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Armgart lag, als müßte sie irgendwo ihr sie überwältigendes Gefühl aufs mächtigste ausströmen, im Arm des Onkels. Sie küßte ihm den Reif von seinem großen graublonden Bart. in welchem sich ein Antlitz verbarg – vergleichen wir's nur geradezu mit einem menschlich gemodelten Thierkopf; gibt es gutmüthigere Augen als die des Pferdes oder eines treuen Hundes? Stirn, Backenknochen, Nase waren (mehr konnte man vor dem Barte nicht sehen) hart und massiv, aber die wasserblauen Augen. ohnehin feucht von der Fahrt und der Kälte, glänzten so scheu, so gut, so treuherzig, wie – rügt nur immerhin den Vergleich! – die Augen der großen Bulldoggen an den Ketten im Hof. Armgart umschlang ihn mit einer Innigkeit, als sollte alles, was durch das Gespräch in der Kapelle sich in ihrer Brust vom Gefühl einer mit Gewalt abgelehnten Liebe gesammelt hatte, jetzt doch Einem zugute kommen.
Benno grüßte einfach und schüttelte dem gewissensscheuen, im Laternenschimmer vollends geisterbleichen Thiebold die Hand.
Terschka war schon unterwegs, die Tante zu begrüßen, die allen auf halber Treppe entgegengekommen war, während sich oben auf dem Korridor auch Paula sehen ließ, vor welcher schon einer der mitgekommenen Diener mit einem silbernen Leuchter 108 von mehreren Flammen stand und ihre zu allen Zeiten feierliche Erscheinung jetzt besonders würdevoll beleuchtete.
Gesund und wohl? konnte man freudigst und ungehindert fragen. Alles glücklich abgelaufen? fragte man schon weniger ungehindert. Denn in Gegenwart Paula's mochte man nicht verrathen, daß sie eine Störung des Leichenbegängnisses im Düsternbrook gesehen hätte – darüber war keinem von den Zurückgebliebenen ein Zweifel, daß dort wirklich etwas »vorgefallen« sein mußte.
Die Männer ließen ihre schweren Bekleidungen oben im Vorsaal und fanden, indem sie links sogleich durch das Eßzimmer schritten, in einem heute noch gar nicht geöffnet gewesenen, inzwischen geheizten gemeinschaftlichen großen Wohnsaale im linken Thurm die Zurüstungen zum Thee. Das war denn hier ein gar traulicher Raum. Ein großer runder Tisch, höchst kunstvoll ausgelegt, in der Mitte mit einer kleinen Damastdecke belegt, enthielt schon die siedende Theemaschine. Nähtische waren noch dicht an diesen Tisch gerückt mit weiblichen Handarbeiten. Eine große, mit einem Blechschirm bedeckte Ampel mit mehreren Flammen, die mit metallenen Ringen an der Decke befestigt war, beleuchtete das ganze, rings mit Gemälden geschmückte, teppichbelegte Zimmer. Die weißen Fenstervorhänge waren niedergelassen, die Gardinen waren zugezogen, das Feuer in einem hohen Kamin prasselte: es war eine Stätte des Friedens.
Onkel Levinus schritt, umschlungen von Paula und Armgart, daher wie ein von langen Reisen Zurückgekehrter. Es war ein untersetzter, stämmig gebauter Herr. In seinem Lächeln lag beinahe etwas – List, die der Ausdruck des Geistes ist, den dieser immer da hat, wo er sich waffen- und harmlos gibt. Das Junggesellenhafte zeigte sich in der chevaleresken Begrüßung der Tante, die ihm auch ihrerseits holdseligst entgegenkam und 109 nicht das Mindeste jetzt verrieth von ihren gewohnten Misbilligungen z. B. seiner Methode, die Merinoschafe aus Spanien einzuführen, seines Bohrens auf Steinkohlenlager, welche sich nicht fanden, seiner Gestütsveredelungsversuche und ähnlicher Dinge, die sie seit Jahren an dem phantastischen und kostspieligen Wirthschaftsführer controliren mußte.
Terschka fragte nach dem Postpacket, das sie im Wagen mitgebracht hätten von Witoborn. Armgart wurde sogleich von der Tante bedeutet, es aus dem Wagen zu holen. Schon sprangen drei Männer zu gleicher Zeit hinzu, den Auftrag ihr abzunehmen. Thiebold nicht am sichersten, Benno schon in beschleunigterer Hast, Terschka der Flinkste. Armgart hielt indeß alle zurück, bat, sich zu ruhen, und ging allein.
Benno, von einer der Tante an ihm ganz ungewohnten Eleganz, »wie ein Hochzeiter«, zog die Handschuhe aus und strich sich vor innerer Erregung den schwarzen Bart und sein lockiges Haar.
Und der Onkel erzählte schon: Bonaventura's Mutter war auf dem Schlosse noch nicht anwesend, aber das große Déjeûner dinatoire, das man zur Stärkung bei den weiten Distanzen der Wohnorte aller Geladenen mit voller Genugthuung antreffen durfte, war höchst kostbar. Man hatte das Mahl im Stehen eingenommen. Um ein Uhr brach endlich der Zug auf. Die Segnungen hatte dem Sarge der Geistliche des Sprengels gegeben, in dem das Schloß liegt. Dann hatten die Mönche den Sarg in Empfang genommen, an der Spitze der neue Provinzial, Pater Maurus, Nachfolger des verstorbenen Henricus. Die Beisetzung im Kloster selbst war ohne Feierlichkeit erfolgt. Bonaventura hatte keine Veranlassung finden können, dabei etwas zu sprechen. Im Kloster Himmelpfort hatten sich alle Eingeladenen und nur aus Rücksicht um die Dorstes Gekommenen getrennt. 110 Bonaventura war noch mit einem der Wagen des Präsidenten zurückgeblieben, um im Kloster den Pater Sebastus zu besuchen. Dann hatte er wieder nach Schloß Neuhof umkehren und erst morgen im Kreise von Westerhof wieder erscheinen wollen.
Paula hörte diesen Mittheilungen mit Aufmerksamkeit und Ergebung zu.
Benno ergänzte: Besonders geistlich sind die Gedanken der Leidtragenden nicht gewesen! Der Landrath machte curiose Späße . . .
Ja, sagte der Onkel. Späße, die für eine Kindtaufe gepaßt hätten! Niemand ging jedoch besonders darauf ein.
Die Verabredung zur Jagd ist zu Stande gekommen? fiel Thiebold zerstreut ein.
Graf Hovden, die Hakes, Graf Münnich und andere, sagte Terschka, beauftragten uns, Rücksprache zu nehmen mit der gräflichen Jägerei, und die Leute meinen, daß gerade heute Abend noch im Finkenhof das gesammte Jagdpersonal versammelt sein würde. Herr von Asselyn schlug deshalb vor, noch heute Abend den Umweg über den Finkenhof zu machen. Ich begleite ihn und so bringen wir alles in Ordnung!
Gut! Gut! sagte der Onkel und deutete die Autorität an, die vorzugsweise hier Terschka gebührte. Der Weg ist ja nicht weit!
Die Tante war inzwischen wieder ungeduldig geworden über Armgart, die erklärt hatte, die Post allein besorgen zu können, und nun nicht wiederkam. Sie schien auch schon zu bemerken, daß die Männer in der That etwas im Rückhalt hatten. Terschka sprach mit Paula und war die Artigkeit und Rücksicht selbst. Die zurückgekommenen Diener, die noch in ihrer etwas altfränkischen Staatslivree, Grün mit Gold, geblieben waren, arrangirten den Thee. Die Herren setzten sich.
111 Wie still, begann der Onkel mit einer wohltönenden, doch nur leisen und gleichsam, wie dem Forscher ziemt, immer nur prüfenden Stimme, wie still kann nun so ein wildes Menschenkind doch werden! Wie lange hat dieser Mann in der Welt rumort! Es ist dein Onkel, Paula! Aber der hat die Spanne Zeit, die ihm der Schöpfer gemessen, benutzt wie sein unveräußerliches Eigenthum! Ein schauerlicher Augenblick, als wir in dem dunkeln, schneeverschütteten Grunde an dem hohlen, blitzzerschlagenen Eichbaum vorüberkamen, da, wo einst der Deichgraf Klingsohr gefallen war –! Ja, schon vorher! Ich erstaunte, im Dickicht ein gewisses Kreuz wiederzufinden, das, solange der Kronsyndikus noch im Gebrauch seiner gesunden Sinne war, an jener Stelle nie stehen durfte. Bruder Hubertus scheint es gewesen zu sein, der es wieder aufgerichtet hat. Er ist von seiner Reise zurück . . .
Terschka, immer die Thür fixirend, durch welche Armgart zurückkehren mußte, und eine Tasse Thee entgegennehmend, sagte: Ich bin nun halt fast ein halbes Jahr in dieser Gegend, hörte so viel vom Bruder Hubertus und sah ihn heute zum ersten mal –
Er ist erst jetzt von Wanderungen heimgekehrt, die ihn bald in dieses, bald in jenes Kloster seines Ordens, oft bis in die Schweiz führen, erwiderte Onkel Levinus. Gleich beim Anblick des Kreuzes und vor der Störung an der Eiche, dachte ich mir: Jetzt muß doch wol gewiß der Knochenmann auch wieder dasein!
Welche Störung? fragte schon vor dem »Knochenmann« die Tante und sah Thiebold an, der seinerseits zu der vom herabfallenden Lampenschimmer wie verklärten und nur auf die Erwähnung Bonaventura's harrenden Paula mit gedankenverlorener Andacht blickte.
112 Ja! fuhr der Onkel fort, das war, um es nur zu sagen, ein recht verdrießlicher Augenblick! Ein förmliches Todtengericht! Ich zitterte für den Präsidenten, der neben dem Domherrn saß und die Scene erleben mußte! Auch der Landrath, wie uns später Herr von Terschka mittheilte, soll sich furchtsam in seine Ecke gedrückt und vergessen haben, daß gerade seine Autorität hier am Platze war. Wer weiß, wie lange diese Scene gedauert hätte, wäre nicht Herr von Terschka zum Wagen hinausgesprungen und hätte die gehemmte Ordnung des Zuges wiederhergestellt.
Tante Benigna's Augen hafteten bedeutungsvoll an den Augen Thiebold's.
Bruder Hubertus unterstützte Sie endlich, Herr Baron! schaltete Benno ein, den Terschka's gespanntes Warten auf Armgart zu stören schien. Man hätte von ihm, nach allem, was ich über ihn gehört habe, diese Großmuth kaum erwarten sollen.
Welche Großmuth? fragte Terschka. Was hat es mit dem Bruder für eine Bewandtniß?
Das zu erklären, fuhr der Onkel fast frauenzimmerlich erröthend fort, möchte –
Die Tante wußte, daß die »Gegenwart der Damen« hinderlich war und fiel sogleich ein: Aber welche Störung fiel denn nur vor?
Paula saß jetzt, als besänne sie sich auf einen Traum, den sie vor langer Zeit gehabt haben konnte. Auch Benno sah sie auf das Wort des Onkels mit einem ehrfurchtsvollen Blicke an. Sie machte den Eindruck, als wären unter dem Schutz ihrer weit ausgebreiteten Cherubsflügel alle Dinge der Erde rein und unentweiht.
Der Zug mußte im Düsternbrook eine Biegung machen, erzählte der Onkel, sodaß wir auch im Wagen alles mit ansehen konnten, was vor uns mit dem Sarge geschah. 113 Vier Laienbrüder trugen ihn. Voraus gingen der Provinzial Maurus und die Mönche, alle singend. Hintennach folgten die Dienerschaften von Schloß Neuhof, die Vorstände der Wirthschaft, die Beamten der Wittekind'schen Verwaltung. Dann erst kamen die Kutschen. Wie an der bekannten Eiche der Sarg vorüberkam, empfing ihn eine an diesem, zum Zusehen bequemsten Platze versammelte Menschenmenge. Bauern, Knechte, Weiber, Kinder, alles dicht geschart. Zufällig machten die Gesänge der Mönche eine Pause. Da ertönte anfangs eine Geige. In lustiger Melodie fiedelte jemand, den man nicht sah, und gerade aus dem Menschenknäuel heraus. Erst konnte man an einen Bettler denken, der die Gelegenheit nutzen wollte, zu einem Almosen zu kommen. Bald aber hörte man eine laute Stimme rufen: Schweig, Todtengräber! Hier erst noch drei Hände voll Erde.
Ihr Heiligen! rief die Tante erstaunend; denn auch im Erzählen erhob der Onkel feierlich die Stimme.
In demselben Augenblick ging die Thür auf und Armgart kam zurück –
Sie kam ohne Brief und Zeitungsmappe.
Niemand fragte jetzt darnach, so war noch alles von dem eben Mitgetheilten ergriffen.
Thiebold klärte Armgart rasch über die in Rede stehenden Mittheilungen auf. Diese horchte wie geisterhaft und abwesend zu.
Schweig, Todtengräber! wiederholte der Onkel. Hier erst drei Hände voll Erde! rief die Stimme. Da trat eine hohe, kräftige Gestalt in grauem Mantel aus der Menge, hielt einen winzigen Gegenstand hoch empor, zog den Hut, als wenn er die Raben ringsum, die grauen Wolken, die kahlen zackigen Zweige, die Trauerkutschen grüßen wollte, und rief: Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof! Nimm zu deinem jenseitigen Ehrenkleid auch noch diesen Orden mit! Ein ab instantia absolvirter Mörder 114 empfiehlt dich der Gnade Gottes, des Heilands und der allerseligsten Jungfrau! Erschein' am Tage des Gerichts mit diesem grünen, damals nicht verbrannten Fetzen Tuch –
Die Frauen blickten starr auf den Onkel, der alle diese Worte mit Feierlichkeit nachsprach. Die Tante war vor Entsetzen aufgestanden. Benno berichtete weiter; denn dem Onkel stockte bereits seine schwache Stimme. In diesem Augenblick, sagte er, wo wir alle die gleichen Empfindungen hatten, wie Sie jetzt vom bloßen Berichte, war die Scene bereits von Herrn von Terschka unterbrochen worden.
Doch nicht! doch nicht! sagte dieser, von einem Nachdenken auffahrend. Noch ehe ich aus dem Wagen kam, um die Störung zu unterbrechen, war schon ein anderer Zwischenfall eingetreten. Die Geige –
Bitte! ergänzte Benno. Erst hörte man einen schreckhaften Schrei –
Aber auch Paula erhob sich jetzt. Armgart hatte nicht Platz genommen, obgleich ihr, sowie sie eintrat, Terschka und Thiebold einen Stuhl holten.
Ganz recht! bestätigte der Onkel. Man erfuhr, daß im Dienstpersonal ein Frauenzimmer ohnmächtig geworden. Es war die Lisabeth, die Beschließerin von Schloß Neuhof –
Dann war – das wol – jener Küfer? schaltete die Tante mit Entsetzen ein.
Ja! Stephan Lengenich! bestätigte der Onkel. Wir erfuhren es später. Die Verwirrung des Augenblicks ließ sich nicht ganz übersehen; der Zug ging inzwischen schon weiter und die Mönche sangen wieder. Aber den Anblick alles Spätern hatten diejenigen doch noch, die nur langsam nachfuhren. In die Rede des damals ungerechterweise angeklagten Küfers hinein ertönte wieder die Geige. Ihr Spiel war so frech, so teuflisch und so voll Hohn 115 fiel sie ein in die furchtbare Rache des Küfers, die sie gleichsam unterstützen wollte, daß jedermann einem Manne danken mußte, der sich plötzlich auf den Geiger warf, ihm sein Instrument aus den Händen schlug und, da er Widerstand leisten wollte, ihn fast mit Füßen trat. Das war denn natürlich niemand anders, als unser guter alter Freund, Bruder Hubertus –
Benno und Thiebold mußten sich mit Besorgniß Paula nähern, die, wie in Erstarrung, wieder in ihrem Sessel saß, während die Tante an die Thür eilte, um sicher zu sein, daß in diesem Augenblick der Erörterung mislicher Familienverhältnisse nicht die Diener hereinkamen.
Ja, das Maß ist gerüttelt und geschüttelt voll, sagte der Onkel tiefschmerzlich und vor sich die Hände gefaltet auf den Tisch hinlegend, das Maß der Ehrenkränkung, die seiner Familie ein wilder und entsetzlicher Mann hinterlassen hat! So ging es doch mit ihm fast fünfzig Jahre hindurch! So klagen ihn todte und lebendige Zeugen an! So öffnen sich die Gräber, um ein Geheimniß nach dem andern ans Tageslicht zu bringen! Paula! Du gutes, gutes, treues Kind –!
Auf diese liebevolle Anrede, die dem Schmerze galt, den um die Ehre ihrer Familie, um Mutter und Vater Paula empfinden mußte, hatte sie sich rasch aus dem Zimmer entfernt. Armgart flog ihr, wie ihr Schatten, zu hülfreichem Troste nach. Nun erzählte die Tante den theilweis hocherstaunenden Männern Paula's Traumgesicht. Alles, was sie gesehen hatte, wurde von den Männern bestätigt. Wild, wild war der Anblick dessen, was an der Eiche geschah! sagte der Onkel, der seinerseits an diese Visionen schon gewöhnter war. Da mußte sie wol erwachen. Der Taugenichts der alte bucklige Stammer war der Geiger. Rächen wollte er sich für die Verweisung aus dem Schlosse durch den Präsidenten. Der Küfer hatte den Fetzen 116 Tuch, der einst vom Deichgrafen dem Rock des Kronsyndikus abgerissen wurde und so lange nicht gefunden werden konnte – wenn es überhaupt der echte war – auf den silberbeschlagenen Sarg, mitten unter die Ordensinsignien gelegt! Als er das gethan, taumelte der Mann – es war auf den Schrei der Lisabeth – wie ein Kind und wurde nur eben noch von dem anwesenden Löb Seligmann gehalten, dem Juden, der ihn zu kennen schien. Herr von Terschka, Sie werden ja wol das Nähere von dem drolligen Musikschwärmer erfahren können! Aber dem Geigenspieler ging es schlimm; Hubertus zertrat ihn fast, obgleich Stammer der Bruder des Mädchens war, um das auch unser Bruder Abtödter so bitter den Kronsyndikus haßte –!
Die Tante, die den Onkel in weiterer Mittheilung der Geschichte des Mönchs Hubertus nicht stören wollte, entfernte sich, um nach Paula zu sehen. Es kamen jetzt Bestandtheile eines Soupers, auch einige Flaschen Wein, die sie den Männern überließ.
Den Abtödter, hör' ich, nennt man ihn? fragte Terschka kopfschüttelnd, als die Diener fort waren.
Man nennt diesen Mönch so in den Klöstern und im Volke, erklärte der Onkel. Sein eigentlicher Name – Buschbeck.
Buschbeck –! wiederholte Terschka befremdet und wiederholte lange sinnend: Buschbeck? Buschbeck –?
Terschka's eigenes, allen hier unbekanntes Leben schien mit diesem oder mit einem ähnlichen Namen Beziehung gehabt zu haben. Der Onkel erzählte mit gedämpfter Stimme und rasch die Abwesenheit der Frauen nutzend: Auch Sie werden sich ja wol, Herr von Asselyn, aus Ihrer auf Hof Borkenhagen verlebten Jugend des Försters Buschbeck – nein, Sie konnten ihn bereits nur als Mönch gekannt haben –
Es muß jener Laienbruder sein, sagte Benno, der einmal ein Pferd dem alten Hedemann mit Sympathie curirte. Dreizehn 117 Haupthaare von einem Scharfrichter in einem Teig von Weizenmehl und Oel eingegeben und das Pferd erhielt sich.
Der Glaube macht selig! lachte Thiebold, der sich allmählich zu finden anfing und wieder servirte.
Aber der Onkel entgegnete: Warum nicht? Die Geheimnisse der Natur sind unergründlich!
Terschka, immer sinnender und selbst ein anerkannter Virtuose der Roßpflege, fiel ein: Die Hauptsache an dem Mittel werden halt das Oel und vielleicht auch die Haare gewesen sein! Wann kam dieser Mann hier in die Gegend?
In den Jahren vor den Befreiungskriegen, etwa 1808, erzählte der Onkel. Es war ein schlanker und gewandter Mann, der in Java bei den Holländern gedient hatte –
In Java! sprach Terschka leise und sein sonst schon immer wachsbleicher, fast gelblicher Teint nahm eine eigenthümliche Färbung an. Er verlor in dem Grade seine gewohnte Elasticität, daß er jetzt durchaus als jener Vierzigjährige erkannt werden konnte, der er war, während der viel jugendlichere Benno sonst älter aussah, als er.
Er rühmte sich mancher geheimen Jägerkunst und manchem galt er für einen Freischützen! fuhr Onkel Levinus fort. Aber sein Lebenswandel war achtbar und stimmte nicht mit dem Ton, der auf Schloß Neuhof herrschte, wo ihn der Kronsyndikus anfangs zum Revierförster gemacht hatte. Es gab einst eine wilde Zeit auf dem Schlosse da, das wir heute so still und gespenstisch sahen –! Freiherr von Wittekind war durch die Verführungen des damaligen kasselschen Hofes in ein Leben der tollsten Liebeshändel gerathen. Immer hab' ich gefunden, daß Männer bei einer solchen Lebensweise zuletzt von ihrer Sinnenglut förmlich unterjocht werden. Jeder Gedanke verwandelt sich ihnen in Unlauterkeit, jeder Blick auf ein Weib in Begehrlichkeit, jede 118 Voraussetzung über die Tugend des Menschen in den frechsten Glauben an mögliche Schlechtigkeiten. Damals war auf dem Schlosse eine Person allmächtig, ein Frauenzimmer zweideutiger Herkunft – eine gewisse –
Benno befreite den Onkel von der Verlegenheit, ganz offen über eine ominöse Beziehung zur Dechanei zu sprechen . . .
Legen Sie sich keinen Zwang an! sagte er. Frau von Buschbeck hat nie für die Dechanei existirt. Höchstens, daß ihre Schwester jetzt mit dem alten Windhack ihr Privaterstaunen austauscht, wie das überraschende Vermögen der Ermordeten, doch an zwanzigtausend Thaler, an den Bruder Hubertus testirt werden konnte! Sämmtliche Stifter und Kirchen sind betrogen worden! Hammaker's Vertraulichkeit mit der Alten beruhte auf den Codicillen, die von ihm möglich gemacht wurden, um die durch Nück und unter Zeugenassistenz zweier Herren Schnuphase und Klingelpeter getroffenen gottseligen Bestimmungen für den Fall ihres Todes wieder – aufzuheben –!
Terschka war über die Ermordung der sogenannten Frau Hauptmann von Buschbeck unterrichtet und lauschte mit der größten Spannung.
Diese außerordentliche Zärtlichkeit einer Person, fuhr der Onkel fort, die nicht einen, nein mehrerlei Teufel im Leibe gehabt haben muß, diese auffallende Anhänglichkeit an den Mönch Hubertus ist eine Folge der Eitelkeit, indem sich Brigitte von Gülpen durchaus als die »Frau Hauptmann von Buschbeck« geberden wollte. Als Hauptmann war der holländische Lieutenant Buschbeck verabschiedet worden; er war nicht von Adel, auch nicht etwa schimpflich entlassen; er hatte seinen Abschied genommen aus eigenem Antrieb und leider vor Erreichung seines höhern Pensionsgrades. Man sagt, weil ein dunkler Schleier gehoben wurde, der auf seiner Vergangenheit ruhen soll – Ich kenn' 119 ihn nicht – Man spricht, glaub' ich, von ihm, es wäre ein Scharfrichterssohn –?
Auf diese Frage, die der Onkel an sein eigenes Gedächtniß richtete, wurde Terschka's Auge das des Falken.
Diesem Fremdling, der in einer erwerbslosen Zeit, müde des damals allein nur noch einträglichen Kriegsdienstes, hingehalten mit seiner nur geringen Pension, die einfache Stelle eines Försters annahm, schenkte die damalige Wirthschaftsführerin des Freiherrn, Fräulein Brigitte, ihr Herz. Sie war, obwol häßlich wie eine Fledermaus, feurigen, lebhaften Sinnes; der Fremdling konnte sich ihrer Zudringlichkeit nicht erwehren. Der Kronsyndikus begünstigte dies Verhältniß; er wünschte auf diese Art von einer Person befreit zu sein, die ihm über den Kopf wuchs. Der Abenteurer mag aus Willensschwäche und verblendet von glänzendern Anerbietungen, zugleich berauscht vom wilden damaligen neuhofer Leben, Zugeständnisse gemacht haben, die später von ihm bereut wurden. Seinen spätern Aeußerungen zufolge will er nie ein Weib geliebt haben, als nur einmal eine Tochter eines seiner Waldhüter, ein allerdings auffallend schönes Kind, Hedwig Stammer, schlank, hochgewachsen, die Schwester dieses Buckligen, den er heute mishandelt hat –
Nach einer Pause des Erstaunens über all diese Zusammenhänge fuhr der Onkel fort: Nun wurde Hedwig Stammer im stillen seine wahre Liebe und bald entdeckte diesen Treubruch, wie sie ihn nannte, die Megäre auf dem Schlosse. Sie ersann eine Rache, zu teuflisch um sie nur nachzudenken, wenn nicht die Umstände Begünstigungen zur wirklichen Ausführung des Unglaublichen gegeben hätten. Die Leidenschaften des Kronsyndikus kannten keine Grenzen. Keine Tugend war ihm heilig. Kein Weib, dem er sich irgend glaubte nahen zu können, ließ er ohne Anfechtung. Dabei begünstigte ihn das Glück, ohnehin sein 120 Reichthum und, wie in solchen Fällen oft, die Courage. Ihm schien ein Widerstand unmöglich und so vermessen war seine Menschenverachtung, daß er sich an die Unschuldigsten wagte, ja durch Umtriebe aller Art es wirklich zuweilen so weit zu bringen wußte, daß diese plötzlich in irgendeiner Weise von seinem Willen abhängig wurden. Hätte der Mann auf einem Throne gesessen, er würde den größten Tyrannen beizuzählen sein.
Ein Blick auf die Nebenthüren und ein Lauschen nach einem fernen Geräusch drückte die Furcht des Onkels aus, die Frauen möchten zurückkommen. Dem fast übersiedenden Wasser im silbernen Kessel sprangen Benno und Thiebold zugleich bei, indem sie die Flamme milderten.
Ich will es kurz fassen! fuhr der Onkel, sich der Frauen wegen beeilend, fort. Der Kronsyndikus hatte sein Auge auch auf die Frau des Deichgrafen Klingsohr geworfen. Die Vertraute seiner Lüste, die Gülpen, unterstützte seine Hoffnungen durch falsche Vorspiegelungen, denn Unmöglichkeiten machten ihn im Umgang unerträglich. Mit Verachtung von jener braven Frau, des Mönchs Sebastus Mutter, zurückgewiesen, entbrannte er in nur noch wilderer Glut. Nun entdeckte die Gülpen jene Neigung ihres sogenannten Verlobten und schmiedete einen Höllenplan. Durch verstellte Handschriften machte sie die Deichgräfin zur Correspondentin des Kronsyndikus. Die Eitelkeit des Frevlers war einer völligen Sinnlosigkeit ausgesetzt. Taumelnd in seinen Hoffnungen, die ihm leider nur selten fehlschlugen, glaubte er der Versicherung der Gülpen, die Deichgräfin warte nur eine Reise ihres Mannes ab, um ihn zu erhören, dann würde sie selbst einmal aufs Schloß kommen. In einer Nacht nun, wo kein Stern am Himmel stand, der Kronsyndikus gegen Mitternacht von einem Gelage heimkehrte, wisperte ihm das Scheusal zu: Die Deichgräfin ist da! Sie bleibt auf die Nacht 121 bei mir zum Besuch, das Wetter ist zu schlecht – Wo? ruft der Trunkene und folgt in rasender Begier dem Weibe, das ihn an ihrer knöchernen Hand im Dunkeln geleitet. Plötzlich ist ihr Licht erloschen, alles ringsum ist finster. In einer engen, dunkeln Kammer trifft er eine schlanke, sich eben entkleidende Gestalt, wirft sich auf sie – und erst wenige Minuten später erkennen zwei Menschen gegenseitig einen grauenhaften Irrthum –
Die Männer saßen erstarrt. Es bedurfte von Seiten des Onkels kaum einer Erklärung, welche Rache hier ein weiblicher Bösewicht vollzogen hatte, der denn auch durch die Schlinge eines Mörders das Leben verlassen sollte. Dennoch erklärte der Onkel das Vorgefallene ausführlicher: Brigitte von Gülpen hatte Hedwig Stammer, die sie tödtlich haßte, allmählich an sich gelockt und sicher zu machen gewußt. Oefters suchte sie dieselbe in ihrer Waldwohnung auf, erklärte, die Untreue des Hauptmanns bräche ihr zwar das Herz, doch wolle sie sein Glück nicht hindern. Sie befahl dem Mädchen nur, die Besuche, die sie ihr, um ihren guten Willen zu zeigen, machte, dem »Herrn von Buschbeck« zu verschweigen. Sie versprach eine glänzende Ausstattung, die Unterstützung des Kronsyndikus und lockte das arme Kind immer mehr und mehr an sich. Eines Abends behielt sie sie bei sich, erzählte von dem »Herrn von Buschbeck«, Hedwig's Geliebtem, der diesen Abend noch aufs Schloß kommen müßte, weil er mit dem Kronsyndikus von einer Jagdpartie zurückkäme. Es regnete, es stürmte. Sie versprach, Hedwig's Ausbleiben über Nacht sogleich bei den besorgten Aeltern ansagen zu lassen und brachte sie in eine Kammer, wo sie zur Nacht ruhen sollte. Das arglose Ding, das bis zwölf Uhr vergebens gewartet hatte, entkleidet sich, läßt, da die Gülpen noch erst um gute Nacht zu sagen zurückkommen wollte, die Thür offen, löscht auf Befehl, indem die Gülpen 122 von den Wunderlichkeiten des Kronsyndikus und seiner Strenge gegen Untergebene spricht, das Licht und nun stürmt die Gülpen plötzlich herein, ruft: Buschbeck ist da! Er kommt – Hedwig fährt auf, rafft ihre Kleider zusammen – – Genug, drei Tage hielt sich die Gülpen, der ihre Rache nur zu gut gelungen war, verborgen vor der Wuth des Försters, dem die Getäuschte, noch in der Nacht vom Schlosse entfliehend, sich sogleich entdeckte. Buschbeck würde sie ermordet haben – sie wußte es. Der Kronsyndikus, damals noch sein eigener Gerichtsherr, verfügte gegen den Förster, der ihn persönlich anfiel, und erließ gegen ihn sofortige Verhaftung, dann Dienstentlassung. Lachend verzieh er der Gülpen, nannte noch später, als in der That zufällig die in aller Unschuld lebende Deichgräfin eines Sohnes genas, diesen, den jetzigen Mönch Sebastus, seinen wahren Sohn, d. h. den Sohn seiner Einbildung, seinen Sohn im Geiste. Hedwig Stammer verfiel in ein Nervenfieber und starb. Den sogenannten Hauptmann von Buschbeck wollten die französischen Gensdarmen zwingen, Kriegsdienste zu nehmen oder die Gegend zu verlassen. Er flüchtete sich ins Kloster Himmelpfort, wo ihn der damalige würdige Guardian Henricus beschützte, vollends als er nach dem Tode Hedwig's ganz in den Orden trat. Das böse Weib konnte sich übrigens länger nicht im Schlosse halten. Reich ausgestattet an Geschenken, für ihre Lebenszeit gesichert durch eine Pension, zog sie von dannen. Sie stellte sich in ihren Verlobten so wahnsinnig verliebt, daß sie alles, was sie nur von seinen Sachen als Andenken ergattern konnte, mitnahm, javanische Pfeilspitzen, chinesische Götzen, große ausgestopfte Vögel. Die alten Stammers wohnten später dann in einem Pavillon des Schloßparks und hatten das Gnadenbrot vom Kronsyndikus, der seine Jugendsünden, wie das eben geht, wenn die Kraft nachläßt, zu bereuen anfing. Und schon 123 einmal wurde ihm der Geiger zum Verhängniß. Dieser Taugenichts war es, der den Tod seines Sohnes Jérôme dadurch veranlaßte, daß er dem zur Pflege und Zerstreuung auf dem Schlosse seines »zweitbesten« Freundes, des Grafen Johannes von Zeesen, Untergebrachten die Nachricht von der nach Hamburg gerichteten Flucht eines gewissen fremdartigen, schönen Mädchens anzeigte, das kurz zuvor auf Schloß Neuhof, wie in früherer Zeit so viele andere, plötzlich aufgetaucht war –
Bis zur gänzlichen Vollendung seiner Erzählung gelangte der Onkel nicht, denn in diesem Augenblick kehrten die Frauen zurück.
Tief erschüttert schwiegen die Männer. Was ihnen auf die Lippen ein ernstes Schweigen legte, war nicht das Entsetzen über das Vernommene allein, nicht blos bei Terschka der mannichfache, beinahe persönliche Antheil, den er an allen diesen Berichten zu nehmen schien, nicht blos bei Benno die Vergegenwärtigung alles dessen, was er über Klingsohr, Lucinden, den Kronsyndikus wußte, nicht blos bei Thiebold die Rückerinnerung an jenen Morgen, wo eine so böse Uebelthäterin ermordet gefunden wurde, und an die ihm noch unbekannte Wendung, die das Testament der Ermordeten genommen hatte (Bruder Hubertus sollte in der That das Geld angenommen, doch, zu bestimmt von ihm angegebenen Zwecken, anderweitig cedirt haben) – noch mehr wurde ein ernst feierliches Schweigen hervorgerufen durch den Gegensatz der reinen, lichtumflossenen, verklärten Gegenwart der wieder eingetretenen Frauen zu dem Unreinen, das so durch menschliche Leidenschaft, wie heraufbeschworen aus einem Schwefelpfuhl, im Leben ans Licht treten kann.
Die nun auch endlich von Tante Benigna mitgebrachte Postmappe, aus welcher sie ihre eigenen Briefe und die für Paula bestimmten bereits herausgenommen hatte, bot Gelegenheit zur Sammlung und zur Wiederherstellung einer Stimmung des Friedens und eines wenigstens äußerlichen Behagens. Die Tante erzählte von Püttmeyer's Besuch. Das lebhafte Interesse, das der Onkel daran nahm, wurde in dem entsprechenden, nicht minder lebhaften Ausdruck nur gehindert durch das fortgesetzte Mahl und die weit ausgebreiteten Zeitungen. Auf Schloß Westerhof war man sonst hinter den Zeitereignissen ziemlich spät zurück. Die neuen französischen Ministerien wurden gewöhnlich hier erst bekannt, wenn sie schon wieder abgedankt hatten. Man hielt die Zeitungen der nahe liegenden Städte, las sie aber nur von hinten her nach vorn, erst in den Familiennachrichten und dann in der politischen Rubrik, und oft überschlug man letztere auch gänzlich. Vorzugsweise durfte Paula nicht früher Zeitungen lesen, ehe sie nicht die Tante censirt hatte; denn es kam schon seit lange vor, daß Berichte: »Aus Witoborn« oder: »Von der Witobach« über die »Seherin von Westerhof« oder über die »Dorste'sche Erbschaftsfrage« schrieben. Seit dem Kirchenstreit war eine etwas größere Leselust eingetreten. Natürlich schwärmten die Tante, Paula, Armgart, das Stift Heiligenkreuz für den abgesetzten Kirchenfürsten und Onkel Levinus entzog sich um so weniger dem gemeinsamen Geist der Provinz. als zwar für ihn nicht, wie bei Professor Guido Goldfinger, der Schöpfer bereits in der Erschaffung der Pflanzen und Blumen das katholische Princip voraus signalisiren wollte, ihm aber die Geschichte, vorzugsweise die der alten Hindus, die entschiedensten Tendenzen zum römischen Glauben verrieth. Oft schon hatte er mit dem in Asien bewanderten Bruder Hubertus über den Glauben der Chinesen gesprochen und erklärt, er vermisse überall die rechten Anknüpfungspunkte der Missionäre, um das Christenthum besser zu verbreiten und zu begründen. Auf einige Monate konnte er zuweilen die ganze Chemie, leider auch die Oekonomie vergessen, nur um die Dreieinigkeit, nicht in den Glauben des 125 Confucius – hineinzutragen, sondern sie »ganz evident« aus ihm heraus zu entwickeln. Eine Reise nach Aethiopien, zunächst um daselbst dem wirklichen Vorhandensein des bekanntlich nur im englischen Wappen und in der Bibel vorkommenden fabelhaften Einhorns nachzuforschen, dann aber auch um sich über alles zu orientiren, was mit dem Cultus der »schwarzen Madonna« bis zurück zum Völkervater Ham zusammenhing, wäre ihm schon, bei geringerer Liebe zur Bequemlichkeit, eine seiner bedeutendsten Lebensaufgaben gewesen. Den Ghibellinen gegenüber sagte auch er, wie hier alle: »Religion muß apart sein!« d. h. sie müsse sich unabhängig erhalten, wie sehr man auch sonst in politischen Dingen auf die strengste Loyalität hielt. Der Erörterungen über das Neueste in diesen Streitigkeiten gab es genug.
Terschka schwieg. Er sah in seine Briefe, die ziemlich zahlreich waren. Einen schien er zu vermissen. Er betrachtete die Poststempel und fragte: Ist das die ganze heutige Post?
Armgart fiel ihm in die Rede. Mit einer plötzlich aufleuchtenden, durch die Stimmung des kleinen Kreises nicht im mindesten motivirten Lebendigkeit begann sie, zu Benno gewandt, dessen schmerzlich fragende Blicke sie anfangs gemieden hatte: Wann soll nur die Jagd sein? Ja, ich gehe auch mit! Nicht auf Münnichhof zu den Transparenten, nein! Ich schieße mit den Männern um die Wette! Lassen Sie mir den Pancraz als Leibschütz, Herr von Asselyn!
Armgart –! lautete der einstimmige Verweis aus des Onkels, der Tante und Paula's Munde. Alle blickten von ihren Briefen und Zeitungen einen Augenblick auf.
Warum denn aber nicht? fuhr Armgart mit glühendem Antlitz fort. Kann ich denn nicht schießen? Hab' ich's nicht vom Heydebreck gelernt? Soetbeer und Pancraz können bezeugen, daß ich ihnen vor Weihnachten auf dem Wege zum Stift im 126 Niederholz begegnete, dem Pancraz die Flinte aus der Hand nahm und einen Hasen traf, der mir unfehlbar über den Weg gelaufen wäre! Ich wollte kein Unglück haben –
Die Männer mußten über diese eigene Art, dem Schicksal seine bösen Vorbedeutungen mit Gewalt zu vereiteln, lachen. Die Tante sah nur kurz vom Briefe einer guten Freundin auf und bemerkte: Deshalb entdeck' ich auch immer in deinem Zimmer die meisten Spinngewebe! Du denkst: Spinnen bon espoir! Ich aber denke, jedes Unglück, das sich blos durch Wildheit und Unordentlichkeit abwenden läßt, soll man lieber getrost ertragen!
Auch dieses Streiflicht auf Armgart's nicht eben besonders pünktliche Natur blieb nicht ohne ein Lächeln der Männer. Nur, daß sie hätten hinzufügen mögen: Laß uns doch über ihn lachen, den holden Narren! Gerade sein Koboldsgeist ist's ja, der andern so himmlischer Abkunft erscheint! Rumore, Armgart, wie du willst, verschleppe Bücher und Nähtereien und Federn und Dintenfässer; gerade darin liegt uns dein bestrickender Reiz –! . . . Armgart faßte jedoch das Lächeln der Männer nicht in solchem Sinne. Düster blinzelte sie die Reihe herum und musterte, wer sich zu lachen unterstanden hatte. Vorwurfsvoll blickte sie besonders auf Thiebold, dem sie laut sagte: Das amusirt Sie wol recht? Benno's Blick hielt sie nicht aus und noch scheuer huschte ihr Auge an Terschka vorüber. Benno ersah aufs neue das ganze seit Wochen so befremdliche Wesen Armgart's und erstaunte darüber.
Inzwischen sprach die Tante von den Ombres chinoises und jetzt mit der größten Schonung. Sie rühmte jetzt die Philosopheme Püttmeyer's ebenso, wie sie dieselben heute früh verworfen hatte. Sie kam darauf durch ihre Lectüre. Ich lese da eben einen Brief von der guten Angelika Müller aus Paris! schaltete sie ein. Was ist die doch in neuen, merkwürdigen Verhältnissen! Die Fulds sehen die Minister und die berühmtesten Namen bei sich. 127 Ei, Herr von Terschka, Madame Fuld läßt sich Ihnen empfehlen! Und ob Sie nicht im nächsten Sommer wieder auf ihrer Villa erschienen? – Die neue Erweiterung des Gartens, des Pavillons, würde ganz nach Ihren Ideen gemacht werden, schreibt Angelika – Und wann Sie denn nach Wien reisten? ließe Madame Fuld fragen – Ei, ei, Herr von Terschka, welches Interesse von einer so jungen und gewiß höchst liebenswürdigen Frau –!
Armgart fixirte Terschka aufs lebhafteste, als er dies Lob der Frau Bettina Fuld bestätigte. Paula mußte ihre Hand auf Armgart's Scheitel legen, gleichsam um ihre stürmenden Gedanken zu beruhigen. Dabei gehörte jede Lücke des nicht im wohlthuendsten Zusammenhange bleibenden Gesprächs natürlich dem »Herrn von Jonge«, der sie mit seiner immer lebendigen Theilnahme, mit seiner Empfänglichkeit für alles und jedes füllte. Die Tante überhäufte ihn mit Thee, Zwieback, kalten Fleischspeisen. Er war eben der Liebling ihres Herzens. Als die Rede endlich fiel, daß wirklich noch die Männer auf den Finkenhof gehen und mit dem gräflichen Jagdpersonal die versprochene Rücksprache nehmen wollten, und Benno und Thiebold erklärten, sie würden von dort auf einem kürzern Wege zu Fuß nach Witoborn zurückkehren, protestirte die Tante, mit Beseitigung aller ihrer noch unbeendigten Lectüre, entschieden und behauptete, eine solche Gefahr vor Schneeverwehungen nimmermehr zuzugeben. Die jungen Männer versicherten, der Schnee fröre und diese Wanderung würde ihnen den größten Genuß gewähren, ja Bedürfniß sein. Auf die immer und immer wiederholten Einwendungen der Tante wurde Armgart zuletzt ausfallend und fand es sonderbar, Männern ihren Willen zu nehmen. Sicher hätte dann dies kühne Wort die noch mit Ebbe und Flut wechselnde Gährung im Gemüth der Tante zum Ueberströmen gebracht, wäre nicht der Onkel gleicher Meinung gewesen. Er erklärte, wie man nur den jungen 128 Herren ein Vergnügen rauben könnte! Solche Erwiderungen pflegte er in einem Tone zu geben, als hätte es auch nur an seinem aufopfernden jahrelangen Leben und stetem Nachgebenmüssen hier unter den Frauen auf Schloß Westerhof gelegen, daß er nicht die anstrengendsten Entdeckungsreisen nach Aethiopien oder Cochinchina unternommen hätte. Paula's Schweigen gebot dabei, den Aufbruch zu beschleunigen. Es war ihnen schon geschehen, daß die Leidende eben noch theilnehmend ihren Gesprächen lauschte und auf eine Anrede, die man an sie richtete, schon im Wachschlaf erwiderte.
Als die Männer gegangen waren – Thiebold mit bedeutsamen Seufzern, Benno auf den Händedruck, der ihm sonst immer von Armgart so unbefangen gewährt worden, vergebens hoffend, Terschka fast von ihr ausgezeichnet durch manche beflissene Frage, manche lebhaft erwidernde Antwort – überschüttete die Tante Armgart mit dem ganzen Mismuth, der sich in den gespannten Zuständen ihres Gemüths den Tag über angesammelt hatte. Von Tage zu Tage nahm die Ungeduld und Reizbarkeit Benigna's zu. Ein ängstlicher Blick in die Zukunft verdüsterte ihr alles, was sie umgab, und schon lange war es nur immer Armgart, die so zu sagen für alle ihre Verstimmungen ein Blitzableiter werden mußte. Nein, je älter, desto unerträglicher wirst du doch! rief sie und das in Gegenwart noch des Onkels. Seit du von Lindenwerth zurück bist, erkennt man dich nicht mehr! Verkehrt, das warst du schon immer; so vorwitzig aber, wie jetzt deine Aeußerungen sind, so keck, wie ich dich z. B. drüben vorhin im Durchstöbern der Postmappe fand, bist du nie gewesen! Hat es das Fräulein Müller versehen, die sich in ihrer Geduld und Nachgiebigkeit jetzt sogar den Sitten eines vornehmen Judenhauses in Paris fügen muß, oder ist dir die Stiftsdame zu Kopf gestiegen oder ich weiß es nicht, was die Schuld 129 trägt! Die Jagd mitmachen! Hasen schießen, die einem über den Weg laufen könnten! Wahrhaftig! Ich habe gar keine Geduld mehr für dich!
Nun, nun, nun, nun –! beschwichtigte der Onkel fortlesend. Und schmeichelnd bat Paula: Tantchen! Armgart aber stand wie das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Alles Weh der Erde legte sich um ihren mit lächelnder Duldermiene geöffneten Mund.
Deine Mutter war aber ganz ebenso! fuhr die erzürnte Schwester ihrer Mutter fort. Und dein Vater – der nicht minder! duckte sie den aufblickenden Onkel nieder. Von einer Jagd – kam auch bei denen ihre erste Uneinigkeit. Monika wollte ebenso, wie du, schießen können und ging mit auf die Jagd und als Ulrich einige mal fehlschoß, lachte sie und hielt es ihm mit Spott vor. Ein Mann kann vom Weib viel ertragen, aber ihm den Schein geben, als wären andere mannhafter als er, das reizt. Zumal bei einer solchen Empfindlichkeit, wie bei – allen diesen Hülleshoven! Ja, ja, versteck' dich nur jetzt so hinter Paula! Geh nur so herum und thu', als wenn du deine Rechtfertigung wie eine verlorene Stecknadel suchtest! Auch liesest du nichts, du arbeitest nichts, die Vielliebchen werden wol erst nach einem Jahre fertig sein, Musik hörst du kaum, geschweige daß du selbst welche machst und dein bischen Klavierspiel wieder vornimmst! Ganz, wie deine Mutter war, die auch jetzt noch, »hoch in den Dreißigen«, wie jedermann versichert, ein reines Kind sein soll. Auch an dir wird die Familie wenig Freude erleben –
Armgart hob, statt zu reden, die gefalteten Hände gen Himmel. Paula suchte die Tante zu besänftigen. Diese wollte jedoch von Armgart selbst unterbrochen sein, wollte nur von ihr versöhnt werden.
Armgart blieb still. Keine Schmeichelküsse, keine 130 Liebkosungen, keine Scherze, nichts gab sie wie sonst. Ebenso erblaßt, wie vorhin hocherglühend, ging sie im Zimmer hin und her, machte sich mit ihren glänzend aufgeschlagenen Augen dies und das zu schaffen und sagte nur zur »factischen Berichtigung«: Die Mutter ist vierunddreißig Jahre alt!
Der Onkel wollte jetzt auf sein Zimmer gehen und hatte das Bedürfniß, Frieden und die Stimmung der Güte zurückzulassen. Das neue Aufbrausen der Tante unterbrach er durch ein lautes Vorlesen eines der erhaltenen Briefe. Dabei hielt er seine linke Hand in die Höhe. Er wollte, daß Armgart sie ergriff und als Ablenker ihrer Stimmung benutzte. Armgart sah die freundliche Geberde und stürzte auch auf die Hand zu, küßte sie und drückte sie heftig an ihr Herz.
Jetzt empfand die Tante den Neid ihrer »Liebe«. Dieser Neid äußerte sich in Thränen, die ihr auf die Wange rollten.
Des Onkels fest vorlesende Stimme hinderte noch die Rückkehr zu den sich schon in Güte lösenden Empfindungen; vorläufig war es Paula, die vermittelte und die Tante ans Herz zog.
Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen dankte (nach des Onkels, in alle diese aufgeregten Stimmungen eines hochgestellten, edlen, von seinen vielen Erlebnissen tief erschütterten Familienkreises beschwichtigend einfallendem Bericht) auf das von ihm erhaltene Schreiben aufs verbindlichste. Sie war glücklich in England angekommen, wohnte bei Lady Elliot auf dem Lande und wünschte ihrerseits den friedlichsten Fortgang aller der Dinge, die über das Schicksal beider Linien Gottes Rathschluß verhängt hätte. Erst bei einigen religiösen Anzüglichkeiten, bei der Erwähnung der Krankheitszustände der jungen Comtesse hörte der Onkel auf im lauten Vorlesen, das er zur Dämpfung des Streites wörtlich begonnen. Die dadurch entstehende Pause benutzte die Tante und knüpfte an London Betrachtungen 131 über Paris und würde sich selbst auf Aethiopien, China und die Chemie eingelassen haben, falls nur in diesen Plaudereien der Ausdruck lag, wie sehr bei alledem ihr Herz unter Armgart's Trotz und verhärteter Gesinnung litt.
Der Sturm der Gemüther war indessen vorüber. Milderes Wetter stellte sich ein und endlich schlug es neun, wo man auf dem Lande schon an die Nachtruhe denkt. Der Onkel erhob sich zuerst und erklärte wiederholt, noch arbeiten zu müssen. Die Tante plauderte von einigen Anmeldungen ihrer Freundinnen zu den Exercitien, die Pfarrer Müllenhoff auf Betrieb der Frau von Sicking arrangiren sollte. Der Onkel erwiderte: Aber der rauhe Mann eignet sich zu dergleichen doch gar nicht! Die indischen Fakirs sind keine Braminen! Im Ganges gibt es mancherlei Bäder! Ich hoffe, daß er nichts unternimmt ohne den Domherrn, seinen Vorgesetzten –!
Die Tante, mit dem unendlichsten Bedürfen nach Einverständniß, stimmte diesen Aeußerungen vollkommen bei. Auch sie fand Müllenhoff's Weise so übertrieben, so aufreizend, daß in solchen Extremen für die Religion selbst nur Gefahr liegen könnte –
Und der Onkel fiel ein: Wie ich immer gesagt habe –
Wie Sie immer gesagt haben! bestätigte die Tante.
Den Finkenhof kann man den Leuten nicht nehmen –
Den Finkenhof kann man ihnen nicht nehmen!
Man macht dem Mann doch sonst alles nach Wunsch –
Und nichts ist ihm recht!
Den eigenen Eingang zur Sakristei in unsrer Kapelle geb' ich ihm auf keinen Fall –
Wie werden Sie denn auch –!
Seine Manieren sind unglaublich! Mitten in der heiligen 132 Messe putzt er an den Leuchtern und schüttelt den Kopf über den alten Tübbicke –
Ueber den guten alten Tübbicke –!
Wirklich kam nun Armgart mit hinüber zu einer wahren Friedens- und Eintrachtsgruppe, die der Onkel, die Tante und Paula bildeten.
Die Schulkinder, fuhr der Onkel fort, läßt er eine Stunde lang knieen, um ihnen die sogenannte Kniesteifigkeit zu vertreiben –!
Zu Lichtmeß will er Unterricht geben im richtigen Tempo des Rosenkranzgebetes –!
Diese Harmonie braucht der Himmel nicht, wenn's nur in unsern Herzen keine Dissonanzen gibt –!
Wer jetzt ein Blumenstöckchen in eine Kapelle stiftet, von dem will er vorher die Anzeige haben, ob er auch keine »Alfanzereien« bringt –!
Und ich denke, wenn ein liebend Gemüth einen Tannenzweig brächte oder ein thönernes Lämmchen –
So ist es unter allen Umständen eine kindlich gemeinte Gabe.
Das wollt' ich meinen! Und ein Tannenzweig, ein thönernes Lämmchen, das hat sogar einen ernsten Sinn und erinnert an manchen bedeutungsvollen Mythus, der bereits bei denen alten Aegyptiern als eine Vorahnung zu betrachten war zu manchem spätern heiligen Gebrauch!
Die Tante gähnte nun zwar, sagte aber: O Sie sollten ihm doch das alles einmal auseinandersetzen, lieber Hülleshoven!
Der Onkel küßte jetzt Armgart. Das süßeste Einverständniß schien hergestellt. Nur Eines fehlte noch, daß auch die Tante sich ausdrücklich mit Armgart aussöhnte.
Dieser feierliche Moment blieb jedoch nach der Entfernung des Onkels aus. Paula ging. Die Diener waren schon zugegen. 133 Armgart sprang hinter Paula her und schloß sich ihr an. Die Tante blieb allein. Sie blieb es einige Minuten. Niemand kam zu ihr zurück. Thränen traten der alten Jungfrau in die Augen und mit einem Gefühl des Vorwurfs, das ihr über diese und ähnliche Dinge sagte: Deine Strafe das für die alte Zeit! ging sie auf ihr Zimmer.
Inzwischen sagte aber Paula, als Armgart sich ihr anschloß und ihre schlanke Hüfte krampfhaft umfaßte: Armgart, du solltest bei der Tante bleiben!
Wenn ich in meinen Thurm gehe, poch' ich noch einmal bei ihr an und sag' ihr gute Nacht! flüsterte Armgart. Sie ließ den Diener, der leuchtete, vorangehen. Armgart durfte nicht mehr in Paula's unmittelbarer Nähe schlafen, wie sonst. Seit ihrer Rückkehr von Lindenwerth hatte die Tante beide getrennt. Aber Abends noch eine Weile mit Paula, wenn diese sich wohl fühlte, zu plaudern, das ließ sie sich, so oft sie in Westerhof verweilte. nicht nehmen.
Die Vorhänge von Paula's Schlafzimmer waren schon zurückgelehnt. Im Vorgemach, wo ein kleiner Ofen stand, der geheizt war, half Armgart die geliebte Freundin entkleiden. Oft sprach Paula schon im Gehen und Stehen Dinge, die »einer andern Welt angehörten«. Dann brachte Armgart sie zur Ruhe, rief einem Kammermädchen, das in der Nähe schlief, und trennte sich nicht eher von beiden, als bis Paula in völligen Schlummer verfallen war. Heute leuchteten aber Paula's Augen noch hell auf. Eine stille Sehnsucht lag in ihnen, eine Sehnsucht, die Armgart vollkommen verstand. Stürmisch warf sie sich der Freundin, die zu ihr herniederblickte, an die Brust und rief mit erstickter Stimme: Ach! Ach! Was sind wir beide doch so unglücklich!
Meine gute Armgart! erwiderte, dies Wort ablehnend, die 134 ältere Freundin. Warum unglücklich –? . . . Paula's Leben war ja ein einziges Schmerz, oder ein einziges Wohlgefühl, sie wußte es selbst nicht recht zu unterscheiden. Sie liebte einen Priester; sie hatte das sichere Gefühl, wieder geliebt zu sein – Geständnisse hatte es früher nicht und auch jetzt noch nicht gegeben. Vor Armgart aber war nichts mehr geheim. Selbst wenn Armgart zu viel Scheu gehabt hätte zu sagen: Du liebst den Domherrn! so stand es schon lange ohne Worte zwischen ihnen fest. Es stand selbst fest, daß Paula's etwaiger Eintritt in ein Kloster eine Art – »Vermählung« mit Bonaventura sein konnte – So flossen noch bei beiden die reinen Gedanken, die überhaupt mit der Liebe Jungfrauenseelen verbinden, gleichviel, ob zum Besitz oder zur Entsagung führend, mit ihrem religiösen Pflichtgefühl ineinander.
Seit einiger Zeit freilich trat Armgart immer mehr aus dem Bann des harmlosen Träumens heraus. Lag die Schuld an der Entweichung aus dem Pensionat in Lindenwerth? Oder jetzt an dem Zusammenleben mit so vielen liebebedürftigen jungen und alten Mädchen im Stift? Lag es in ihrer eigenthümlichen Schwankung zwischen den Bewerbungen Benno's und Thiebold's? Sie regte schon seit lange jeden Abend die Phantasie ihrer Freundin auf. Auch heute durch Klagen über des Domherrn Ausbleiben – über Thiebold's Fragen, die sie andeutete – über Benno, »der sich so sicher dünkte« – Und endlich stockte sie ganz –
Paula fragte befremdet: Du hast heute etwas –?!
O könntest du doch für mich in die Zukunft sehen! rief Armgart und wie aus ihrer tiefsten Seele heraus . . .
O – nur das laß! Das laß! erwiderte Paula schmerzerfüllt.
Armgart hob bittend ihre Augen auf. Das Weiße darin blitzte wie Email, wie feuchtes Silber.
135 Paula wandte sich, als müßte sie fürchten, schon diesem Glanz und Schimmer zu erliegen und dann willenlos zu beantworten, was sie gefragt wurde. Laß uns beten! sagte sie – beten gegen Versuchung!
Paula! – hauchte Armgart immer dringender. Morgen mußt du mir etwas sagen – ich frage dich –!
Nimmermehr! rief Paula. Ich verbiete dir alles! Und wie von einer Furcht, die sie plötzlich in allen ihren Geistern vor sich selbst fühlte, wild erregt, fuhr Paula fort: Ihr seid so grausam gegen mich! Ihr tödtet mich noch!
Paula! bat Armgart.
Ich kann ja so nicht fortleben! sprach Paula, zitternd vor Aufregung. Laßt mich sein, wie ihr alle seid! Jesus Maria! Es sprengt mir noch das Herz! Geht das so fort, so muß ich wünschen, jenes Mädchen kehrt zurück, das allein gehindert hat, daß ich im Traum sprach! Wenn sie kam, wich jede Kraft von mir! Ich will ja nur sein, wie alle andern Menschen sind, und machte mir's auch die größten Schmerzen!
Armgart wußte, daß Lucinde Schwarz gemeint war, in deren unmittelbarer Nähe Paula mit der Zeit ganz von ihrer Ekstase zurückkam, doch nicht ohne damit verbundenen physischen Schmerz, den auch damals Armgart an der Maximinuskapelle selbst empfunden zu haben erklärte, als sie nach Paula's Beschreibungen sofort Lucinden erkannte.
Beide Mädchen standen lange schweigend und in Wehmuth verloren. Ob sich ihnen wol vergegenwärtigte, daß Paula genesen konnte, wie alle Aerzte sagten, durch – die Liebe? Ob sie wol ahnten, daß auch Bonaventura in Rücksicht auf diese Liebe von sich sagte, was er am Abend jener Beichte vor seiner Abreise, zwischen Lucinde und Paula in der Mitte der Versuchungen stehend, verzweifelnd ausrief: Ein Priester bist du? Ein Mensch ohne Leben! Ohne 136 männliches Zeugniß für deinen Schöpfer –! Doch das lag nur dunkel in ihnen. In allen jungen Mädchenherzen, ehe über sie das Loos geworfen wird, zittert nur schmerzlichsüß ein Ahnen von ihrem zukünftigen Geschick. Bald leiser, bald stürmischer meldet sich die Sehnsucht, die Pforte der Zukunft geöffnet zu sehen. Oft ist es wol plötzlich ein jugendlichschöner Gott, der aus düsterm Nebel heraus, wildfremd, wie das herrlichste Ebenbild der Mannesschönheit, die Harrende mit riesiger Umarmung umfängt; oft liegt aber auch nur ein ödes, trauervolles Einerlei auf ihrem unbestimmten Innern und alles, was ihr werden soll und was sie beginnt, ist ihr wie Ohnmacht und todte Dämmerung.
Da rief der Wächter wieder die Stunde. Schlaf wohl! hauchte Paula und drückte Armgart an ihr Herz.
Armgart wollte anfangs gehen. Bei der Thür des Vorgemachs aber angekommen, blieb sie stehen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und rief: Paula! Paula!
Was hast du? sprach diese, sie wieder näher ziehend.
Ein »Du mußt – mir – – –!« preßte sich von Armgart's Brust.
Ich begreife dich heute nicht – Was muß ich?
Armgart zog einen Brief aus ihrem Kleide und sagte: Paula! Diesen Brief – an Terschka – den hab' ich – aus der Mappe – gestohlen! Nein – warum nenn' ich es so? Ich habe ihn ja nur zurückbehalten! Ich gebe ihn aber nicht eher ab, als bis du ihn gelesen hast! Gelesen – obgleich uneröffnet –! Das kannst du ja, wenn du schläfst –
Armgart –! rief Paula und zitterte. Sie ergriff vorwurfsvollen Blicks den aus der Residenz des Kirchenfürsten gekommenen Brief und fragte: Von wem ist er?
137 Von meiner Mutter! . . . Was hat Terschka – mit meiner Mutter! O, Paula, Paula! Beide lieben sich! Das ist mein Tod!
Armgart! entgegnete Paula, um sie zu beruhigen.
Nur Ein Ziel meines Lebens hab' ich! fuhr Armgart in zitternder Erregung fort. Meine Aeltern auszusöhnen! Sonst will ich nichts auf der Welt! Wüßtest du nur, wie ich neulich in Witoborn war! Ich war bei Hedemann! Ich ließ mir eine Stunde lang vom Vater erzählen! Ich lieb' ihn mehr, als meine Mutter – nein, ich liebe auch meine Mutter – mein Gelübde hat der Himmel und ich will es vollziehen und wär's durch meinen Tod –! Armgart faltete die Hände und hielt sie empor zu einem an der Wand befindlichen Crucifix.
Warum soll – aber Terschka nur – nicht deiner Mutter schreiben und sie – ihm? fragte Paula, entsetzt über den fanatischen Ausdruck der Gefühle Armgart's.
Wie? entgegnete Armgart; dieser lebhafte Briefwechsel? Diese Begeisterung, wenn er von ihr spricht – Neulich seine schnelle Reise, um die Gräfin zu begrüßen – Nur ein Vorwand war es, um die Mutter zu sehen! O, schon im Hüneneck sah ich an der Eile, mit der er die Zimmer bestellte, wie er sie liebt! Und sie, sie – sie könnte –! Dieser Brief ist von ihr – Paula, du, du sollst ihn lesen!
Paula verwies Armgart ihr Ansinnen mit Unwillen; sie wußte, was Armgart meinte. Sie wußte, dieser Brief brauchte nicht erbrochen zu werden, sie wußte, daß sie alles lesen konnte, was man im Hochschlaf ihr auf das Nervengeflecht ihres Unterleibs legte. Ob auch uneröffnete Briefe? Versucht war es noch nicht. Hier glaubte man nicht an die Unmöglichkeit.
Wie eine unreine Versuchung wehrte Paula Armgart's überredende Geberde ab. Sie sagte schmerzerfüllt, doch entschieden: Gute Nacht, Armgart! Misbrauche mein Unglück nicht! Ich 138 verbiete es dir. Es muß ein Ende damit werden, Gott wird mich erlösen. Sei gut, Armgart! Sei gut! Und nun, gute Nacht!
Damit verschwand sie hinter dem Vorhang, den sie wieder fallen ließ, und schloß zu ihrem Schlafgemach die Thür ab. Wieder tönte das Horn des Wächters. Armgart ging zögernd in ein Zimmer weiter zurück. Sie hörte noch, daß sich Paula fest einriegelte. Dann trat sie durch eine Nebenthür auf den Corridor.
Ein Diener folgte und begleitete sie mit einem Licht in ihren Thurm.
Am Zimmer der Tante ging sie vorüber, ohne es zu bemerken oder noch an sie zu denken. Ein äußerster Entschluß kämpfte in ihr, ein tiefes Sinnen beherrschte ihr ganzes Sein. Krampfhaft preßte sie den Brief, den sie in ihr Busentuch gesteckt hatte, an sich. Schon hatte sie den Finger an das Siegel gelegt. Schon zuckte die Hand, es aufzureißen. Sie dachte an den Beistand der Beichte, der sie über die Folgen eines solchen Vergehens leichter hinwegführen würde – an Bonaventura – an Benno – Da verließ sie allmählich aber doch der wilde Muth.
Der Diener stand und harrte ihres Befehls.
Legt das – in Herrn von Terschka's – Zimmer! hauchte sie. Es ist ein Brief für ihn, der – vergessen wurde.
Der Diener nahm den Brief und wandte sich den Gemächern Terschka's zu.
Armgart verschwand in ihrem Zimmer.