Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

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Zehntes Bändchen.

1 7.

Auch für Bonaventura war, wie für Benno, dieser Winteraufenthalt in und um Witoborn eine Rückkehr auf den Schauplatz seiner ersten Jugend.

Auch ihn zog hierher eine Liebe und eine frohbange Sehnsucht. Nach allem, was er seit so lange von Paula erfahren hatte, erwartete er ein Bild voll elegischer Hoheit, gleichsam eine gefangene junge Königin, die in einem einsamen Schlosse wandelt, hoheitsvoll und zugleich tief hülfsbedürftig.

Er war nach Witoborn gereist unter den Eindrücken der heftigsten Nachwirkung dessen, was noch in den letzten Augenblicken von ihm in der Residenz des Kirchenfürsten erlebt werden mußte. Die Begegnung mit Bickert im Beichtstuhl, die Hoffnung auf Rückgabe der im Sarge des alten Mevissen gefundenen Papiere – Lucindens Erklärung dann, daß der räthselvolle Schatz in ihren Händen wäre –! Wie durchrieselte ihn mit schüttelndem Frost die Erinnerung an die aus ihrem Mund gekommenen schonungslosen Drohungen! Eine Rachegöttin folgte sie ihm und umschwebte ihn auf allen Wegen. Das Schwirren ihrer Eumenidenflügel glaubte er überall zu hören, das Leuchten ihrer geschwungenen Fackel in dunkler Nacht zu sehen. »Der ganze, ganze Bau der Kirche!« Ein tiefhöhnendes Wort, das durch seine Seele wie Grabesruf hallte. Was konnte der treue Diener seines Vaters 2 aufbewahrt, was von diesem zum Aufbewahren erhalten haben, das an sein Dasein eine so große Thatsache, den Bau der Kirche, knüpfen ließ und vielleicht eben deshalb nicht ganz zerstört, vielleicht ausdrücklich der zeitweiligen Ruhe in einem Grabe überlassen werden sollte?

Der ganze Bau der Kirche –! Da war denn nun Bonaventura in diesem heiligen Witoborn! Hier hatten Bischöfe gethront und den Krummstab als Scepter geführt und nicht Eine bedeutsame Erinnerung an deutsche Größe, Kraft und Bildung war zurückgeblieben –! Kleinliche Häuser, ärmliche Straßen; in entlegener Gegend, in einer halben Wüste ein glänzender Palast, die Residenz dieser Bischöfe – jetzt eine Kaserne geworden. Nichts vom Vergangenen zurückgeblieben als eine Unzahl Kirchen, ein düsteres Jesuitenstift, Gefäße von Silber und Gold in den Truhen der Sakristeien, Monstranzen mir Edelsteinen, Fahnen und Baldachine von kostbarer Stickerei. Hier und da fand sich noch eine bessere Erinnerung vor aus der Zeit der Aufklärung. Einige Priester hatten in dem Geist des Onkel Dechanten gewirkt. Einiges war für Priesterbildung, Jugendunterricht und würdigere Gottesverehrung geschehen. Aber der neurömische Geist überbaute schon seit lange wieder alles mit seinem künstlichen Mittelalter. Am Markt, in den Läden der Hauptstraßen waren die Schaufenster besetzt mit Monstranzen, Kelchen, Crucifixen, Madonnen aus Alabaster und Bronze, Erzeugnissen einer Industrie, deren Ziele sich in den Salon verloren; man wollte sogar dem einen gewissen koketten kirchlichen Ausdruck geben. Hier eine Procession, dort eine Procession. Die Bruderschaften fast für jeden Tag der Woche in Bewegung –! Männer, Weiber, Kinder mit Lichtchen in den Händen, mit Fahnenwimpeln, Kreuzen; Meßner und Chorknaben dazwischen in bunten Gewändern, singend und sprechend mit allen jenen 3 Dissonanzen und unsichern Rhythmen, die in seiner Glaubensvirtuosität Bonaventura früher so rührend fand. Jetzt sah er in diesem Kirchgang so vieler Männer an Wochentagen nur die Versäumniß ihrer Arbeit. Er war »Bei Tangermanns« abgestiegen. Ihm gegenüber lag die Kirche eines Kapuzinerklosters, vor welcher eine kleine Madonna in einem Aufputz wie für Kinder – in natürlichen Kleidern von Sammet und Seide auf offener Straße stand.

Am Morgen gleich nach seiner Ankunft kamen Benno, Thiebold, Hedemann, ihn zu empfangen und freudigst zu begrüßen. Erstere beide wohnten in einem Müllerhäuschen, das etwas entlegen lag vom donnernden Geräusch der schon von Hedemann selbst betriebenen Mühlen. Das Wiedersehen war hocherfreuend. Bei Benno zuckte ein ironisches Lächeln auf, als die Frage gethan wurde nach dem ersten Besuch auf Westerhof; bei Thiebold zeigte sich die scheue Befangenheit eines schuldbewußten Schülers vor seinem Lehrer; bei Hedemann jene bekannte, immer mehr sich bei ihm ausbildende – lächelndstrenge Sicherheit des Bibelgläubigen; er hatte aus England und Amerika in der That ketzerische Grundsätze heimgebracht und sich durch die Erfahrungen, die seine greisen Aeltern mit Pfarrer Langelütje gemacht, in Gedankengängen bestärkt, die zu irgendeinem, vielleicht für ihn verhängnißvollen, Ziele führen mußten. Man wußte, daß der Domherr nicht in Witoborn bleiben würde. Bonaventura wollte durchaus seinen nominellen Pfarrsitz selbst einnehmen und schon war nach einem Wägelchen geschickt worden, um ihn an seinen eigentlichen Wohnsitz zu führen, den er einem alten Brauche gemäß bis gegen Ostern einnehmen mußte. Benno bedauerte diese Trennung und schilderte das Haus »Bei Tangermanns« als einen unterhaltenden Rest altdeutscher Gastfreundschaft, der indessen die Trinkgelder und modernen Preise nicht ausschlösse. 4 Seht nur, sagte er, dies alte halbgothische Mauerwerk mit bunten pariser Tapeten beklebt! Goldleisten über wurmstichige Balken! Parquetfußböden neben grünen Kachelöfen! Thiebold fiel aber schon ein: Lästern Sie nicht! Das Beste ist ein patriarchalischer Weinkeller, aus dem man leider nur allein durch Schmeichelei Niersteiner Gelbsiegel bekommen kann! Der alte Tangermann hat auf seiner Weinkarte alle nur möglichen Cabinetsauslesen und Dompräsenze, gibt sie aber nicht her, wenn man sie nur so einfach bestellt, wie wahrscheinlich unser Freund Piter Kattendyk gethan hat, als er von »witoborner Krätzer« sprach! Erst sagt hier regelmäßig der Kellner: Der alte Herr Tangermann hat den Schlüssel! Erst muß man an Herrn Tangermann's Stube klopfen, muß seine ausgestopften Vögel bewundern, die herrlichen Aquatintas an den Wänden, muß die Napoleonischen Rührscenen aus Fontainebleau und St.-Helena bewundern, ehe man das Gespräch auf seine »Jahrgänge« bringen und ihn geneigt finden kann, eine Probe heraufzuholen, die dann aber keineswegs etwa zu einem altpatriarchalischen, sondern wie nur in irgendeinem Victoriahotel ganz modernen Preise abgelassen wird! Und Hedemann setzte hinzu: In der Kunst, dem alten Tangermann diese guten Stunden abzuschmeicheln, war niemand bewanderter als der Landrath von Enckefuß!

Dann gab letzterer Name Fernsichten in die betrübenden Eindrücke des Kirchenstreits; Fernsichten auch auf Schloß Neuhof, auf Bonaventura's Stiefvater, auf seine bald erwartete Mutter, zuletzt auf Klingsohr, von dem man wußte, daß er gewaltsam nach dem Kloster Himmelpfort zurückgeführt worden. Ein Leben im Gasthof stört freilich bald jede Sammlung. Hier ein Zimmer, wo ein Trauernder weint, nebenan eines, wo ein Musterreiter die neuesten Modearien singt – Letzteres geschah wenigstens jetzt unserer kleinen Gesellschaft. Ein gewisser Mann nebenan, der 5 sich eben rasirte, hatte zufällig einmal die Namen seiner Nachbarn nicht zu erfahren begehrt und so kam es, daß er, verloren in die täglichen Geschäfte, die ihn erst mit Herrn von Terschka, jetzt schon mit allen umwohnenden Adeligen verbanden, ja ihn schon auf Schloß Neuhof beriefen, sich seinen Bekannten nicht sofort als Löb Seligmann aus Kocher am Fall zu erkennen gab. Er sang sich selbst wohlgefällig vorm Spiegel an: »Dies Bildniß ist bezaubernd schön!« oder jodelte plötzlich von Extrapostideen gehoben das damals neue: »Ho, ho! So schön und froh! Der Postillon von Lonjumeau!«

Im Pfarrhause bei Norbert Müllenhoff fand Bonaventura schon zwei Zimmer für sich hergerichtet, Zimmer, in deren Ausstattung er die liebende Sorgfalt aller der Menschen erkannte, die ihn hier, und namentlich auf den Adelssitzen, voll hoher Spannung erwarteten. Es waren zwei einfache Wohnzimmer eines neugebauten massiven Hauses, mit einem Comfort ausgestattet, der vorzugsweise Spuren vom nahen Westerhof und vom Stifte Heiligenkreuz trug. Die Namen Paula, Benigna, Armgart glänzten unter allen hervor, die der alte Tübbicke als die Stifterinnen dieser Herrlichkeiten nannte. Mit scheuer Spannung stand Norbert Müllenhoff in der Nähe. Er hatte die ihm eigenthümlich derbe Courage mehr nur nach unten hin; nach oben hin dann nur, wenn er der Masse gegenüberstand; ein einziges gesticktes Damentaschentuch mit dem Geruch von Esbouquet konnte ihn nicht nur im Salon, sondern sogar im Beichtstuhl stutzig machen.

In diesem Müllenhoff fand sich Bonaventura bald zurecht. Er vertrat die Richtung, die Michahelles auch bei ihm vorausgesetzt hatte, die neue Richtung einer fast burschikosen Verachtung alles dessen, was mit Bildung und Aufklärung verbunden ist. Müllenhoff's jeweiliges grelles Auflachen, das ihm eigen 6 war, wenn er einen seiner Einfälle selbst allzu schlagend fand, charakterisirte ihn sofort; nichts charakterisirt mehr, als die Art, wie wir lachen. Hier fehlte selbst die Koketterie, die doch noch Beda Hunnius mit der Poesie trieb. Die jungkatholische Richtung renommirt mit Verachtung jeder Beziehung ihrer täglichen Denk-, Rede- und Thätigkeitsweise zu dem, was dem Geist der Aufklärung angehört. Gleich die Frühstücksbutter, die seine Aufwärterin zu einem zweiten Frühstück für ihn und seinen Gast hereinbrachte, schob Müllenhoff mit den Worten zurück: Nehm' Sie nur gleich die Butter mit! Frische soll's sein! Die da riecht – toleranzig!

Bei diesem Frühstück erschienen die zuvorkommenden Besuche des Herrn Levinus von Hülleshoven, des Herrn von Terschka, des Grafen Münnich. Andere der umwohnenden Adeligen kamen, Geistliche, sämmtlich in stattlichen Kutschen. Auch die drei ältesten Stiftsdamen von Heiligenkreuz fuhren vor. Schnell hatte sich die Kunde von des jungen Domherrn so sehnlichst erwarteter Ankunft verbreitet. Die Räumlichkeit wurde vor Gästen fast zu klein; die Fremden, die den Längstersehnten begrüßen wollten, konnten vor Ueberandrang nur eine kurze Weile bleiben. Gesprochen wurde über die Zeit, über den Kirchenfürsten. Durch alles hindurch, was Bonaventura von Aeußerungen des Fanatismus vernahm, tönte wie ein Grundaccord Paula's gottbegnadeter Zustand. Dagegen verschwand selbst die Erbfolgefrage. Es fielen Fragen, wie die: Ob die Gräfin nicht kürzlich wieder »die Besuche ihres göttlichen Bräutigams« empfangen hätte? Dabei beobachtete man nicht nur die Mienen des antwortenden Onkel Levinus, sondern – das Erröthen des Domherrn. Man hatte von Bonaventura die Vorstellung eines Fanatikers, eines parteinehmenden Zeloten, der, wie ihm schon im Sommer Michahelles angedeutet hatte, seine bereits allen bekannte seelische 7 Beziehung zur ekstatischen Gräfin zu einem noch festern Seelenbunde knüpfen, die noch unbestimmt tastende Gefühls- und Anschauungswelt derselben regeln, ihre Visionen und Heilkräfte in ein vollgültigeres Zeugniß für die wiederum prophetisch gewordene Zeit und den Triumph der Kirche verwandeln würde. Er sah diese Gleisnerblicke, dies süße Lächeln; er hörte dies bedeutungsvolle Seufzen, das bei allem Schein der Demuth mit einem festen und sichern Gange auf ein gemeinschaftliches Ziel losging. über das man sich nicht einmal in offen ausgesprochener Verabredung und innerhalb klarer Geständnisse befand. In einem stattlichen Wagen, zwischen dem Onkel Levinus und Terschka, fuhr Bonaventura dann selbst auf Schloß Westerhof.

Die Prüfung, Paula im kleinen Kreise oder gar allein wiederzusehen, wurde ihm beim ersten Gruße vom Schicksal erspart. Er fand sogleich ganz Westerhof in festlicher Bewegung. Die Damen der Gegend, vorzugsweise vom Stift Heiligenkreuz, waren in Toilette versammelt; Paula stand von jungen Mädchen, von Frauen und Matronen umgeben.

Einen Schritt trat sie vor und reichte Bonaventura die Hand . . . Endlich Traum und Erfüllung –! Schmerz und Seligkeit –! Und wiederum nur – Seligkeit und Schmerz!

Mit den Jahren waren beide gereifter geworden. Sie erblüht zur hehren Jungfrau. Er ein Mann – Ein Mann? Ein Priester! Angewiesen, Segen zu ertheilen, anderer Glück zu heiligen und – selbst zu entbehren. Rings ein Reden und ein Grüßen und ein Durcheinander der – Bewirthung –. Aber Paula, die war es doch! Ihr Seelenfreund von vergangenen Tagen, der war es doch! Ihr Erröthen und das seine – es war ein Roth, als beschiene beide die Sonne in ihrer heiligsten Frühe, Aufgangsglanz vom Osten, ein Sonnenstrahl vom fernsten Ganges her. War das noch der Winter um sie? Zwei Seelen grüßten 8 sich, die in diesem Augenblicke dort weilten, wo die Nachtigallen schlugen!

Und Armgart hielt sich in der Nähe. Sie fühlte alles schon ahnungsvoll und schwärmerisch mit. Sie hielt Paula, daß sie vor Ueberseligkeit nicht schwankte. Wie Epheu schlang sie sich um ein lebendig gewordenes Marmorbild.

Die Geisterjungfrau sprach dann. Sie sprach heute mehr denn je . . . Was sie sprach, Bonaventura hörte es wol, aber er verstand es nicht. Auch Armgart plauderte ihm noch unverständlich. Wie von einem Wirbel umgetrieben, so stand er. Armgart sah den Vielbesprochenen zum ersten mal. Die einfache Tracht! Nur ein langer schwarzer Rock; altmodisch der Schnitt; die Weste hochgehend, wie die Regel es will; das Haar entstellt. Nichts, was anziehen konnte, als die Gestalt nur und der edle Ausdruck des Hauptes. Armgart starrte alledem und horchte seinen Worten, deren Klang ihr sofort wie Melodie erschien; was Paula liebte, liebte sogleich auch sie.

Der Himmel öffnet zuweilen durch Engelhand seine Pforten. Dann strömt über die Menschen einen Augenblick überirdischer Glanz und ringsum ist dann auch wirklich zuweilen die feierliche Andacht da und das heilige Verständniß. Diese kluge Welt! O, sie wußte schon alles, was hier verborgen oder zu verbergen war. Ein einziger geisterhafter Augenblick sprach im stillen zu allen: Er kennt diese tiefblauen Augen, kennt den feuchtschimmernden Glanz derselben, die dunkeln Augenwimpern, die, wie die Schwingen auch der Seele Paula's, nicht unruhig flattern, sondern ruhig über ihrem blauen Himmel thronen. Nun staunt er doch wol, daß sich diese Augen immer noch schließen und mehr noch als sonst schon in die Ferne sehen können? Und ziert dich denn, du vornehme Jungfrau, immer noch dieselbe Schüchternheit, derselbe zagende Muth, der alles duldete, selbst wenn die 9 böse Lucinde, von welcher hier mancher wußte, ihre Stellung vergaß und Befehle ertheilte, wo sie deren nur zu empfangen hatte –? . . . Verständigungen des Herzens konnten nur im Blicke liegen. Einen Schleier nach dem andern, der das ja auch kaum Auszusprechende verhüllte, wob schon sogleich wieder das Leben in der buntesten Fülle seiner Anregungen. Da gab es zu besprechen! Die nächste und entfernteste Zukunft Paula's! Die Zeit selbst mit ihren ringsum ertönenden verworrenen Stimmen! Und die Prophetengabe der Herrin des Schlosses, auf deren Namen wol noch mehr Wunder und Voraussagungen gingen, als in Wahrheit begründet waren, wie verbreitete die stete Erinnerung daran eine allgemeine Aengstlichkeit und Beklemmung! Auffallend erschien, daß sofort mit Bonaventura's Ankunft in Paula ein gehobener Schwung kam, der die Kraft des Geistes über den Körper zu stärken schien. Schon am ersten Tage hielt sich die Leidende über der versammelten Menschenmenge empor und erlag nicht dem Drucke derselben, der sie sonst in solcher Lage plötzlich immer entschlummern machte. Das nahm zu, wurde besser von Tage zu Tage. Sie erlag seltener der räthselhaften Krankheit ihrer Nerven. Was so mancher schon im stillen von der Ehe gesagt, sie wäre ein Ausweg, um die Gräfin völlig zu heilen, zeigte sich dem Schärferblickenden annähernd. Statt einer Steigerung der Neigung zum Traumschlaf trat eine Minderung ein.

Die erste Messe zu St.-Libori, die erste von der Kanzel gesprochene »Application« kennen wir schon. Auch hier riefen sie die Wirkungen hervor, die von Bonaventura's Auftreten unzertrennlich schienen. Der ihn schon wie gefangen nehmende Kreis von Bekanntschaften wuchs. Seine Oberaufsicht über den Gang der kirchlichen Angelegenheiten in diesem Sprengel war dagegen mehr eine formelle Pflicht. Bonaventura erkannte dann auch zu 10 sehr die Heftigkeit seines untergebenen Pfarrers, um mit einem Naturell zu streiten, das nicht zu ändern war und das für seine Unarten sofort als Vorwand gleich heilige Namen wählte. Gegen Uebertreibungen half ihm Ironie. »Denken Sie das –?« »Ziehen Sie das also wirklich vor –?« sagte er oft lächelnd. Von Witoborns Geistlichen und Mönchen kam Bonaventura regelmäßig heim wie aus einem Kriegslager.

Die stillen Abendstunden auf Schloß Westerhof wurden dann glückseligste Momente. Terschka, Benno, Thiebold theilten sie, und da nicht immer Armgart zugegen war, blieb Paula der alleinige Mittelpunkt. Armgart wurde dann freilich für Bonaventura mit der Zeit eine befremdende, ihm nicht ganz sympathische Erscheinung. Zwischen Westerhof und Heiligenkreuz wanderte sie oft allein, ohne die mindeste Furcht, selbst wenn sie durch einen ansehnlichen Wald gehen mußte. Bonaventura kannte ihren Entschluß in Betreff ihrer Aeltern. Er sprach von ihrer Mutter und von ihrem Vater mit gleicher Unbefangenheit. Eine Parteilichkeit Armgart's für Benno entdeckte er nicht; mehr noch für Thiebold, am meisten, auffallenderweise, für Terschka, der ihm gleichfalls neu war und sogleich nicht erklärbar wurde. Terschka nannte Armgart eine Cactusblume. Der Onkel erläuterte: »Brennendroth und von einer schönen Zeichnung, aber gewachsen aus einem gefahrvoll stachlichten Stamm!« . . . Nun geht es so, daß Menschen, gerade wenn sie das Bedürfniß haben, sich aneinander anzuschließen und sich gegenseitig einen hohen Werth einzugestehen, doch nur durch Reibung und Aneinanderstreifen sich nähern. Bonaventura hatte noch nichts von Thiebold's Buße vernommen und nur ewig Terschka und Terschka nennen hören – Wäre das möglich! sagte er sich. Armgart, ein Mädchen wie ein Thautropfe, und dennoch, dennoch eine so schnelle Wandelung –? Hier lag ein Räthsel vor und er 11 erklärte sich's aus der Schwäche des weiblichen Gemüths und zürnte deshalb Armgart und strafte sie schon oft oder »trumpfte sie ab«, »duckte« sie, wie es die Tante Benigna mit wahrer Genugthuung nannte; freilich nur durch ein Lächeln that er es oder eine kurze ironische Zwischenfrage.

Ehe hier tiefere Blicke und Verständigungen folgten, kam die bange Fahrt zum Schlosse Neuhof, an dem Sonntage, als es hieß: der Kronsyndikus ist im Arm seines plötzlich angekommenen Sohnes, des Präsidenten, verschieden. Die schuldige Rücksicht verlangte, daß Bonaventura den zweiten Gatten seiner Mutter auf diese Nachricht sofort besuchte. Daß die Mutter nicht mitgekommen war, wußte er. Er traf seinen Stiefvater in der ganzen Erregung, die ein längst vorausgesehener Fall, dessen endliches Eintreten man sogar den Umständen nach wünschen mußte, zuletzt doch noch hervorzubringen pflegt. Der Präsident war auffallend gealtert. Er begrüßte Bonaventura mit so viel scheinbarer Herzlichkeit, als ihm zu Gebote stand. Seine Gesundheit erklärte er nicht für die beste, sprach von Reisen nach dem Süden, vom Abschied, den er nehmen wollte, von den Schwierigkeiten, die sich bei Abwickelung seiner Erbschaft ergäben, von dem Mistrauen, das ihm infolge des Kirchenstreits hier um seiner amtlichen Stellung willen bald entgegentreten würde. Er brachte Nachrichten vom Kirchenfürsten, der sich in seiner Gefangenschaft mit Ruhe in sein Schicksal ergäbe, wäre er sich doch bewußt, wie er sagte, Anlaß einer Aufregung gewesen zu sein, die seinen Grundsätzen zugute kam; er rauche seine Pfeife. erzählte der Präsident, ginge auf den Wällen der Festung spazieren und wünsche nicht einmal die politischen Demonstrationen, die der Adel der diesseit und jenseit des großen Stromes gelegenen Provinzen beim Landesfürsten unternähme – »sie könnten ja nur in jenem revolutionären Sinne gedeutet werden, den er 12 nie befürwortet hätte; denn die Kirche hätte nichts mit der neuen Richtung des Lamennais gemein, sie wäre alt genug und könnte noch immer warten, bis ihr eine reingeistige Hülfe käme« . . . Von Bonaventura's Mutter sagte der Präsident, sie würde auf dem Schlosse, das sie nie besucht hatte, gleich nach dem Begräbniß eintreffen. Der Präsident war kälter, wortkarger, verschlossener denn je geworden.

Am Begräbnißtage saß Bonaventura in dem Trauerwagen neben seinem Stiefvater. Wohl sah er, daß selbst diese starren Züge erregter wurden, als sich der Zug dem Düsternbrook näherte. Als die Scene an der Eiche vorfiel, erblaßte der Präsident, das Wort erstarb auf seinen Lippen; in eine Ecke gedrückt, wartete er ab, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, als die Störung vorüber war und ihm Bonaventura zu seiner Beruhigung die leisen Worte sprach: »Paulus sagt: Der Tod ist der letzte Feind! Nun wird ja Friede sein!« . . . Zum Kloster Himmelpfort gehörte eine große, nicht ungefällige, lichthelle Kirche. Sie lag an der Spitze eines der Winkel, die durch ein großes Viereck gebildet wurden, durch eine Mauer gebildet, die das Kloster einschloß. Das Kloster selbst, ein zweistöckiges Gebäude, mit einem Thürmchen versehen, gehörte dem siebzehnten Jahrhundert an, die Kirche dem achtzehnten. Ringsum standen Obstbäume; im Innern des Klostergartens waren die Beete mit Stroh belegt und deuteten eine freundliche Vegetation für den Sommer an. Hinter einem dieser kleinen Fenster, die ringsum das viereckige Gebäude erhellten, wohnte Klingsohr. Ihn sah man nicht unter den Franciscanern, die den Sarg begleiteten. Auch den Bruder Hubertus, auf den Bonaventura nach allem, was er über den »Abtödter« durch Klingsohr und Jodocus Hammaker wußte, begierig sein mußte, konnte er weder beim Beginn des Zuges 13 noch jetzt entdecken und an der verhängnißvollen Eiche war gerade ihm der Anblick entzogen gewesen, den die andern Wagen ungehinderter hatten, der Anblick, wie unerwartet und plötzlich auftauchend Hubertus mehr der Störung durch den Musikanten, als der Anrede des Sarges durch einen andern Störer der Todtenruhe, den Küfer, ein Ende machte. Diese Klosterkirche diente als Erbbegräbniß vieler ringsum wohnenden Adelsfamilien. Bilder sah man, Seitenaltäre und Beichtstühle, keine Säulen oder Bogen. Der Hochaltar war im Stil der Franciscanerkirchen – jeder Orden hat seine eigene Weise, seine eigene geistige und physische Farbe sogar, die er seinen Kirchen anhaucht. Bei den Franciscanern ist alles braun, mäßig vergoldet, hier und da ein blaues Band etwa an einer Maria, ein weißer Schimmer etwa von einer Taube, die über dem Tabernakel schwebt; regelmäßig steht der Ordensstifter vor dem Crucifix mit dem bekannten ekstatischen Liebesblick der Ergebenheit, mit seiner auf das Herz gelegten linken Hand; der Fußboden ist von Stein, die Wände sind weiß, nur hier und da vom Ruß der Lichter angeschwärzt; das Ganze einer solchen Franciscanerkirche macht dem Volk einen eingehenden Eindruck durch eine gewisse altfränkische Einfachheit, wie die Heimlichkeit alter, von Großältern ererbter, braungebeizter Möbel mit geschweiften Bogen, bronzenen Schlüssellöchern und Ringen an den Schubläden. Hier denn war es, wo der Kronsyndikus in die Gewölbe gesenkt wurde. Das über ihn Unausgesprochene, von allen Gefühlte verklang im Brausen einer stattlichen Orgel. Der Provinzial-Guardian fand auf dem, bereits im Schlosse von Weihduft überräucherten, Sarg selbst jenes Stückchen Tuch nicht mehr; es mochte in den Schnee gefallen sein und wird im Schmelzen desselben an der Frühlingssonne vermodern.

Da Bonaventura den Mönch Klingsohr besuchen wollte, 14 behielt er eine von den Trauerkutschen zurück. Der Präsident versprach, bald auf Schloß Westerhof bei seiner Cousine Paula zu erscheinen und dann auch sogleich in Begleitung der bis dahin vielleicht angekommenen Mutter Bonaventura's.

Bald wurde von Bonaventura der ehemalige Graf von Zeesen, der jetzige Pater Ivo, entdeckt. Klingsohr hatte ihm im vorigen Jahre dessen Geschichte erzählt. Er wußte, daß seine ehemalige Verlobte als Schwester Therese bei den Karmeliterinnen in der Residenz des Kirchenfürsten wohnte. Ein hagerer, blasser Mönch kam mit einem Weihwedel daher und wehte durch die Luft, als stäubte er auch diese rein. Die Gäste, das Gesinde, die nachdrängenden Landbewohner hatten die Kirche schon verlassen; nur einige Arbeiter waren geblieben, die über die Oeffnung, in welche der Sarg des Kronsyndikus hinuntergelassen worden, wieder die Steinplatte zu legen hatten. Es war etwa nach drei Uhr. Die Brüder hatten auf dem Schlosse ein »Frühstück im Stehen« eingenommen. Ob da wol noch Pater Ivo, der im Leichenzuge nicht gefehlt hatte, das Brustbild seines alten Freundes Jérôme mochte erkannt haben? Auf Schloß Neuhof summte er, ohne aufzusehen, Lieder zum Lobe Mariä; auch hier that er es. Niemanden blickte er dabei an, niemanden gab er Antwort. Er lebte nur sich und Maria. Sein Eigenthum war an die Landschaft gegeben worden für eine Irrenanstalt, deren die Provinz – immer dringender bedürftig wurde –! An der Oeffnung, in deren Tiefe der silberbeschlagene Sarg blinkte, mußten wol eine große Menge »Melusinen« sitzen – wie huschte er dahin mit seinem Wedel und jagte die Unheiligen fort!

Es ist Pater Ivo! sagte ein junger Mönch, auf Bonaventura zutretend. Er ist irr', wie Sie wol sehen, Herr Domherr!

Der junge Mönch nannte sich Pater Quirinus. Er hatte ein Bund Schlüssel in der Hand, wollte erst die Schränke 15 schließen, in welche der Guardian seine Meßopferkleider, die Mönche die Requisiten der Räucherung des Sarges und die Tücher gelegt hatten, auf denen er ausgestellt gestanden; dann galt es noch, das Hauptportal der Kirche zu schließen – für die Arbeiter und Betbedürftigen gab es eine kleine, versteckte, allen Bewohnern der Gegend bekannte Nebenthür.

Bonaventura sah sich erkannt, sprach sein Verlangen aus, den Pater Sebastus zu besuchen, und willigte gern ein, die vom Guardian zu erbittende Erlaubniß dazu so lange abzuwarten, bis Pater Quirinus sein Geschäft beendigt haben würde. Er begleitete ihn auf seinem Rundgange hinter die Sakristei.

Mit der größten Unbefangenheit sagte der junge, frisch und blühend aussehende Mann in einer auffallend gewöhnlichen Sprechweise: Unser Bruder Hubertus ist nicht zugegen! Er kam gerade recht von einer Reise, um die unverschämte Störung durch den Musikanten abzutrumpfen! Viel lügt man auch über – den Kronsyndikus! Wir hier müssen ihn schätzen! Manches, was Sie hier an Gold und Silber sehen, haben wir von ihm in seinen letzten Tagen bekommen!

Dem für einen Geistlichen fast zu resoluten jungen Mann erwiderte Bonaventura: Als sich der Verstorbene vor einigen Jahren sein Erbbegräbniß neu herrichten ließ, widersprach, hör' ich, der selige Provinzial Henricus und schrieb deshalb nach Rom –

Ganz recht! erwiderte der junge Mönch. Aber Cardinal Ceccone schickte durch Vermittelung des Ministeriums den Spruch der heiligen Pönitentiarie und der Kronsyndikus legte eine Generalbeichte ab, die an unsern Ordensgeneral nach Rom gegangen ist. Seitdem kam der Befehl, ihm keine der geistlichen Wohlthaten zu entziehen.

Der junge Mönch machte Anstalt, Bonaventura alles zu 16 zeigen, was die Kirche an alten Bildern, kostbaren Gefäßen und gestickten Gewändern besaß. Bonaventura ließ es geschehen. Konnte er sich doch indessen in die Vorstellung finden, diesen aufgerissenen Fußboden da im Zusammenhang – mit Rom zu wissen! Cardinal Ceccone, der politische Lenker der Geschicke des Kirchenstaats – neben ihm der Großpönitentiar und Oberinquisitor der ganzen katholischen Welt – dann der General der Franciscaner – drei höchste Würdenträger der Kirche betheiligt an dem aufgedeckten Leben eines deutschen Adeligen! Dort vielleicht alles enthüllt, was hier der Welt unbekannt blieb! Dort vielleicht alle Schleier hinweggezogen, die seit Jahren über dem Leben auf Schloß Neuhof hingen! Dort vielleicht die Gründe auch bekannt, warum seit Jahren schon der Dechant nur mit dem Ausdruck des größten Mismuths seines alten Freundes, des Kronsyndikus gedachte! Dort vielleicht auch – ein Zusammenhang – es durchzuckte ihn das flüchtig – mit jenen Drohungen, die Lucinde gegen ihn selbst auszustoßen gewagt –?

Der junge Mönch entfaltete kostbare Meßgewänder, warf sich sogar eine »Kasel« um und zeigte mit wohlgemuther Freude, wie schwer sie an echtem Golde war. Die ist noch nicht zu alt! sagte er. Die verstorbene Frau von Wittekind hat die köstliche Arbeit, die in Paris gemacht worden ist, vor vierzig Jahren gestiftet.

Eben ging Pater Ivo leise singend vorüber, huschte mit dem Weihwedel und jagte die Geister fort. Lachend sah ihm Pater Quirinus nach, während Bonaventura in Rührung stand. Beim Oeffnen der übrigen Schränke, beim wiederholten Anlegen der kostbaren Gewänder durch den jungen Pater erkannte Bonaventura einen oft vorkommenden Fehler seiner geistlichen Brüder, Eitelkeit auf den malerischen äußern Schmuck ihrer Costüme beim Cultus. Die Mönche vom Kloster Himmelpfort lasen 17 ringsum in kleinen Kapellen die Messe . . . Rom hält die Menschheit an tausend Fäden! sagte er sich.

Als der junge Mönch eine Anzahl Gefäße aus dem Verschluß doppelter und dreifacher Schlösser hervorholte, fragte er ihn: Warum traten Sie eigentlich in den Orden?

Das war nur eine gute Versorgung! erwiderte der junge Mann. Ich bin armer Aeltern Kind, wollte studiren, brachte mich kümmerlich durch und hatte keinen Muth, auf die Universität zu gehen. Ich wollte ins Postfach, meldete mich und wurde wegen Ueberfluß an Meldungen nicht angenommen. Eine Braut, die ich hatte, wollte nicht länger warten und heirathete mir vor der Nase weg einen andern. Das verdroß mich. Ich wußte nicht, was anfangen, und ging ins Kloster. Zwei Jahre war ich Novize. Jetzt hab' ich die Weihen erhalten und bin versorgt.

Sie wollen nicht höher hinauf? Haben keinen Ehrgeiz? fragte Bonaventura, erstaunt über diesen Mangel jeder Empfindung bei einem an sich doch traurigen Geschick.

Nein! war die unbefangene Antwort.

Also gibt Ihnen der Schmerz über die Täuschung durch Ihre Liebe diese Kraft, so zu entbehren und zu entsagen?

Meine Braut handelte ganz vernünftig! Ich hätte erst zehn Jahre auf eine Anstellung beim Post- oder im Steuerfach warten müssen! Jetzt hab' ich mein Brot; freilich nur für mich allein – das kann man aber ertragen!

Währenddessen schloß der junge wohlgenährte Pater einen Schrank nach dem andern auf und zu, knixte erst jedesmal vor jedem geweihten Gegenstande, den er hervorzog, zeigte ihn dann, schloß ihn wieder mit einem Knix ein, alles nach derselben Cadenz und mit der größten innern Befriedigung.

Bonaventura konnte sich in eine solche Weihelosigkeit nicht finden. Er mochte noch immer glauben, daß hier nur ein Schmerz 18 so überwunden und daß vielleicht auch Pater Hubertus' Abrichtung für die Zufriedenheit an diesem Berufe gesorgt hatte. Auch Ihnen hat zu dieser wohlgemuthen Ergebung in manche Entbehrung gewiß Ihr »Bruder Abtödter« verholfen? fragte er.

Pater Quirin lachte. Na ja! sagte er. So kennen Sie also den alten Knaben? Er konnte sich lange nicht in den Frieden finden, den die Kirche mit seinem alten Feinde geschlossen, mit dem Kronsyndikus! Er machte sich auf Reisen zu schaffen und bettelte um Aufträge, um nur nicht hier zu sein. Allen ist aufgefallen, daß er gerade heute zurückkehrte und sogar für Ordnung sorgte. Knochen hat er wie Eisen – Aber nein, mich brauchte er nicht zu bändigen! Ich thue, was ich muß. Wir haben alle unsere leidliche Bequemlichkeit. Ich zeige Ihnen das Refectorium!

Entbehren Sie gar nichts? fragte Bonaventura im Weitergehen.

Gewiß nicht! antwortete Pater Quirinus und küßte mit gemachter Andacht eine Monstranz, die über und über mit Edelsteinen besetzt war und nur bei den höchsten Veranlassungen aus diesen wohlverwahrten Schränken genommen wurde.

Diese gleichbleibende Gelassenheit streifte in Bonaventura wiederum alle Blüten ab. Er konnte sich nicht finden und erinnerte wenigstens an den Zauber der Freundschaft und des Zusammenlebens in einem Kloster. Aber auch dem erwiderte der junge Mann: O nein! wir sind hier zusammen keine Freunde! Es ist auch gut so! Sobald wir uns einander anschließen, fangen wir an über unsere Verhältnisse Gedanken zu haben; dann verbittern wir uns vieles, worüber wir jetzt nicht grübeln. Jeder ist besser für sich!

Diese Freundschaften kommen also doch vor?

Selten! lautete die Antwort, während Pater Quirinus sich 19 umsah und jetzt leiser sprach. Sowie sich zwei Brüder allzu sehr aneinander anschließen, im Garten zu oft beim Spazierengehen zusammen gesehen werden, sowie man bemerkt, daß sie bei Tisch zusammensitzen wollen oder auch auf der an der Thür des Guardians hängenden Tafel über unsere Wochenverrichtungen zu häufig zusammenzukommen suchen, so werden die Leute getrennt.

Das ist ja eine Grausamkeit! wallte es in Bonaventura auf . . . Unterdrückt der einzige Trost der Einsamkeit – der freundschaftliche Austausch der Gedanken und Gefühle! Der Rückblick auf ein vergangenes Leben! Die gemeinschaftlichen Tröstungen an den Quellen des Wissens und des Denkens –! Aber Bonaventura durfte alles das nur durch Seufzen ausdrücken und sagte sich im stillen: O die Menschennatur ist im Durchschnitt doch ganz so wie bei diesem jungen Manne! Was ist bei Tausenden ihre geistige Meinung! Nichts als – ihr Bedürfniß nach Erhaltung, Ernährung, Unterkunft! Solche Institutionen wie die Klöster glaubt' ich auf Felsen gebaut und ich sehe: Einen Beutel mit Geld in der Hand und sie lassen sich wie Kartenhäuser umblasen!

Durch einen Seitengang kam man aus der Sakristei in das Kloster. Ein Kreuzgang von altem, morschem Holz führte hinüber zu ihm. An der Wand der Kirche hingen, allemal gegenüber einer Oeffnung an der andern Seite, welche in einen mit Schnee bedeckten Garten hinausging, Bilder, die von einem Tüncher verfertigt schienen und Wunder des heiligen Franciscus vorstellten. Schon aus der Jahreszahl 1707 konnte man sowol den Geschmack der Malerei wie den Stil der Unterschriften erkennen. An die Poesie eines winterlich romantischen Klosterkreuzgangs, wie ihn unser Lessing gemalt hat, war hier nicht zu denken. Eine hölzerne Gitterthür führte ins Kloster. Pater Ivo schlenderte wieder leise singend in einem der langen Gänge und Quirinus sprang fast wie ein Tänzer, trotz seiner langen Kutte, 20 voraus, um dem Provinzial-Guardian Maurus die Meldung zu machen. Einstweilen trat Bonaventura in das Refectorium. Es ähnelte einem Wirthshauszimmer auf dem Lande mit alten Holzpfeilern, mächtigem Ofen, Stellagen zum Aufschichten der Eßgeräthschaften. Von hier aus sah man durch kleine Scheiben in den innern, strohbedeckten Garten.

Bonaventura sehnte sich, ein Wort der Ermunterung mit Sebastus zu sprechen. Aus Lucindens Beichte wußte er ja, daß er hatte nach Belgien entfliehen wollen. Sie hatte ihm sogar nicht verschwiegen, daß sie selbst Sebastus überredete, zu den Jesuiten zu entfliehen. Daran nun zu erinnern war Bonaventura aus Rücksicht auf die Beichte verboten. Alles, was er etwa Lehrreiches, Warnendes, Ermunterndes gerade über diesen Punkt mit dem Convertiten hätte sprechen können, mußte ausdrücklich von ihm unterlassen bleiben. Als Beichtvater durfte er nicht mehr von ihm wissen, als was Sebastus selbst voraussetzen konnte. Er mußte – unwahr sein.

Die in Reihe und Glied aufgestellten steinernen Bierkrüge der Mönche musternd, hörte er Quirinus' Rückkehr. Dieser kam bestürzt. Er sagte, Pater Sebastus hätte eine Pön verwirkt und sollte niemanden sprechen; der Provinzial würde sogleich selbst erscheinen und sich dem Herrn Domherrn entschuldigen.

Bald auch kam Pater Maurus. Aeußerlich war er nicht zu unterscheiden von allen andern Mönchen. Man kann in Rom auf der Via Appia in einem Omnibus voll Bauern aus Tivoli fahren, hat neben sich einen einfachen Mönch in weißem Kleide sitzen und ahnt den großmächtigen General der Dominicaner nicht. Pater Maurus war ein hoher, starkknochiger Mann. Seine buschigen und schwarzen Brauen lagen trotzig über den funkelnden Augen, die sich den Ausdruck der Unterwürfigkeit gaben. Sein Lächeln erstarb immer ebenso rasch wie es kam. 21 Eher glich dieser Mönch einem Gefängnißwärter als einem Boten des Friedens.

Pater Quirinus zog sich zurück. Der Provinzial und der Domherr setzten sich auf die nächsten Holzschemel. Vergebung, Herr Domherr, sagte der Provinzial, wir haben mit dem Pater Sebastus einen schweren Stand! Die Regierung lieferte ihn uns zurück aus der Residenz des Kirchenfürsten mit dem Bedeuten, ihm jede schriftstellerische Thätigkeit zu untersagen, jede Theilnahme an unserm gegenwärtigen traurigen Kampfe. Die Weisung war überflüssig, da der Pater ohnehin erkrankte und uns eine Zeit lang ernste Besorgnisse einflößte. Seit einiger Zeit geht es ihm besser; wir ließen ihn in der Krankenstube, weil er, in seine Zelle zurückgekehrt, seine Pflicht, Nachts zwölf Uhr aufzustehen und in den Chor zu gehen, um zu singen, dann wie jeder andere hätte erfüllen müssen. Heute in aller Frühe besuchten ihn zwei Fremde, ein Jude und jener Mensch, dem wir vor wenig Stunden den frechen Auftritt im Düsternbrook verdankten. Ich nehme Ihr Vertrauen in Anspruch, Herr Domherr! Denken Sie sich die Verabredung! Jenes Stück Tuch, das der Störenfried auf den Sarg zu legen wagte, bekam er von unserm Pater, dem Sohn des damals so unglücklich, wie man jetzt für ganz gewiß weiß, nur im Wortwechsel und nach einer offenen Gegenwehr Gefallenen. Dafür verlangte er von jenem Juden sowie von dem Küfer – sein Name ist Stephan Lengenich – die Mittel zur Flucht –

Wie erfuhren Sie das? war eine Frage, die Bonaventura mehr aus Schreck aussprach, als in Voraussetzung, daß die Gespräche, die im Krankenzimmer gehalten wurden, belauscht werden könnten. Erst als er Pater Quirinus an der zufällig aufgehenden Thür des Refectoriums stehen sah, kam ihm die Vorstellung, 22 daß die etwa von ihm gestellte Frage ohne Beantwortung bleiben konnte.

Wir wissen es, Herr Domherr! sagte der Provinzial mit verdrossenem Blick auf die Thür. Wir wußten es schon in der Frühe. Ich hatte mir die Strafe nur einer ernsten Ermahnung für ihn vorgenommen. Seitdem jedoch eine heilige Handlung durch Mitwirkung des Paters gestört, eine ganze Familie, der er selbst früher so oft bekannt hat Dank schuldig zu sein, durch sein Zuthun unverantwortlich compromittirt worden ist, hab' ich ihm statt des Krankenzimmers die Strafzelle angewiesen. Ich kann nicht wünschen, daß Sie ihn in seinem gegenwärtigen Zustande sehen.

In welchem Zustande? fragte Bonaventura mit gesteigertem Bangen und folgte der Bewegung des Provinzials, der sein Ohr spitzte, als vernähme er irgendwoher einen Ruf. In der That hörte man in weiter dumpfer Ferne einen Ton wie einen Schrei um Hülfe.

Bonaventura mußte aufspringen und sich an der Lehne des Schemels festhalten. Das ist er? sagte er und deutete auf das Fenster, von wo der gellende Schrei gekommen war.

Er ist es! Ja! sprach der Provinzial mit kalter Ruhe. So tobt er in seiner Strafzelle und spricht im lauten und wilden Durcheinander. Ich lass' ihn binden, wenn er nicht schweigt –!

Lassen Sie mich zu ihm! bat Bonaventura.

Herr Domherr, diese Wohlthat wäre unverdient! Auch Sie würde er anfahren wie ein wildes Thier –

Nein, nein, wir kennen uns!

Sie würden uns die Züchtigung stören, die ein Pater verdient, der aus seinem Kloster entfliehen will!

Bonaventura stand mit schwindendem Bewußtsein. Er sah Abgrund und Nacht um sich her und jedenfalls im Benehmen 23 Klingsohr's – auch die fernwirkende – den Unglücklichen lockende Gewalt Lucindens! Sie hatte den Mönch, ihren ehemaligen Geliebten, in Knabentracht besucht! Ihr Lächeln, ihre muthige Rede – »um ihn aus meinen Bahnen zu entfernen«, hatte sie ihm frank und frei gebeichtet – hatte ihn zur Flucht überredet –! Sie hatte seinen Muth, seinen Ehrgeiz entflammt zu einer neuen Entwickelung seines immer noch reichen, wenn auch verirrten Geistes –! Eine Gelegenheit zur Flucht bot sich jetzt wieder –! So, wie er da die gräßliche Stimme vernahm, einen Hülferuf, der dem eines Ertrinkenden glich, so klang ihm in der Erinnerung sein eigener Seelenaufschrei, als an jenem Abend der Abreise ihn Lucinde plötzlich verlassen hatte und ein wilder Sturm durch seine Adern brauste – Zu ihr –! Zu ihr –! klang es auch aus Sebastus' Munde an sein Ohr. Besinnungslos ergriff er seinen Hut und bat wiederholt: O lassen Sie mich zu ihm!

Herr Domherr –! lehnte jetzt der Provinzial fast vorwurfsvoll ab. Wenn er sich beruhigt hat! Morgen! setzte er hinzu.

So bitt' ich – grüßen Sie ihn von mir! hauchte der liebevolle Priester, seufzend über die Nothwendigkeit, den Formen und Satzungen seiner Kirche sich ergeben zu müssen. Sagen Sie ihm, daß ich in dieser Gegend verweile, daß ich den ersten ruhigen Augenblick, den Sie mir anzeigen werden, benutzen und zu ihm kommen wolle! Versprechen Sie mir's!

Herr Domherr, sehr gern! sagte der Provinzial mit derselben Freundlichkeit, als handelte es sich um die Anzeige eines in völlig natürlicher Weise eintretenden harmlosen Ereignisses.

Und Bruder Hubertus? drängte Bonaventura, jetzt schon im Gehen. Vermochte der nicht sonst so viel über ihn?

Auch der ist ein Mitglied unsers Klosters geworden, erwiderte der Provinzial, verbindlich im Gehen die linke Seite nehmend, 24 mit dem wir unsäglich Geduld haben müssen! In Angelegenheiten einer Erbschaft, die er machte, war er verreist –

Einer Erbschaft, dachte Bonaventura, die Ihr statt seiner zu machen hofft! Als Beichtpriester trug er eine solche Last von Thatsachen in seinem Gedächtniß, daß er genauer nach einem Verhältniß fragen mußte, das er doch schon öfters, von Benno sowol wie von Hammaker, hatte erwähnen hören. Allmählich fand er sich zurecht und unterbrach die Erläuterungen des Provinzials: Ganz recht! Ich weiß! Das von einer Ermordeten geerbte Geld wird er dem Kloster geben –

Doch nicht! war jetzt des Provinzials verdrießliche Antwort. Dieser Hubertus hat wunderliche Seiten. Im Vertrauen gesagt, er hat einen dunkeln Ursprung. Man sagt geradezu: Seine Angehörigen sind auf dem Richtplatz gestorben! An einem Tage, wo eine Gaunerbande, zu der er als Knabe gehört haben mochte, aufgehoben, das Haus, wo sie sich vertheidigte, genommen und angezündet wurde, soll unser Bruder – sagt man, und sei es auch unter uns gesagt, Herr Domherr! – zwei Stock hoch aus dem Fenster gesprungen sein, in jedem Arm mit einem Kinde. Glücklich kam er mit den beiden Kindern zur Erde nieder, entrann den Flammen, entrann der Verfolgung, machte einen abenteuerlichen Lebenslauf, wurde ein an sich vortrefflicher Mensch, exemplarisch in seiner Aufführung, nur hat er störende Seltsamkeiten. Als Förster des Kronsyndikus erlebte er einen bittern Verdruß und wurde deshalb Mönch. Mancherlei leistete er schon unter Pater Henricus, meinem Vorgänger. Jetzt hat er sich in den Kopf gesetzt, die zwanzigtausend Thaler, die er ererbte von jener in Ihrer Stadt gemordeten Frau Buschbeck – sie nannte sich bereits wie sein Weib nach seinem Namen, während sie doch nur eine gewisse von Gülpen und nur seine Verlobte war – wenn irgendmöglich, jenen beiden Kindern zukommen zu lassen, die er 25 einst aus dem Feuer rettete, sobald sie sich nur noch entdecken ließen. Sie waren ihm, nachdem er sie im stillen erzogen hatte, abgenommen worden. Jetzt correspondirt er nach Holland, Frankreich, Italien, um ihre Spur zu finden. Ich schrieb nach Rom, ob ich ihm auf ein Jahr die Erlaubniß ertheilen kann, in die Welt hinauszuwandern. Bis die Antwort da ist, gestattete ich ihm vorläufig, auf eigene Verantwortung, die Reise nach Holland, von wo er jetzt zurückgekommen.

Unter diesen Mittheilungen waren beide, in der Ferne wieder verfolgt von dem leise singenden Ivo, an die kleine Thür gekommen, die den verborgenern Eingang zur Kirche bildete. Hier stand Bonaventura's Wagen. Mit einem Abschied, den der Provinzial so nahm, als wenn ein Offizier über seine untergebenen Mannschaften einem andern hohen Militär eine einfache conversationelle Mittheilung gemacht hätte, bestieg Bonaventura seinen Wagen; ein Bedienter in Trauerlivree war vom Präsidenten für den Stiefsohn des Hauses zurückgelassen worden. Er fuhr in schon heraufgezogener Dämmerung von dannen.

O ihr Klöster, seid ihr denn Zufluchtsstätten des Friedens und der reinen Menschenliebe –?! So tönte es in allseitig schmerzlichster Betrachtung durch Bonaventura's Inneres, als er in die schon dunkelnde Ferne hinausfuhr, hin- und hergeschleudert von den Furchen der Feldwege, die zurückzulegen waren, um nach Schloß Westerhof in kürzerer Frist zurückzukommen; denn der Kutscher glaubte diese Richtung einschlagen zu sollen. Erst nach einer Stunde, während durch sein Herz alle schrillen Accorde des Zweifels, alle klagenden der Wehmuth zogen, entdeckte er in der allmählich ganz hereingebrochenen Nacht die Absicht des Kutschers, klopfte ihm und befahl die Richtung zu nehmen nach St.-Libori ins Pfarrhaus. Wie sollte er Frieden bringen in die stille Abendgesellschaft des Schlosses! Wie den schrecklichen Ruf 26 nicht verrathen, der immer noch wie ein: Zu Hülfe! an sein Ohr tönte –! Ein anderer Ton schloß sich an, ein hochfeierlicher, der einst ertönen wird – – wenn am Tage des Gerichts die Lüfte Stimmen tragen werden und jenes Wort bestätigen, das ihm einst zu Kocher am Fall der Onkel gesprochen an dem schönen goldenen Sommermorgen: »Wenn ich mich zuweilen in unserer katholischen Welt umsehe, ist mir's, als sähe ich in alten Verließen die Gebeine der Geopferten modern –«

Und bei alledem schwatzte nun schon wieder Norbert Müllenhoff, daß er den Ankommenden mit Sehnsucht erwartet hätte, bot Pfeifen, Cigarren, Vesperbrot, Unterhaltung durch Zeitungen, Broschüren, durch seine eigene werthe Person, und legte ihm zuletzt sogar »mit Schüchternheit« einen Versuch vor, wie die »Exercitien« der Frau von Sicking seiner Meinung nach wol am besten zu organisiren sein würden. Von dem an seiner Thür heute früh ausgestellten Wachskindchen schwieg er wohlweislich, weil er nichts verrathen mochte von Gegnern, die innerhalb der Gemeinde, auf die Art ersichtlich, mehr seine Person als sein System fand. Bonaventura, erschöpft, geduldig an sich schon, nahm das Papier, um es in Muße durchzulesen. Er blieb eine Stunde auf seinem Zimmer. Um sich zu zerstreuen, schrieb er Briefe, las Rechnungen, Zeitungen. Zuletzt bereute er, nicht nach Westerhof gefahren zu sein. Selbst für Thiebold's schwaches Klavierspiel wäre er dankbar gewesen.

Beim gemeinschaftlichen Abendimbiß, den er nicht ablehnen konnte, mußte er dem Wirth, der fast immer allein das Wort führte, auf alle Gebiete der Seelsorge und Liturgik folgen und mußte ihm sogar in manchem Recht geben. So z. B. als er gegen die Einmischung der Dilettantenmusik in den Cultus sprach und sagte: Ueberhaupt, Herr Domherr, wenn ich höre, die Stiftsdamen von Heiligenkreuz wollen nächste Ostern wieder in der 27 Messe mitsingen, da kommt mich schon ein Grauen an! Ha, diese Eitelkeit! Diese Eifersucht! Diese Prätension! Jenes Fräulein will ein Solo singen, diese alte Comtesse nicht minder; nun kommt der Singdirector aus Witoborn und bringt mir diese Botschaft und jene; die eine ist heiser, die andere hat sich krank geärgert, gerade wie bei der Komödie! Und was spielt das heilige Altarsakrament dabei für eine Rolle! Wie die Affen müssen wir stehen und warten, bis die Damen auf dem Chore einzufallen die Gnade haben! Sursum corda! ruf' ich und diese Weibsen halten mir kein Stichwort! Hat sich bei einer die Spitzenmantille verschoben, so kann die heilige Wandlung warten, bis sothaner Schaden wiederhergestellt ist! Da bin ich für unsere einfachen Kapelljungen! Sagen Sie selbst, das ist doch frisch, ländlich und geht zu Herzen! Freilich muß auch da so ein Heidenkerl, ein Cantor, nicht dabei sein und wunder thun, als wenn unser Herrgott im Himmel zunächst nur für die Unterbringung der Instrumentalmusik zu sorgen hätte!

Bonaventura mußte des Eiferers lächeln, der in manchem Recht hatte, wenn er auch die neurömische Reaction wie Landsturm organisirt haben wollte. Mir ganz recht, sagte Müllenhoff, wenn wir, wie in Frankreich und Belgien, endlich auch die Jesuiten kriegen! Sie brauchen ja nur manchmal zu kommen, nur manchmal zu predigen und können dann immer wieder abziehen. Die Pfarrer hätten keinen Nutzen davon, sagen unsere aufgeklärten und faulen Collegen? Im Gegentheil! Die Jesuiten lassen durch ihre Predigten so viel Schrecken zurück, daß uns das auf Monate lang zugute kommt. Machen sie's zu arg, so können wir Pfarrer der Gemeinde immer sagen: Na, da seht ihr, so fegen euch andere; seid froh, daß ihr an uns so sanfte Flederwische habt! . . . Sie waren ja wol auch früher Pfarrer auf dem Lande? setzte Müllenhoff hinzu und schenkte wacker ein.

28 Gewiß, gewiß! antwortete Bonaventura zerstreut und deckte sein Glas mit der Hand.

Müllenhoff erzählte seine Verhandlung mit den Gemeindevorständen, seine Reform des Finkenhoff, seine Stiftung des Jünglings- und Jungfrauenbundes, seine Gewohnheiten beim Beichthören, seine Uebungen im richtigen Rosenkranzsprechen und seine Heilung der »Kniesteifigkeit« –

Bonaventura's Lächeln und Schweigen nahm er für volle Zustimmung und beklagte nur, daß ihn, »im Vertrauen gesagt«, der Umgang mit den vielen Vornehmen oft in ärgste Verlegenheit setze. Aufrichtig gesagt, warf er halb ernst, halb im Scherz ein, obgleich ich heute den Tanz zur tiefsten Hölle gewünscht habe, sollten wir doch – im Seminar wirklich ein bissel tanzen lernen! Es ist des Anstands und einer gewissen uns gar zu sehr fehlenden Manierlichkeit wegen!

Die Jesuiten lehren's ja! sagte Bonaventura. Aber wie wollen Sie dann, fuhr er fort, bei solcher Scheu Ihres Benehmens, die Exercitien halten mit so vielen vornehmen Herrschaften? Ueberhaupt, wie denken Sie sich denn diese Uebungen?

Die Exercitien dauern vier Wochen! sagte Müllenhoff. Die Herrschaften, einige zwanzig, wohnen für die ganze Zeit bei Frau von Sicking! Jeder Tag hat seine bestimmte Regel! Ich allein kann alle geistlichen Handlungen und Erweckungen nicht verrichten; Sie werden auf dem Papiere, das ich Ihnen gab, finden, wie ich mindestens noch drei bis vier Priester als Aushülfe hinzunehmen muß. Ich nehme sie mir aus Witoborn. Freilich muß ich dabei manche Rücksichten beobachten. Dem Provinzial von den Franciscanern darf ich die Ehre, einen Vortrag zu halten, nicht entziehen; sogar ein Gebet zum Schluß muß ich mir vom Bischof selbst erbitten. Mir, auf dessen Sprengel die ganze Veranstaltung fällt und der ich dadurch das Recht habe, die 29 Sache zu leiten und zu beobachten und mir dies Recht auch nicht würde nehmen lassen, mir behalt' ich die Montags- und Donnerstagserweckungen vor. Apropos! Ich habe mir eine methodische Schilderung des Fegfeuers, der Hölle und des Paradieses vorgenommen – Eine zeitgemäße und moderne Hölle! Hören Sie einmal: »Und nun, du beweinenswerther Verdammter, wird dir ein Sendbote Lucifer's, im glühenden Widerschein der Majestät Seines Herrn, entgegentreten und wird dir die ›Stunden der Andacht‹ zeigen – die du in den Zeiten deiner Denkglaubigkeit das ›Buch der Bücher‹ nanntest! Hast du auf Erden geglaubt« – Der Sprecher stockte, zog ein Concept aus der Rocktasche und las Bonaventura, der nicht wußte, wie ihm geschah, weiter vor: »Hast du auf Erden geglaubt, im Schatten einer Laube, von Bienen umschwärmt, unter dem Duft von Hollunderblüten dich vor dem wahren Hochaltar und dem Sanctissimum deines Schöpfers zu befinden, besonders wenn du dazu aus diesem deinen ›Buche der Bücher‹ ein Kapitel über die Unsterblichkeit der Seele gelesen hattest, und gingst dann hin und begossest deine Blumen, etwa wie wenn du selbst ein solches ›Lob deines Schöpfers‹ wärest, aber kein anderes heiliges Naß brauchtest, als deinen sentimentalen ›Thautropfen‹, keinen andern Kelch, als die Gießkanne deiner angebeteten ›Natur‹ –: dann, dann, du beweinenswerther Denkglaubiger, sollst du, umschwärmt von feurigen Hornissen, dein geliebtes Buch, die ›Stunden der Andacht‹ wiederfinden als ›Jahrhunderte der Qual‹, sollst sie auswendig lernen rück- und vorwärts, sollst sie in alle Sprachen übersetzen, selbst in die, welche du gar nicht gelernt hast, und wehe dir, wenn ein Jota fehlt, wenn von dir ein Zeitwort falsch angewendet, eine Feinheit der fremden Sprachen unbeachtet geblieben ist!« . . .

Hören Sie auf! Das ist ja mehr, als Nero und Busiris! rief Bonaventura in die Hände schlagend und laut lachend.

30 »Da kommen sie denn«, fuhr Müllenhoff ungehindert fort, »diese Schmachtenden, diese Zärtlichen, diese Lavendelseelen, die über einen Käfer weinen konnten, den ihr Fuß im Grase zertrat, und dennoch keinen Blick, geschweige eine Thräne hatten, wenn sie stündlich ihren Gott, ihren Heiland und seine Gebote mit Füßen traten! Jene Schmachtenden, die ein Marienwürmchen liebkosen und bewundern können und Maria selbst nur für eine gewöhnliche Mutter wie andere auch halten! Jene Empfindsamen, die mit Freimaurermoral alle Todsünden zuflicken, alle Risse der Herzen mit phrasenhaftem Kalk und Mörtel zu verschmieren wissen! Ihre ruchlosen Devisen: ›Thue recht und scheue niemand!‹ oder ›Wir glauben all' an Einen Gott!‹ diese nichtswürdigen Gemeinplätze des Unglaubens, werden mit Flammenschrift an dem Vorhof desjenigen Theiles der Hölle stehen, der gerade extra diesen Patent-Seelen bestimmt ist! Riesengroß werden die Buchstaben sein, welche mit dreizinkigen Gabeln die Teufel schüren müssen, damit sie ganz so brennen, wie sie im Munde dieser Freimaurer lebten und nicht etwa lauten: ›Thue recht und scheue dennoch Gott und seine Heiligen!‹ oder: ›Es ist nur Ein Gott, in dem allein das wahre Heil!‹ O, des Jammerns dann, wenn diese Freimaurerseelen zu dem Gekreuzigten, dessen ›einflußreiche Stellung‹ bei Gott sie nun wol erkannt haben werden, aufblicken und dann auch vor diesem um Titel, Orden und Beförderungen schmachten werden, statt dessen aber der feurige Osiris mit dem Ochsenkopf ihnen nachläuft, um sie zu umarmen als seine ägyptischen Brüder. Oder wenn ihre Logenschwester Isis, die ›holde Mutter Natur‹, ihre gnadenreichste Allerseligste, ihnen zuruft: Hebt meinen bekannten Sais-Schleier! und sie sehen dann ihre geliebte Mutter aus hundert Brüsten Natur-Wohlthaten spenden, feuerspeiende Berge, Erdbeben, daherbrausende, aus den Schienen gegangene Locomotiven! Alle ihre Mittler und Erlöser werden ihnen 31 zuwinken mit den Wohlthaten, die gerade sie spenden können – Buddha mit der Kunst, hundert Jahre auf Einem Beine zu stehen, Sesostris mit Pyramiden, die erst auf ihren Leibern das sichere Fundament bekommen! Selbst ihr letzter Prophet, Lessing's Nathan der Weise, wird ihnen anbieten von den Waaren, die er gerade aus Damascus mitgebracht hat, vorzugsweise jenen Mantel mit dem rothen Templerkreuze, nämlich einen Mantel von Blei, so schwer, daß sie damit alle Greuel und Verbrechen zu tragen glauben sollen, die sie hienieden mit ihrem verschlissenen Humanitätsgarderobenstück der Liebe bemäntelt, beduldungelt und betoleranzelt haben – . . .

Genug, genug! rief Bonaventura; ich fürchte mich vor meiner Nachtruhe! Er deutete auf den Wächter, der die zehnte Stunde rief, und entfernte sich mit einem einfachen, alle Hoffnungen des Pfarrers auf Zustimmung und Beifall ironisch und zuletzt indignirt abschneidenden: Gute Nacht!

Jeden Morgen las Bonaventura die Messe. Bald in St.-Libori, bald in Heiligenkreuz, bald auf dem Schlosse. Dann besuchte er auch wol die Schule, war hierauf viel in Witoborn, wo ihm die schuldige Rücksicht gebot, diese oder jene hervorragende Persönlichkeit mehr als einmal zu besuchen. Beichtabnahmen hielt er nicht, so sehr auch mancher danach Verlangen trug.

Als er am folgenden Morgen nach Heiligenkreuz gegangen war, wo vor den Stiftsdamen von ihm die Messe gelesen werden sollte, fand er, als die heilige Handlung vorüber und er schon im Begriff stand, sich in der Sakristei zu entkleiden, Thiebold, der ihm die gestrigen Erlebnisse schildern wollte, soweit sie die ihm in der Beichte von Bonaventura vorgeschriebene Pflicht betrafen. Thiebold hatte vorausgesetzt, daß er dem Domherrn diese Mittheilungen in der entsprechenden seelsorglichen Form zu machen hätte, und suchte ihn deshalb, während er sich im Meßornate 32 befand, auf. Schon sehr zeitig mußte er mit seinem Einspänner aus Witoborn ausgefahren sein. Der Cantor fungirte für den alten Tübbicke, dem diese Frühwege sonst auch schon zu beschwerlich wurden.

Auf die Weisung, die der Cantor erhielt, beide allein zu lassen, begann Thiebold die Mittheilung all des Räthselhaften, das ihm gestern Armgart in der Kapelle angedeutet hatte, und wollte hören, ob nun doch noch eine Verpflichtung bestünde, seinem Freunde Benno die »stattgefundene Täuschung« mitzutheilen.

Bonaventura erwiderte nach erstem Sinnen über die Worte Armgart's: Ich glaube, lieber Herr de Jonge, daß Sie jetzt besser thun, diesen Gegenstand ganz fallen zu lassen. Ziehen Sie vor, Ihren Fehler durch desto innigere Beweise der Freundschaft für unsern guten Benno wieder gut zu machen! Armgart will nicht, daß Benno etwas von ihren frühern Empfindungen erfährt? Nun wohl! Dann um so besser, wenn ihn die gegenwärtigen des jungen Mädchens nicht enttäuschen. Zu jung und unklar noch in sich selbst scheint sie mir zu sein, als daß ihr Herz schon in dem Grade für irgendjemand sollte entschieden haben, um etwas auf die Beweise ihrer Gunst bauen zu können. Ein Mädchenherz in diesem Alter ist eine unbekannte Insel, die der Seefahrer, ungewiß, was sie birgt, mit Zagen betritt; bald hoffend, bald getäuscht geht er vorwärts, bei jedem Schritt entdeckt er Unerwartetes und findet sich erst nach langer Zeit in ihr zurecht. Zunächst wird das Wiedersehen ihrer Aeltern sie ganz in Beschlag nehmen. Ich höre, daß beide sich bald in dieser Gegend einstellen werden.

Wenigstens der Oberst! fiel Thiebold ein. Ich weiß es bestimmt von Hedemann. Er kann in acht bis vierzehn Tagen hier sein. Schon liegt an die städtische Behörde von Witoborn Hedemann's Gesuch vor, vorläufig die Wasserkraft der Witobach 33 auf Handpapier gehen zu lassen. Die Aufregung, die dieser Antrag in der Stadt hervorgebracht hat, ist ridicül. Alles intriguirt dagegen. In der heiligen Stadt Witoborn Papier fabriziren! Eine Erfindung des Satans befördern! Entschuldigen Sie, Herr Domherr, ich erzähle nur, was ich von Benno und den Offizieren »Bei Tangermanns« gehört habe.

Bonaventura begriff vollkommen, was sich von einem so dumpfen Geiste, wie er ihn überall hier vorfand, voraussetzen ließ, und fügte hinzu: Aber auch Frau von Hülleshoven hat die Absicht, ihren Gatten nicht allein sich in die Lage versetzen zu sehen, Armgart so nahe kommen zu dürfen. An dem Tage. wo der Oberst in Witoborn eintrifft, ist sie jedenfalls hier in diesem Stift, wo sie eine Verwandte der Aebtissin der Hospitaliterinnen in Wien, ein Fräulein von Tüngel-Appelhülsen, aufzunehmen versprochen hat. Verrathen Sie aber nichts davon auf Westerhof! Sie kennen Armgart's Phantasie –

Ihr Gelübde! Die Aeltern sollen sich vereinigen oder es gewinnt sie niemand –!

Bonaventura schüttelte den Kopf. Noch immer die Grille, die er schon aus den Briefen kannte, die er in Kocher am Fall gelesen.

Auf viel mehr, als nur »auf Ehre«, versprach Thiebold sein unverbrüchlichstes Schweigen über die von zwei Seiten auf Armgart anrückende Prüfung und bot dem Domherrn dann seinen Einspänner an. Er wollte noch im Stifte bleiben und bei den Damen Besuch machen. Er erklärte, dann zu Fuß nach Westerhof zu gehen, wo er, wie beinahe täglich, zu Mittag speiste. Tante Benigna hatte ihn von dem Frühboten, der jeden Morgen in die Stadt geschickt wurde, bereits einladen lassen – ihn, nicht Benno! »Wir sind es Terschka schuldig«, sagte sie zum Onkel Levinus, der gegen die steten Zurücksetzungen Benno's bescheidene 34 Bedenken erhob, »daß wir auf den Bevollmächtigten Nück's keinen zu großen Werth legen –!«

Bonaventura mußte den Vorstellungen Thiebold's nachgeben, aus Rücksicht schon auf den Gaul, der bis Mittag hier sonst im Freien hätte zubringen müssen; Thiebold war im Stifte so beliebt, daß er bei einem Morgenbesuch leicht in die Lage kam, gleich zu Mittag, nicht selten zum Nachtessen zu bleiben. Es war eben Thiebold's Talent, alle Menschen zu gewinnen. Er wußte nicht nur einige Dutzend Pfänderspiele, sondern ließ auch auf sich Garn und Seide abwickeln. Dabei seine bequeme Prätensionslosigkeit in Bildungssachen! Er machte kein Hehl daraus, daß er bei weitem weniger wußte, als Alexander von Humboldt. Wenn eine von den Damen dichtete (es waren nur fünf oder sechs darunter, die nicht etwa eine Ausnahme machten, sondern nur ihr Dichten – nicht eingestanden), so bewunderte er jeden Vers, jedes Bild, hatte nie dergleichen gehört oder gelesen und war ein Zuhörer so voll Aufmerksamkeit, daß er schon eine ganze Sammlung von Liedern im Portefeuille beisammen hatte, die sein Freund Joseph Moppes componiren und Alois Effingh mit Illustrationen versehen sollte.

Flüchtig noch erfuhr Bonaventura von Thiebold die wiedergekehrte Visionsgabe Paula's und von dem witoborner Kutscher die Genesung der kleinen Tochter des Herrn Jean Tübbecke durch einen Rosenkranz, den Paula gestern gesegnet hatte. Im Pfarrhause fand Bonaventura die Bestätigung. Der alte Tübbicke empfing ihn mit freudestrahlendem Antlitz. Fanchon lag. als der Großvater mit dem Amulet kam, nach Aller Meinung im Sterben. Man legte es dem fieberglühenden, athemlosen Kinde um den Hals; es stellte sich Schweiß ein, das Fieber ließ nach und schon berichtete Jean Tübbicke, der »maître-tailleur«, der jetzt im Pfarrhaus selbst zugegen war, von einer vortrefflichen und 35 stärkenden Nacht. Jean Tübbicke kam, um beim Pfarrer aufs entschiedenste gegen den Verdacht zu opponiren, daß es Tante Schmeling wäre, die an seiner Thürschwelle Kinder aussetzte. Es kam zu einem heftigen Auftritt. Müllenhoff entließ ihn mit den Worten: »Affenschänderisches Volk! Grützkopfige Dummheit! Herr Gott. wenn nun gar erst du noch ausländische Bettelpfennige für holländische Dukaten nimmst! Lallst deine edle deutsche Muttersprache so schon nur, wie ein blökend Kalb, und willst noch gar auf Zeisigart französisch zwitschern und niedlich thun mit Elefantenfüßen? Ei, daß dir doch über Nacht die Engel vom Himmel dein maître-tailleur-Schild vom Fenster abnähmen! Siehst du denn nicht, Heide, was ein allchristliches Gebet an Gnaden im Gefolge hat? Gehst du nicht in dich, du verruchter französischer Gütertheiler, so geb' ich dir die Prophezeiung, hängt noch in deinem maître-tailleur-Schild das Bret zum Sarge deiner Fanchon über deinem Hause!«

Schlimm, schlimm, schlimm! brummte nur immer im Gehen vor sich hin der alte Tübbicke, enträthselte dem Domherrn den Zusammenhang dieses Zanks und kam auf die Gräfin und auf seinen, nächst Gott nur ihr allein darzubringenden Dank zurück.

Unter allen diesen Mittheilungen litt Bonaventura. Auch Thiebold's Erzählungen hatten bewiesen, daß Paula's ekstatische Zustände nach einer kurzen Unterbrechung, die in ihrem, durch seine Ankunft geweckten und gesteigerten Lebensgefühl begründet gewesen sein mochte, wieder zurückkehrten. Noch hatte er seit ihrem Wiedersehen keiner ihrer Visionen beigewohnt. Mit bangem Herzen eilte er nach Westerhof. Einen vollen, vollen Tag hatte er ohne Paula sein können –!

Der scharfe Wind erfrischte seine Wange. Die kahlen Pappeln, Buchen und Erlen am Wege ächzten. Er drückte den Hut auf die Stirn. Seinen warmgefütterten Winterrock fest an sich 36 ziehend, schritt er sehnsuchtbeflügelt dahin. Da lagen – nach einer kleinen Stunde – die vier Thürme des Schlosses! Glanzschimmernd der graue Schiefer an den Stellen, wo der Wind den Schnee abgetrieben hatte! Hinter den Fenstern dort oben das süße Mysterium des Stilllebens, das Frauen von zarter Sitte und holder Anmuth darzustellen pflegen! Gar nicht gedenken konnte er, wie ihm doch Paula's Dasein so nur war. wie dem Baume sein Blatt kommt und geht und wiederkehrt und wieder schwindet, immer ein anderes ist und doch dasselbe, tausendfach immer nur Eines, Wirklichkeit und doch nur Begriff. Wäre das edle Gemälde der Gräfin nicht wie auf Goldgrund gemalt gewesen – vielleicht hätte er seinem Liebesdrang unterliegen müssen. Irgendeine einzelne Schalkhaftigkeit Paula's, wie sie etwa Armgart besaß, irgendeine lächelnde Caprice, wie Lucinde, und Paula's Erscheinung hätte so zu sagen jene Leibhaftigkeit gewonnen, die herausfordert. So blieb sie nur immer ein Bild, eine verkörperte Idee. Es durfte darum auch nicht auffallend erscheinen, daß die noch immer so reiche Erbin nicht von Freiern umgeben war. Paula konnte sich nur entweder selbst verschenken oder sie mußte verschenkt werden; ein Werben um sie, ein sie Liebenmüssen oder Liebenwollen schien bei einer so geistig vornehmen Natur in gewöhnlichen Kreisen kaum aufkommen zu können.

Vor dem Schlosse fand Bonaventura, wie um diese Zeit fast immer, eine Anzahl Wagen. Zu den vielen Rücksichten der Etikette gesellte sich die Neugier, die immer Nahrung fand. Auch war beim gestrigen Leichenbegängniß so vieles vorgefallen, worüber man seine Mittheilungen und Gedanken auszutauschen hatte; ja auch die neue Kunde war überall schon hinausgegangen, die Gräfin hätte aus der Ferne das Leichenbegängniß gesehen, hätte durch einen von ihrem Leib genommenen Rosenkranz ein Kind in Witoborn vom Tode gerettet. Auf den Treppenstufen 37 sah Bonaventura die Zahl der Gichtbrüchigen und Blinden und Hülfsbedürftigen wie sonst.

Armgart kam ihm entgegen und theilte den Harrenden Amulete aus, die Paula berührt hatte. Diejenigen unter seinen Arzeneien, deren Heilkraft verbürgt ist, kann ein Apotheker nicht mit größerer Zuversicht verabfolgen, als hier Armgart, nicht einmal vor Bonaventura mit Verlegenheit niederblickend, eine Anzahl kleiner Kissen austheilte, deren sie und die Stiftsdamen tagein tagaus verfertigten. Diese Kissen waren fingerlang, fingerdick, von weißer Seide, innen mit Baumwolle gefüttert, von außen bildeten lose und weite Stiche ein rothseidenes Kreuz. Paula berührte sie – und – sie sollten heilen – Armgart theilte diese Kissen aus mit einer Zuversicht, als müßte sie jeden Zweifel daran für teuflisch erklären. O gut, rief sie dazwischen dem Domherrn entgegen, daß Sie kommen! Paula schlummert! Reden Sie mit ihr! Alles steht erwartungsvoll! Sie spricht wie gestern! Aber da sie niemand zu fragen wagt, antwortet sie nicht zusammenhängend! Der Onkel verbietet andern das Fragen! Sie, Sie, Domherr, Sie könnten hier endlich einmal ein Machtwort sprechen –!

Bonaventura stand voll Zagen. Als Armgart die Leidenden entlassen hatte, ergriff sie seine Hände, von denen die eine, schon während er die Scene des Austheilens der Kissen beobachtete, ihres Handschuhs sich entledigt hatte. Halten Sie doch die Leiter, worauf Paula gen Himmel steigt! sagte sie, seine beiden Hände ergreifend. Warum thun Sie's nur nicht! Alles sehnt sich danach und niemand mehr als Paula selbst! Oder gab es vielleicht keine heilige Theresia, sah Franz von Assisi nicht den Himmel offen? Nicht die heilige Brigitta? Erleuchtete Gott nicht Katharina von Genua und gar erst die von Siena? Hören Sie, was Paula redet und fragen Sie dann ihren Genius selbst!

38 Was soll ich fragen! sprach Bonaventura wie gefangen. Alles war still umher. Herrschaften und Diener waren in den innern Gemächern und standen jedenfalls um Paula's Lager. Armgart hielt fort und fort seine Hände. Eine Handbewegung nur von Ihnen! Diese Ihre weiße Hand auf ihr Herz gelegt! Eine sanfte Frage nur von Ihrem Munde! O kommen Sie!

Armgart –! lehnte Bonaventura, ohnehin voll Mismuth gegen Armgart, ab; Armgart küßte ihm jetzt seine Hand. Fragen Sie nach meinem Vater! Nach meiner Mutter! sagte sie. Ob es wahr ist. daß sie jede Stunde hier eintreffen können! Fragen Sie, ob die Zukunft uns alle, alle – unglücklich machen wird.

Bonaventura blickte finster. Er hörte zwar im Geist die Worte des Herrn, der durch Prophetenmund, Joel 2, 28. 29, spricht. »Es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht der Herr, da will ich von meinem Geist über alles Fleisch ausgießen. Und euere Söhne und Töchter werden weissagen, euere Jünglinge werden Gesichte schauen und euern Aeltesten werden Traumgesichte erscheinen. Ja auch über meine Knechte und Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geiste ausgießen und sie werden weissagen« . . . Dennoch wollte er mit der Hand über Armgart's Stirn streichen und ihr sagen: »Mädchen, laß doch nur treu und wahrhaft dein eignes Herz reden und du hast deine Zukunft gewiß!« Nun aber ergriff Armgart blitzesschnell einen Ring an des Zögernden Hand. Es war der Trauring seiner Mutter, jener Ring, den der Onkel in dem Leichenhause des St.-Bernhard gefunden hatte, jener Ring, der als Erkennungsmittel vor dem entstellten Körper seines Vaters gelegen, derselbe von welchem Bonaventura, ähnlich wie Lucinde von Bickert's Schrift, gesagt hatte: In ihm liegt die ganze Lebensfrage unserer Kirche! Und noch ehe er wußte, was geschehen, hatte Armgart 39 den Ring ihm schon abgezogen und war mit ihrem Raube davongeeilt. Sie eilte in den Vorsaal, dessen Thür sie offen ließ.

Bonaventura. bestürzt über ein Vorhaben, das er nicht sofort begriff, folgte. Die wenigen Anwesenden grüßend, die aufgeregt im grünen Nebenzimmer standen, wandte er sich Armgart zu, die mit ihrer Eroberung noch eine Weile sinnend vor dem Onkel Levinus stand, als wollte sie von diesem erst die Erlaubniß haben, Paula mit dem Ringe zu magnetisiren. Dann aber, ohne Bonaventura's fragenden und zürnenden Blick zu erwidern, ging sie rasch durch die offenstehenden Thüren dem von der übrigen Zahl der Besucher schon umstandenen Schlummerlager Paula's zu. Es waren so viel Frauen zugegen, der Verkehr durch alle geöffneten Zimmer hindurch war so gehindert, daß Bonaventura's Eintreten die Aufmerksamkeit nicht sogleich fand, wie sonst. Aller Augen waren auf Paula gerichtet. Auch einige geistliche Herren aus Witoborn waren zugegen und drangen in Bonaventura, den andern zu folgen. Mit einer Empfindung, als wären die Engel vom Himmel anwesend, drängte sich alles dem Vorzimmer zu, das vor Paula's Schlafgemach lag.

Hier lag sie auf dem Ruhesopha. Die Vorhänge waren zurückgezogen; einige Stiftsdamen umstanden sie, Armgart kniete vor ihr, und eben steckte sie leise, nur von Bonaventura beobachtet, seinen blinkenden Raub an den Ringfinger der linken Hand Paula's. Teppiche milderten jedes Geräusch, das von den Bewegungen der Umstehenden hätte kommen können.

Paula schien in der That vor sich hin Reden zu murmeln. O das ist schön! sagte sie endlich vernehmbarer und ihr fieberhaft angehauchtes Antlitz begann zu lächeln. Sie schien die Annäherung eines magnetischen Rapportes zu fühlen, ja sie schien etwas Unsichtbares wie eine geistige Nahrung einzufangen. Wie wird es so licht und so hell jetzt . . . sagte sie plötzlich lauter und 40 wie begeistert. Von der Sonne! . . . Alles! Alles! . . . Auch ihr Leib ist Licht! . . . Die Lichttropfen gleiten ihr aus den Fingern.

Wem? fragten einige. Auch Bonaventura, mit wehmuthumschleierten Augen.

Onkel Levinus erläuterte mit gedämpfter Stimme und trotz der Gewöhnung an diese Erlebnisse erzitternd: Das wird heute wieder Hochschlaf! Immer, wenn sie den höhern Grad des Hellsehens erreicht, spricht sie von sich selbst wie von einer dritten Person! Es ist dann, als schritte ihr Geist aus dem Körper heraus, sodaß sie sich selbst sieht. Das Tröpfeln aus den Fingerspitzen ist dann der Anfang –

Jetzt bemerkte Tante Benigna den Ring an Paula's Finger, wagte aber keine Frage oder Einsprache zu thun und bangte nur, wie alle.

Paula schwieg eine Weile, als wartete sie das Entgleiten des elektrischen Fluidums aus ihren Fingerspitzen oder die weitere Annäherung Bonaventura's ab. Auch Terschka trat inzwischen zu den ängstlich Harrenden; er grüßte Bonaventura und Armgart, die er heute noch nicht gesehen hatte. Wie ist das so schön! fuhr Paula in kurzen Sätzen fort . . . Ach, die herrlichen Blumen! . . . Rosen um dunkle Cypressen! . . . Die gehen ja hoch hinauf, bis ins grüne Laub! . . . An den Blättern zittern Thautropfen, von der Sonne beschienen! . . . Die sanfte Datura! . . . Die stolze Magnolika! . . .

Der Onkel schaltete bedeutsam ein: Die absolute Wesenheit der Dinge! Erst kommt sie durch Blumen, dann durch bunte Ringe und Kreise! Es ist zuletzt die Welt des reinen Seins, ohne Zeit und Raum –!

Paula fuhr jedoch im Gegentheil fort: Ein herrliches Schloß! . . . Mit einer Fahne auf dem Thurm! . . . Wald und Berg! . . . Immer hört sie ein Glöcklein, das nicht aufhören will! . . .

41 Onkel Levinus sah sich um und deutete mit stummem Blick nach oben. Er wollte sagen: Sie hört die Harmonie der Sphären . . .

Hirten kommen aus den Thälern, fuhr Paula fort, und steigen zum grünen Wald hinauf! . . . Wie in der Kirche ist's unter den Bäumen! . . . Die Bäume werfen so lange Schatten! So lange! . . . So schimmern vor großen Kirchenfenstern die grünseidenen Vorhänge! . . .

Onkel Levinus lächelte die Geistlichen und die Damen an, als wollte er sagen: Die langen grünen Schatten sind die Urbilder der Dinge! Die ewigen Grundformen! . . . Und Tante Benigna bedauerte schon im stillen die Abwesenheit Püttmeyer's . . . Auch Thiebold's Abwesenheit, der zum Essen kommen sollte und durch die anwesenden Stiftsdamen abgesagt worden war, weil man heute ihn wieder, wie so oft, dort zurückbehalten hatte – zum Vierhändigspielen mit mindestens drei bis vier der Stiftsfräulein die Reihe herum – Armgart aber, die noch immer kniete, wandte ihren Kopf mit einem Bitteblick auf Bonaventura und langte mit dem Arme, als sollte er näher treten und Paula magnetisiren und sie ausdrücklich um ihre Anschauungen befragen.

Bonaventura stand in scheuer, schmerzlicher Befangenheit.

Paula aber that dem Onkel Levinus heute nicht den Gefallen, beim reinen Sein der Dinge stehen zu bleiben, sondern fuhr fort: Bienenstöcke sieht sie zwischen den mächtigen Bäumen! . . . Das sind Kastanienbäume! . . . Sie kennt sie! . . . Die blühen schon! Die rothen Pyramiden! Und die Mandelbäume, die blühten schon ab! . . . Die Bienen umschwärmen sie! . . . Und immer, immer läutet die Glocke . . . Nun sucht sie die Glocke . . . sie hängt an einem Ast der Bäume, dicht vor der Hütte von Moos –! . . .

42 Onkel Levinus schien betroffen, daß sich heute in der Sphäre des reinen Siderismus soviel tellurische Ueberbleibsel vorfanden.

Das ist ja fast – wie in – Italien! . . . bemerkte inzwischen Terschka . . .

Italien! . . . Dies Wort genügte den Damen im Grunde noch mehr, als das reine Sein . . . Was führte die Seherin nach Italien? . . . Paula konnte mit irdischen Augen bis nach Italien sehen –!

Die Messe liest er nicht! . . . sprach sie nach einer Weile, während alles lauschte und Onkel Levinus immer noch nicht an eine Versetzung der Anschauungen Paula's nach Italien, sondern nur ins Geisterreich glaubte . . . Mit ganz lauter und bestimmter Anrede fragte er die Schlummernde jetzt: Wer?

Der Eremit! antwortete Paula.

Sieht sie denn einen Eremiten? fuhr der Onkel fort, mit scharfer Betonung, etwa in der Art, wie ein Arzt mit einem Typhuskranken spricht.

Mit weißem Bart! antwortete Paula kindlichsten Gehorsams. Ein heiliger Gesang wallt herauf . . . Sie tragen Fahnen – . . .

Es ist eine Procession! wagte jetzt sogar ein Kanonikus aus Witoborn laut zu äußern. Vielleicht war auch er geneigt, eher an die Sphäre des reinen Seins, als an Italien zu glauben und in der Procession einen Beweis für die Rechtgläubigkeit – des Himmels zu finden.

Sie sieht keine Bilder, keine Fahnen . . . antwortete Paula. Sie kommen in der Hand mit Büchern . . . Größer sind sie als die Breviere . . . viel größer . . .

Triumphirend blickte der Onkel um sich. Die Geistlichen und die Frauen erhielten wieder einen Anhalt für das Jenseits; denn ohne Zweifel waren diese großen Bücher, wenn nicht die Gesetzestafeln des Moses selbst, doch wol die Schriften der Kirchenväter 43 oder riesige Missalien, die Paula in den Händen der rechtgläubigen, geisterhaften Gestalten sah.

Sie lesen in den Büchern! . . . fuhr die Schlafende fort . . . Der Mann mit dem weißen Barte erklärt sie . . . »Gott ist ein Geist«, spricht er, »und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!« O die sanfte Stimme! . . .

Bonaventura stand ohne Athem. Sein Blick fiel auf Terschka, der ihm voll Erstaunen zuflüsterte: Ich glaube die Gegend zu kennen . . .

All die Blumen, und die Käfer und die Bienen summen! . . . Wie grün ist das alles! . . . Smaragdgrün! Wie wenn sich in unserm Buchenpark die ersten Frühlingslauben wölben . . . Aber das sind nun Eichen! . . . Tief unten ist alles so milde, so weich und so sanft . . .

Wer ist der Redner? fragte Onkel Levinus scharf.

Die Frauen erwarteten keine andere Antwort, als: Gott der Herr selbst!

Sie kennt ihn nicht! . . . sagte Paula.

Das Sprechen in der dritten Person hatte etwas Gespenstisches, das niemanden mehr bewegte als Bonaventura. Armgart's fortgesetztes Bitten um seine Hand lehnte er ab. Armgart ergriff sie aber mit Gewalt und wollte ihn dem Lager näher ziehen. Bonaventura machte da in der That ein Kreuz über die ganze Länge der in schwarze Seide gekleideten, in rührender Halbbewußtlosigkeit daliegenden, fieberhaft angehauchten Gestalt der jungen Gräfin und trat wieder zurück.

»Herr, wie so lange säumst du!« sprach jetzt Paula mit erhöhter Kraft. »Auf, schlage ihn, denn das ist der Tag, an welchem der Herr hat übergeben deinen Feind in seine Hand!« Die Hand auf das Buch hält er! . . . Hält es hoch empor! . . . »Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin!« »Der Odem Gottes 44 weht über die Lande!« . . . Sie kann jetzt nichts mehr hören . . . Die Frauen weinen . . . Die Männer reichen sich die Hände . . . Jetzt – jetzt – Geht – ein Kelch – um . . .

Ein einziger Ton des Schreckens unterbrach Paula's Vision. Ein Kelch geht um? Das mußte eine Versammlung von Ketzern sein! So war die gemeinsame Empfindung.

Sie trinken alle daraus! fuhr Paula mit Bestimmtheit fort.

Einige der Frauen, die sich gesetzt hatten, erhoben sich. Andere, die noch gestanden hatten, mußten sich nach Sesseln umsehen. Die Geistlichen blickten fragend bald auf Bonaventura, bald auf den Onkel Levinus, der gewissermaßen für diese Dinge die Verantwortung zu übernehmen hatte.

Es ist, sagte Paula, nicht die Messe –

In Bonaventura's Innerm war es, als fühlte er die Erde unter sich wanken. Paula sprach gleichsam seine innersten Gedanken aus.

Das Buch ist die Bibel! sagte Paula . . .

Der Schrecken vermehrte sich.

Der schöne Pokal! . . . Von rothem Krystall . . . Wie Blut? . . . Ja, er sagt: »Noch wird es in Strömen fließen, bis deine Burg, o Herr, Zion, deine Zinne, erobert ist!« . . . Er ergreift den Kelch . . . Die Hand ist so weiß . . . wie der Schnee der Alpen . . . dort oben . . .

Längst zitterte schon in Bonaventura die Erinnerung an den geheimnißvollen Brief, den er empfangen, an die Einladung, einst unter den Eichen von Castellungo zu erscheinen, dort ein neues Märtyrerthum anzutreten, das der verbesserten Kirche. Und wie dann Paula selbst ihre eigene schöne weiße Hand emporhielt und zu aller Erstaunen sein Ring, der Trauring seiner Mutter, an ihrem Ringfinger blitzte, konnte er sein Herz nicht länger bewältigen. Aller Anwesenden uneingedenk, entsetzt über die 45 Vergleichung einer weißen Hand mit dem Alpenschnee und wieder doch neu beseelt von der frohen Hoffnung, daß sein Vater nicht in die Abgründe der Lavinen stürzte, nicht in der schauervollen Morgue des St.-Bernhard vermoderte, nicht auf dem Friedhof zu St.-Remy auf dem Wege nach Aosta begraben lag, wiederholte auch er die Frage: Wer ist der Redner?

Da schwieg anfangs Paula . . . Dann aber, zum Zeichen, daß sie Bonaventura's Stimme erkannt hatte, sagte sie, und sagte wie wonnig belebt vor Ueberraschung. Du fragst sie?

Alle – des Du's staunend – sahen auf Bonaventura.

Schon aber sprach Paula weiter. Es ist kein Greis! Weiß ist sein Haar, schneeweiß – aber seine Haltung noch wacker . . . Wer es ist? . . . Er ähnelt – dir!

Bonaventura zitterte. Armgart ergriff seinen Arm krampfhaft, doch überselig.

Paula fuhr fort: Seine Hütte gefällt ihr . . . Drüben aber liegt das Schloß . . . Die Fahne hat ihre Farben . . . ihr Wappen . . .

Wessen? fragte Terschka mit nicht mehr zurückzuhaltender Spannung.

Jetzt schwieg Paula. Dieser Stimme Ton störte sie. Aber sie hatte ja seine Frage schon beantwortet. »Ihre« Farben. »Ihr« Wappen –! Das waren die Farben und Wappen der Redenden selbst. Onkel Levinus deutete auf die Schlummernde und sagte mit stummer Geberde, die Schloßfahne trüge die Farben der Dorste-Camphausen.

Nun denn, dann ist es Schloß Castellungo, das sie sieht! sagte Terschka mit höchstem Erstaunen. Und der Eremit, das ist ein Deutscher, Namens Federigo! Ich kenne ihn sehr wohl! Eine religiöse Sekte, die von Gräfin Erdmuthe beschützt wird, hat sich wahrscheinlich gerade jetzt, wie so oft, dort um ihn 46 versammelt! Ich wäre in der That begierig, ob in diesem Augenblick, wo allerdings dort in dem schönen piemontesischen Thale schon der Frühling in vollster Blüte steht, eine der von der Gräfin geschützten Gottesverehrungen stattfände! Erfahren kann ich es und ich werde mich darum bemühen.

Terschka näherte sich dem Ruhebett. Paula betete aber jetzt. Sie sprach Worte, die minder auffallend klangen. Maria und die Heiligen fehlten nicht. Endlich schwieg sie ganz. Ein Reiz, sie noch aus ihrem beginnenden, nun wirklich naturgemäßen Schlummer wach zu rufen, konnte nur eine Grausamkeit unerlaubter Neugier sein. Die Tante winkte und deutete an, daß Paula der Ruhe bedürfte.

Die Frauen gingen zuerst. Die Geistlichen folgten. Onkel Levinus begann von Gräfin Erdmuthe und von ihren Reformen . . . Terschka entzog sich jedoch dem für seine Stellung bedenklichen Gespräch und blieb mit Armgart zurück, die ihn festhielt und sich von Castellungo erzählen ließ, über das eines Abends Benno und Thiebold so harmlos gesprochen hatten, sogar Porzia's dabei gedenkend, als einer Schülerin des Bruders Federigo und vielleicht einer künftigen Gattin Hedemann's. Die Möglichkeit, daß Paula nur eine Reproduction der Phantasie gegeben hatte, lag nahe. Terschka bewunderte dann nur, wie alles so richtig zutraf, und Armgart ihrerseits staunte und grübelte, warum gerade jetzt Paula auf diese Anschauung kam –! Sinnend und den Trauring betrachtend, den sie wieder zur Zurückgabe an den Domherrn an sich genommen hatte, ließ sie sich Castellungo so genau schildern, daß Terschka am Fenster hinter den Gardinen bei ihr stehen bleiben und flüstern mußte. Sie kehrten lange nicht zu den Uebrigen zurück.

Inzwischen war noch neuer Besuch gekommen. Durchbebte in diesem Moment Bonaventura die Vorstellung, daß seiner 47 Mutter Trauring es war, der diese Kette von Anschauungen veranlaßt hatte, gedachte er klopfenden Herzens seines Vaters, der vielleicht Bruder Federigo war, gedachte er der an ihn gerichteten lateinischen Einladung und fand in ihr eine Andeutung des väterlichen Unwillens über die Wahl seines Berufes und einen Drang der Sehnsucht des väterlichen Herzens auf ein Wiedersehen, dem eine Erörterung über die Ehe, als ein unauflösliches Sakrament der Kirche, nicht fehlen konnte – so mußte, um ihn in die höchste Verwirrung zu versetzen, jetzt noch hinzukommen, daß plötzlich de Regierungspräsident von Wittekind im grünen Zimmer stand, ihn begrüßte und ihm sagte: Ihre Mutter hab' ich mitgebracht!

Zuckte der Schmerz der gewissen Ueberzeugung in Bonaventura: Dein Vater lebt noch und entzog sich nur der Welt, weil unsere Kirche nicht scheidet –! so stand er jetzt dem Manne gegenüber, der die Hand einer Frau besaß, die seine Mutter war und die vielleicht in Bigamie lebte –! Der Präsident sprach, zum Onkel Levinus, zur Tante Benigna und zu Bonaventura zugleich gewandt: Ich fürchtete ihre Aufregung und ließ drüben eines der beheizten Fremdenzimmer aufschließen – Gehen Sie zu ihr, lieber Sohn, und begrüßen Sie sie erst unter vier Augen! . . .

Ihre Mutter erwartet Sie! mußte der Präsident dem halb Besinnungslosen noch einmal wiederholen. Sie ist gestern Abend angekommen! Wir suchten Sie eben im Pfarrhause auf und hörten, daß Sie hier sind – Die Sehnsucht der vortrefflichen Frau kannte keine Grenzen mehr! So fuhren wir hieher! Sie verlangt nach Ihnen! Machen Sie sie glücklich!

Bonaventura verließ das Zimmer, geführt von Tante Benigna und dem Onkel. Es war ihm, als durchschritte er das Reich der Geister. Er lebte da, wo vielleicht Paula jetzt noch in ihren stillen Träumen weilte.


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