vater zu ihr. Und so ganz licht und hell ist auch die Zukunft noch nicht, mein Kind! Die Zeit der Kämpfe – beginnt erst. Da aber, als ich mich nach einem Beistand dafür umsah, da gerade fand ich die besten Bundesgenossen. Weib und Kind!

Auf Armgart's Staunen blinkte ihm Monika ironisch zu: Sie lebt und schwärmt, sagt man, wie Paula!

Das war so ein erster Zug von dem, was Armgart als das Wesen ihrer Mutter kannte. Armgart verstand nicht ganz, was die Mutter meinte, ahnte aber die Gedankenwelt, die Vater und Mutter hegten und die sie verband. Da es die nicht war, die sie theilte, so verließ sie ein gewisses Zagen nicht. Aber sie urtheilte nicht. Sie grübelte, was die Aeltern so recht, recht einigen mochte und – wie die Mutter – mit Terschka stand? Da sie fürchtete, durch ihr Schweigen kalt zu erscheinen, sagte sie zum Vater: Du warst also noch nicht – auf – Westerhof?

Der Oberst schüttelte sein jetzt ernster werdendes Haupt. Nein! sprach er. Ich konnt' nur so, wie jetzt, dort ankommen! Wenn die Mutter dort war – – konnt' ich nur mit unserm Kind kommen! So seinen Worten gleich die mildere Deutung gebend, blickte er träumerisch und sich auf die Vergangenheit besinnend in die Ferne – Das da ist St.-Libori? sagte er.

Die Mutter war bereits heimischer. Es war der dritte Tag schon, den sie in Westerhof zugebracht. »In bangen Aengsten!« Armgart glaubte das wohl. Aber räthselhaft, wie sorglos die 137 Mutter von Terschka sprach! Noch räthselhafter für Armgart, wie ihn der Vater so rühmen konnte!

Herr von Terschka mußte gestern plötzlich zum Bischof! sagte der Vater. Er wollte doch heute in der Frühe wiederkommen. Ja, wir glaubten erst, du wärst bei den Clarissinnen! Terschka wollte es behaupten und sagte, sie verbärgen dich dort. Hedemann gestand mir noch nichts –

Erst heute früh gestand er's! erklärte die Mutter.

Als du kamst? fragte sie.

Ja, Armgart, als ich – Ich kam zuerst – zum Vater! Sieh mir doch nur ins Auge, Seelenkind –!

Armgart hielt die Hände beider Aeltern und sah dabei noch immer nach rechts und nach links.

Wann sagte es denn Hedemann? – stammelte sie, ungewiß noch über alles und mit liebenden Augen die Kälte ihres Fragens mildernd.

Wo du warst? fiel der Vater ein. Da sagte er es, als er sah, daß du in unsern Herzen wohnst! Liebes Kind! Deine Mutter brachte mir durch ihr Anklopfen an meine Thür Lebensmuth, Stolz, Erhebung! Sie hörte, daß sie mich so heftig in Westerhof anklagten. Sie hörte von meinen Absichten auf Witoborn. Sie war davon überrascht und vertheidigte meine Auffassungen der Zeit, meine Wahl eines Berufs und meine Denkweise. Sie hatte sich meiner Person entwöhnt und machte plötzlich einen ganz andern Menschen aus mir, als ich bin – ja sie hatte sich – sollte man's glauben – in meinen schlimmen Ruf verliebt! In Westerhof nannte man das Papier eine Erfindung des Satans. Nun, bei uns hat es sich als eine Erfindung der Engel bewährt! Ein Mühlenbesitzer, ein adeliger Papiermüller, der interessirte deine Mutter und sie kam, um als Lumpensammlerin bei mir zu dienen. Ein wichtiges Amt, Kind! Ich hoffe, du 138 bekehrst das ganze Stift Heiligenkreuz zu unserm Geschäft und verschaffst mir abgelegtes Leinzeug aus unserer ganzen Provinz –

Armgart hörte nur zu. Es waren ihr ganz fremde Gedankengänge.

Ulrich! fiel die Mutter ein. Sie ist zu jung, um zu verstehen, was über alles, alles im Leben geht und warum es heißt: »Im Anfang war das Wort!«

Armgart widersprach keineswegs. In ihrer Seele klangen die Evangelien und die Stimmen aus der Bibel nach. Sie begriff – wenn auch mit tiefem Bangen – daß sich die Aeltern durch die Verwandtschaft ihres Denkens, durch die gleiche Richtung des Willens, durch den Muth ihrer Ueberzeugungen wiedergefunden hatten. Die Mutter hatte vom Vater so viel gehört, was ihrer eignen freien Gesinnung entsprach, daß sie zuletzt nicht mehr zu halten war, zu ihm zu gehen und zu sagen: Ulrich, suchen wir doch unser Kind! Sie ließen beide Armgart den Ruhm, daß sie, sie allein die letzte Entscheidung gegeben.

Da Armgart so oft schwieg, so tief versunken blieb in ihre stille Welt des Glücks und des noch immer nicht recht befestigten Glaubens an dies Glück, so hielten sie allmählich die Aeltern für weniger geistesreif, als sie ihnen geschildert worden war. Sie beruhigten sich darüber leicht und sprachen mit ihr von der Gegend, vom Brand, von Paula, von der Erbschaft, von den Bewohnern des Schlosses Westerhof, von Bonaventura von Asselyn, der, wie Monika sagte, für den aufs Neue erkrankten Pfarrer die kirchlichen Handlungen verrichten helfe, aber schon für die nächsten Tage nach der Residenz des Kirchenfürsten zurückgerufen wäre. Armgart gab klug und verständig ihre Erläuterungen und schon erfreute sie die Aeltern durch kleine Anflüge ihres Humors. Harmlos ergingen sie sich in ihren Urtheilen über Zeit und Welt. Was die Mutter von Paula berichtete, waren Zweifel 139 an ihrer Seherkraft. Doch wurden diese Zweifel milde vorgetragen und verriethen vor Armgart's Freundin Achtung. Die Mutter hatte nicht, wie Lucinde, an ihren Verneinungen Freude.

Das Erstaunen, die Ueberraschung, der Triumph, womit die drei Ankömmlinge auf dem Schlosse empfangen wurden, war unverstellt und schon um Armgart's, des wiedergefundenen Flüchtlings willen! Benigna, die um Armgart's Schicksal, um Monika's plötzliche Parteinahme für ihren Gatten in heftigster Erregung zurückgeblieben war, vergoß Thränen, unaufhaltsam. Onkel Levinus setzte sich Ulrich's englische Militärmütze mit den goldenen Tressen auf und vergaß alle Anklagen über Standesetikette und Standesrücksichten, die Monika beinahe schon gestern von dannen getrieben hatten. Auch wol jetzt noch spottete er über den Papiermüller, maß sich aber doch mit ihm an der Thür, wo sie sich einst vor dreißig Jahren in ihrem Wuchse gemessen hatten und den Strich richtig noch fanden – nur daß damals Levinus der größere, jetzt der kleinere war und Ulrich rief: Gewachsen bin ich doch wahrhaftig nicht! Nun dann bin Ich – zusammengekrochen! gestand Levinus zu und lachte Paula entgegen, die Armgart, die »Wiederentdeckte«, an ihr Herz zog und vor Ulrich, Armgart's vielbesprochenem Vater, in Verlegenheit stand, überhaucht wie mit Rosen. Nun fehlte noch Terschka; er wurde erwartet. Auch Bonaventura, der noch in St.-Libori oder im Stifte war. Verständigungen, Aufklärungen folgten. Die Tante ging sogar auf einige der immer zahlreicher fallenden Ketzerbemerkungen ein. Sie verwies als einen sträflichen Aberglauben die Abhängigkeit, in die man sich von »unüberlegt ausgesprochenen Gelübden« setzte. Ja sie erzählte sogar, als Terschka und Bonaventura immer noch nicht kamen, mit leisem Kichern eine Geschichte von Müllenhoff's neuer Krankheit. Sie wurde nur halblaut vorgetragen, drang aber doch zu Armgart's 140 Ohr. Nachdem hintereinander erst ein Püppchen, dann ein Kätzchen an des Pfarrers Hausthür wäre ausgesetzt gewesen, hätte man gestern in der Frühe ein wirkliches – lebendiges – neugebornes Kind, einen pausbackigen Jungen, hellschreiend in einem Korbe gefunden. Was von Urtheilen daran angeknüpft wurde, entging Armgart. Sie war in jener Stimmung eines Kindes am Weihnachtsabend, wenn die Bescherung längst da ist und der glücklich trunkene Blick doch immer noch irrt und irrt und das Oeffnen der lichterhellten Zimmer erst noch zu erwarten scheint. Sie machte sich Vorwürfe über ihre der Mutter bewiesene Kälte.

Wie beherrschte aber auch Monika schon den ganzen Kreis durch ihren Geist, ihre Ruhe, ihre – Aehnlichkeit mit der Tante und doch so ganz ihr – Anderssein –!

Terschka blieb aus. Und wenn er kam, was dann –? dachte Armgart. Ja, ihr Opfer schien ihr in der That noch nicht ganz vollzogen, das Band, das die Aeltern einigte, nicht fest genug – Nach solchem Briefe! Solcher Sprache! Kam Terschka – Sie fühlte, daß sie dann noch, Gott zu Ehren, erst von einem Felsen springen mußte! Sie bebte bei dem Gedanken: Sollst du ihn begrüßen – als den Erwählten deines Herzens? Sollte sie die Parteilichkeit der Aeltern für ihn als eine Unterstützung seiner Werbung gelten lassen? Sie hätte vergehen mögen. Sie dachte, kaum die Thränen zurückhaltend, an Thiebold und Benno.

Monika stand mit Rührung über Armgart's stete Zurückgezogenheit von ihr. Oft auch mit dem Gedanken: Sie ist noch ein Kind! Sie bleibt, so schön und hold sie ist, doch hinter der Erwartung zurück, die ich von ihr haben sollte! Ein trunkenes, blindes Verlorensein des Muttergefühls im wiedergefundenen Schatz ihrer Sehnsucht lag nicht in Monika's Natur. Paula beobachtete sie deshalb prüfend genug.

141 Immer hieß es dabei: Wo bleibt der Domherr? Wo Terschka? Wurde Terschka's Name genannt, so richtete sich Armgart auf, sah die Mutter an, ob die Mutter lügen, heucheln könne, und wollte sich Muth geben, ihm sogleich mit geschlossenen Augen und wie mit zum Todesstoß dargereichter Brust entgegenzugehen.

Monika blieb jedoch harmlos, ruhig, befriedigt, glücklich. Der Domherr hatte sie gestern und vorgestern so begrüßt, als kannte er sie nicht, hätte sie nie in seinem Beichtstuhl gehört. Er hatte die natürlichste Sorge um ihre Aussöhnung mit dem Obersten und das Auffinden Armgart's verrathen. Ihre Philosophie, nach welcher man der Reue nicht zu viel einräumen sollte, kannte kein Reuegefühl über ihr »maßloses Sichgehenlassen« im Beichtstuhl damals, als sie von einer »zweiten Liebe« gesprochen. Sie hatte doch eigentlich nur die Ehegesetze der katholischen Kirche angreifen wollen.

Paula bildete auch jetzt noch, wie immer, den Mittelpunkt, so wenig sie diese Ehre suchte. Monika fragte forschend ihre Schwester: Warum ist sie – nur so unruhig –? Monika hätte eine Offenbarung ihres geheimnißvollen Traumlebens wünschen mögen.

Benigna misverstand die Frage. Sie glaubte, Monika meinte Armgart. Denn diese stand allerdings am Fenster und wartete – auf Terschka und wie auf ihr Todesurtheil. Sie kämpfte, ob sie ihn so empfangen müßte, daß alle sagten: Das ist ja ein Paar –!

Benigna aber hatte, um nur wieder zanken zu können, mit dem Essen zu thun, wozu schon gerufen wurde. Man ging zu Tische. Schon saßen alle – da rollte ein Wagen vor. Wol Terschka –? rief der das Hundertste ins Tausendste redende und im Geiste bereits auch schon Papier machende Onkel.

Armgart griff an ihr Herz. Ihr Vater beobachtete sie. Auch die Mutter. Ein Diener wollte eben sagen: Herr von Terschka 142 hat hinterlassen – Da meldete man den Domherrn. Paula erglühte.

Monika bekam Ahnungen von Bonaventura – als dem »Bruder Gottfried« der neuen Hildegard. Paula's Sehergabe hatte geschwiegen in diesen drei Tagen, wo der Domherr wenig auf dem Schlosse war.

Endlich erschien Bonaventura. Er war ernst und milde, wie immer. Die Neuverbundenen grüßte er, ohne zu thun, als läge für ihn in dieser Verbindung etwas Unerwartetes. Er wußte schon alles von Hedemann. Von Witoborn kam er, wo auch er hatte Armgart suchen helfen wollen und den Obersten begrüßen. Er beglückwünschte mehr mit dem Auge, als mit den Lippen und forschte den Obersten nach dem Onkel Dechanten aus. Mit Armgart sprach er sogar scherzhaft und neckend. Aber bei alledem blickte er voll Trauer.

Reisen Sie wirklich schon morgen? fragte der Oberst bedauernd.

Bonaventura bestätigte seine Abreise, sprach von einem Auftrag nach Wien – von einer Erhebung sogar zum Domcapitular.

Man beglückwünschte ihn voll Ueberraschung.

Paula senkte die Augen.

Monika's Art war kein kleinliches Forschen; doch bemerkte sie die Gleichzeitigkeit des trauernden »Ja!« und jener gesenkten Augen.

Wie viel Gründe hatte nicht Bonaventura für seine Trauer –! Wie liebevoll und beziehungsreich sprach er von Benno und vom Dechanten –! Als man wiederholt nach Terschka spähte, überraschte er alle mit dem plötzlichen Worte: Terschka –? Sie wissen – also – noch nicht –?

Die fragenden Blicke aller richteten sich auf ihn zugleich, zum Zeichen, daß man ohne jede Ahnung war.

143 Armgart hielt krampfhaft die Hand der Mutter und die des Vaters. Sie saß zwischen beiden. Beide verstanden allmählich ihre Aufregung und sahen in leicht erklärbarer Täuschung die »Liebe« des jugendlichen Herzens. Monika sah diese Verirrung mit Schrecken.

Herr von Terschka ist abgereist! fuhr Bonaventura fort. Wußten Sie das nicht?

Abgereist? So plötzlich? fragten der Onkel und die Tante und sahen sich nach den Dienern um, die davon wissen mußten.

Jeden Zug beobachtete Armgart im Antlitz der Mutter und diese wieder in dem der Tochter und beide saßen sich gegenseitig anstarrend.

Ich wiederhole Ihnen nur, was ich soeben in Witoborn aus jedermanns Munde hörte. Herr von Terschka war gestern Abend beim Bischof, heute in aller Frühe schon im Kloster Himmelpfort; dann will man ihn noch im Düsternbrook bei den beiden Eremiten gesehen haben. Ein Pferd soll er in Witoborn in den Stall »bei Tangermanns« gestellt haben, das über und über mit Schweiß bedeckt war. Dann nahm er Extrapost und ist abgereist.

Die Tante klingelte den Dienern, die auch eben die Speisen hereintragen sollten.

Monika blickte nieder – Für sich selbst fühlte sie sich wie erlöst. Hatte sie doch Terschka gestern und vorgestern mit unbesonnener Vertraulichkeit verfolgt, ja sogar in Erwartung, sie hätte seinen Brief erhalten, gewagt, Abends an ihre Thür zu pochen, wo sie sich vor seinem »Ueberfall« nur durch die Glocke hatte helfen können. Seitdem hatte sie ihm nicht mehr Rede gestanden und wies einen Brief Terschka's, eine Wiederholung des ersten, zurück. Aber – Armgart –?

144 Von den Dienern erfuhr man, daß Terschka in aller Frühe mit einem großen Koffer nach Witoborn gefahren war; der Wagen war eben jetzt allein zurückgekehrt.

Der Onkel, hocherstaunt, fragte: Aber die Schlüssel seiner Zimmer?

Ein Diener übergab die Schlüssel.

Daß nach dem Fund der Urkunde Terschka hier nicht mehr lange verweilen würde, hatte man vorausgesehen. Dennoch war diese jähe, abschiedslose Entfernung aus seiner ihm, man sah es gestern und vorgestern, unbehaglich gewordenen Lage zu auffallend.

Inzwischen blickten alle auf Armgart. Sie hing erwartungsvoll an Bonaventura's Munde . . .

Als die Diener sich wieder entfernt hatten, ließ Bonaventura, ohne zu grelle Hervorhebung, wenn auch mit Beben, die Worte fallen: Sie werden bald vernehmen, was ich in Witoborn, wie gesagt, schon aus jedermanns Munde erfuhr. Terschka ist seltsamerweise – nicht in der Lage, je – hierher zurückkommen zu können –

Alle horchten auf.

Terschka war – das nicht, was er uns allen erschien –!

Armgart hatte sich erhoben. Jeder erwartete, sie würde ausrufen: Er ist vermählt –?!

Bonaventura sprach leise: Terschka ist – ein Priester –!

Ein Wort des Erstaunens erstarb auf aller Lippen.

Noch mehr! fuhr Bonaventura fort und dämpfte die Stimme – Man sagt es allgemein in der Stadt – er gehört dem Orden – der Gesellschaft Jesu an und hat in Rom längst das vierte Gelübde abgelegt. Mein Stiefvater – scheint – die Gesetze gegen ihn geltend gemacht zu haben, die keinen Jesuiten im Lande dulden. Oder – vermuthet man – seine Mission ist zu Ende und 145 man hat ihn schleunigst nach Rom zurückberufen. Nur zurückhaltend spricht man von diesem seltsamen Vorfall; doch scheint die Nachricht – unwiderleglich zu sein.

Es gibt eine magische Lichtwirkung, die plötzlich die blühendsten, lebensfrischesten Physiognomieen in Larven verwandelt. So war die Wirkung dieser Mittheilung. Was mußte man von Terschka's Metamorphose, was von seiner Verbindung mit den Camphausens in Wien, was von seinem Leben hier auf dem Schlosse halten –? Monika, die den Beziehungen Terschka's zur Familie des Grafen Hugo durchaus nahe stand, konnte sich kaum im Sitzen erhalten. Ihre Lippen bebten, ihr Auge rollte, ihre Brust hob sich; sie hatte einen – Fluch auf der Zunge. Das sahen alle.

Ihr Gatte betrachtete sie mit gleicher Empfindung und maß den Antheil, den er gleichfalls aus Monika's Beziehungen zur Mutter des Grafen Hugo vollkommen zu würdigen wußte. Er verstand die Entrüstung vermöge gleicher Gesinnung.

Dennoch stammelte Monika zuletzt: Fast glaub' ich, man muß dem Mann nicht zu sehr zürnen! Er war vielleicht mehr ein Opfer, als ein Werkzeug!

Mehr konnte sie nicht sagen. Denn alles war erschreckt durch Armgart. Diese stand, wie wenn sie eine Geisterwelt um sich sähe. Nicht daß sich ihr sofort das Räthsel des Briefes enthüllte, daß sie sofort verstand, wie Terschka nur gerade eine Last der Seele hatte abschütteln, deshalb convertiren wollen. Sie sah nichts, als daß Terschka aufhörte ein Mann zu sein, aufhörte, verwirrend und bestrickend in Frauenseelen eingreifen zu dürfen. Die Mutter war erlöst, sie selbst war es! Sie stieß einen lauten Ton – der Freude aus, einer Freude, die nur Paula begriff. Sie stürzte auf die Mutter zu . . . Jetzt, jetzt erst sie wiedergewinnend, jetzt erst ganz an sie glaubend, nachholend, was sie an ihr 146 versäumt hatte, lichtumflossen gleichsam nach so langer dunkler Irrung, umarmte sie die Befremdete, küßte ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Hände, umfaßte ihren Leib und entfloh aus dem Zimmer.

Was ist dem Mädchen? riefen alle – außer Bonaventura und Paula. Eine Pause trat ein. Man kehrte zur Gleichgültigkeit zurück, sprach den Speisen zu. Monika aber sah sich rund im Kreise um, las auf dieser, auf jener Miene – Erst allmählich begriff sie das beharrliche und auffallende Schweigen Bonaventura's und Paula's und sagte, sich in ihren Vorstellungen Licht suchend und es endlich findend: Welch ein Wahn –! Purpurroth sah sie vor Bonaventura nieder und gedachte ihrer Beichte – nun, wenn nicht bereuend, doch beschämt.

Die Tante kannte Terschka's Neigung für ihre Schwester. Aber ihrer Verlegenheit half die Nachwirkung des Schreckens über Terschka. Allem Unangenehmen gleich zur Abwehr gestimmt, hatte sie das Bedürfniß des Polterns. Sie ist eine Närrin –! rief sie Armgart nach. Bald aber stockte auch ihre Rede – voll Grauen über die Verstellungskunst, deren Zeuge man hier einen Winter über gewesen war.

Der Onkel gab sich offener. Er verweilte mit unausgesetztem Erstaunen bei des Domherrn Mittheilung und fand sie für die Enthüllung römischer Zustände »ganz außerordentlich«.

Armgart's Platz blieb leer. Man aß und suchte in zerstreuendem Gespräch Fassung zu gewinnen. Was stören und die eben gewonnene Einheit trüben konnte, wurde vermieden. Levinus rügte nichts am Bruder, die Tante nichts an ihrer Schwester. Ulrich und Monika behielten für sich, was beide tiefschmerzlich von Rom und Roms Bann über die Welt empfanden.

Bonaventura und Paula hatten gleiche Empfindungen. Dennoch erhielt Onkel Levinus scheinbar Recht, als er das Glas erhob und sprach. Jeder Mensch ist so glücklich, wenn er die 147 erste Summe seiner Ersparnisse zurücklegen und sagen kann: Das haben wir denn nun – und das Uebrige findet sich! Halten wir uns an das Glück, das wir sehen und – mit Händen schütteln! Hoffen wir, daß im Schoos der Zukunft mehr, viel mehr noch zu unserer Freude verborgen liegen wird, als wir ahnen –!

Darauf klangen auch alle an. Die Tante lachte über das Levinus'sche, sonst ihm gar nicht geläufige Bild von »zurückgelegten Ersparnissen«. An ihrem Kichern erkannte man erst, daß sie eigentlich für die unangetraute Gemahlin des Generalverwalters der Dorste'schen Besitzungen gelten konnte.

Manche Neckerei würde gefolgt sein. Aber plötzlich fiel allen Paula's Blick auf.

Paula hatte von den Speisen wenig nehmen mögen. Ihre Erregung mehrte sich durch die Erwartung der Wiederkehr Armgart's. Sie fragte nach ihr. Schon seltsam leise erklang ihre Stimme. Die Tante kannte diesen Ton und erhob sich.

Paula blickte starr auf die großen silbernen Gefäße, die beim Mahle benutzt wurden. Die Tante rückte eine glänzende Vase zurück, in der sich Paula schon wie unbewußt spiegelte. Das glänzende Metall verursachte ihr die bekannte Wirkung. Paula begann mit Armgart seltsame Worte zu sprechen, ohne daß Armgart im Zimmer war.

 

Ende des fünften Buchs.


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