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Murray, ein Engländer oder Amerikaner, las Kümmerlein; mittlerer Figur, schwarze Perrücke, eine seidene schwarze Binde über dem einen Auge, Mund fast zahnlos, Kleidung: abwechselnd, ganz ärmlich, bald ganz elegant. Geht etwas gebückt an einem Bambusrohr mit goldenem Knopfe. Selbst bei ärmlicher Kleidung sieht man zuweilen goldene Ketten an der Weste und Ringe am Finger. Alter: etwa sechzig Jahre, obgleich er bei eleganter Kleidung viel jünger aussieht. Im Falle zweideutigen Umganges zu verhaften.
Als Kümmerlein geendet hatte, mußte Mullrich bestätigen, daß Dies – er sagte es wenigstens – auch ganz ebenso auf seinem Papiere stünde, allein darin kamen sie überein, daß eine schwarze Binde am Auge ein gutes Gewissen verrathe...
Denn, sagte Mullrich, einen bunten Hund kennt Jeder.
Die den beiden Gerechtigkeitsdienern auf den Lippen schwebenden kleinen Rügen über Paxen's übermäßige Feinheit und seine Leidenschaft, es einem gewissen großen Polizeimanne, den sie nannten, gleich zu thun, verhallten im Lärmen des Saales. Denn als sie auf ihren Uhren drei anrücken sahen, begann wieder die Musik des Orchesters und das Rauschen des Tanzes.
Die große im Saale befindliche Uhr zeigte zwar die Stunde, schlug aber erst von vier Uhr an. Dies war eine eigenthümliche Speculation des Herrn Hitzreuter im Einverständnisse mit der Kapelle. Schlug es nämlich zwölf, eins, zwei, drei, so wurden die Besucher der Fortunabälle, die absichtlich nach der Uhr nicht sahen, doch in ihrem Taumel immer stutzig; sie fühlten sich gemahnt, zeitiger sich zu entfernen, als dem Besitzer lieb war. Von vier Uhr an aber wünschten Herr Hitzreuter und die Kapelle selbst, daß man ging. Daher wurde das Schlagen von zwölf, eins, zwei, drei verhindert. Mit vier aber fingen die Mahnungen zur Entfernung an und sogar die Angaben der Viertel dienten gewissermaßen als leise winkender Kehraus.
Eben wollten sich Mullrich und Kümmerlein wieder auf ihrer Sternwarte in die Sessel strecken, die eben nicht sehr bequem waren, und ein bischen »dämmern«, wie sie den diensterlaubten Halbschlaf nannten, als plötzlich an den Ausgangsthüren ein Drängen entstand...
Manche Paare hielten im Tanze inne und Mullrich fragte Kümmerlein:
Kümmerlein, heda! Hören Sie nicht schreien?
Schon aber hatten alle Tänzer, die den Saalthüren nahe standen, sich nach draußen gewandt. Denn ein so lauter Lärm, ein solches Rufen und Wehklagen konnte man vom Garten her vernehmen, daß die allgemeinste Neugierde geweckt wurde und diese sich allmälig Allen, auch den in den Logen befindlichen Zechern und Schmausern, mittheilte...
Mullrich kletterte die enge schmale Treppe hinunter, gefolgt von Kümmerlein, dem eine Einmischung in handgreifliche Händel immer unwillkommen war.
Setzen Sie sich nicht aus, rief er Mullrich nach, Sie wissen, daß wir nach Vier eine Recherche haben...
Mullrich ärgerte sich über den Umweg durch den Tunnel, der schon leerer geworden war. Denn Die, welche nicht tanzten, hielten sich nicht bis in den frühen Morgen auf. Sogar Frau Kathrine war zu Bett gegangen und hatte ihre Functionen einer andern weiblichen Bedienung überlassen und Peters war oben in den Logen beschäftigt.
Die Polizeidiener fanden im Garten ihr Einschreiten nicht mehr nöthig; denn schon hatten sich mehre ihrer Kameraden ihres Incognitos begeben und halfen einen jämmerlich zugerichteten Mann daher tragen, für den um einen Wagen gerufen wurde. Einige jüngere Leute gingen schreiend und fluchend neben ihm her, während eine Frauenstimme wehklagte und den Fortunabällen, wenn sie von Mördern überfallen werden könnten, den Untergang prophezeite.
Man erzählte dann, daß eine Anzahl junger Leute mit diesem Schwerverwundeten und Halberschlagenen einem Andern aufgelauert hätte, um ihn für irgend ein Vergehen zu züchtigen. Auf das Hülfegeschrei einer Frau aber wären über den Zaun, an dem Holzschuppen rechter Hand – man zeigte in dem aufgehenden Tageslichte nach jener Stelle – eine Menge Vermummter mit Stangen und Eisen erschienen, hätten jenen Bedrängten befreit, aber den wildesten seiner Gegner auch in dem Grade kampfunfähig gemacht, daß dieser schwerlich wieder aufkommen würde...
Den Verwundeten erkannte Mullrich sogleich.
Es war Dies der Kutscher des Justizraths Schlurck, Neumann mit dem Backenbart und den goldnen Ohrringen.
Die wildaufgeregte, schreiende Anklage kam von Jeannetten, die im Augenblick der Gefahr ihre Tändeleien nicht mehr durchführte und sich wohl vergegenwärtigte, wie ihre fast dreißig Jahre es ihr zur Pflicht machten, eine so solide Anhänglichkeit, wie die des Neumann, werth zu halten. Sie verwünschte bald die Feigheit der Reitknechte Lasally's, die wohl Jemanden überfallen, aber sich nicht vertheidigen könnten, wenn sie auf gefaßte Gegner stießen. Sie schwur der Rothen Rache, die Hackerten diesen Schutz hatte herbeizaubern können und war im ersten Zorn so heftig über Fränzchen Heunisch, die von ihrem Tänzer geführt wurde, hergefallen, daß diese vorzog, zu flüchten und sich umsomehr bald von Sandrart nach Hause begleiten zu lassen, als Louise Eisold und Hackert verschwunden schienen.
Der Oberkommissär Pax verschaffte sich, während man Neumann mit Wasser besprengte und in den Wagen trug, alle nur zu ermöglichenden näheren Angaben über die Begebenheit, war aber insofern schon völlig im Klaren, daß er den Angreifern sagte, ihnen wäre Recht geschehen. Seine Theilnahme für Hackert gab sich dabei vollkommen zu erkennen. Und von den sogenannten Vermummten hatte er die Überzeugung, daß Dies Maschinenarbeiter von Willing's Fabrik gewesen wären, am Zaune gelauscht und die Gewaltthat eben so gewaltthätig verhindert hätten. Auch er sah sich nach Hackert um, der ebenso wie der mehrfach erwähnte und ihm selbst aufgefallene, noch immer nicht demaskirte rothe Domino, verschwunden war.
Als die gleichfalls herbeigeeilten Kapellisten wieder an ihre Notenpulte lachend zurückkehrten und der Tanz aufs neue nun gerade erst bachanalischer als bisher begann, wollten auch die beiden Polizeidiener Mullrich und Kümmerlein wieder auf die Sternwarte. Pax aber rief ihnen nach und fragte wieder bei Seite:
Noch immer nichts von Nr. 2 gesehen?
Nicht ein Haar, Herr Oberkommissär.
Keine schwarze Binde überm Auge?
Nirgends; aber ein Franzose war da, Herr Oberkommissär. Nichts Verdächtiges an ihm bemerkt, als daß er französisch spricht.
Eine grüne Brille –?
Ein schwarzer Schnurrbart –
Es ist der Franzose nicht, der beobachtet werden sollte und doch hätt' ich gern erfahren, was hinter der grünen Brille steckt...
Herr Oberkommissär, sagte Kümmerlein, der suchte nichts als die Frauenzimmer!
Schien mir auch so, antwortete Pax lächelnd. Als ich ihm einige Male nachgegangen war und ein Gespräch anknüpfen wollte, verschwand er. Ganz geheuer ist es mit dieser grünen Brille nicht. Er schlich dem Sergeanten und dem blauen Mädchen nach. Aber die schwarze Binde! Man versicherte uns, sie ginge auf den Fortunaball... Nun gute Nacht! Ich gehe. Sie bleiben wol bis zu Ihrer Recherche?
Es geht nun in Einem hin!
Vergessen Sie nicht, die Gebrüder Wildungen aus Thüringen! Drei Treppen bei Frau Schievelbein.
Neustraße –
Was wir finden, geht mit...
Besonders ein Bild...
Abzuliefern an?
An Frau Ludmer, Kammerfrau der Geheimräthin von Harder.
Gut! Besorgen Sie das Alles mit der größten Pünktlichkeit! Nun, gute Nacht!
Damit verließ Oberkommissär Pax den Garten der Fortuna und seine getreuen Organe kehrten auf ihren früheren Standpunkt, die Sternwarte, zurück...
Wie sonderbar gleicht aber das Schicksal aus! Was dem Einen Quell der Leiden ist, wird dem Andern zum Quell der Freude! Wenn irgend etwas die Größe jener unparteiischen Gewalt, die unsichtbar über unsern Schicksalen thront, vergegenwärtigt, so ist es dieser vollkommene Widerspruch in Dem, was dem Einen nützt und zugleich dem Andern schadet, ein Widerspruch für uns, der aber für jene ewige Gewalt die eigentliche Seele ihrer Harmonie sein muß...
Eine solche Ahnung, nur nicht philosophisch ausgedrückt, lag im Auge des Kellners Peters, der in der großen Loge bediente und seinen Thüringern, die bei dem Lärmen zu spät gekommen waren, mit vertraulicher Miene zuraunte:
Eben ist der Kutscher des Justizraths Schlurck halbtodt vom Platze getragen worden. Vor sechs Wochen kommt der nicht wieder auf, wenn er je wieder eine Leine führen kann. Was meinen Sie, wenn ich mich morgen bei dem Justizrath melde – blos, daß ich diese gottverdammte Schürze und kurze Jacke ablegen darf?
Freier Phaethon, edler Sonnenlenker, thue Das! rief Siegbert, der sonderbarer Weise von dem Tumulte dieses Festes und Dankmar's Reiseerzählung mehr gesteigert war als der nachdenkliche Dankmar, den grade in diesem Tumulte Wehmuth und die ernste Mahnung an die Lösung einer großen Aufgabe, die er sich für eine edlere Welt gestellt hatte, still für sich überfiel.
Wirf sie ab, rief Siegbert und strich das blonde Haar aus dem erhitzten, schönen Antlitz, wirf sie ab die Tracht des dienenden Heloten! Werde wieder Freiherr von der Peitsche, Baron vom Sternenaufblick, Ritter zum Schellengeklingel! Schleudere sie hin den Hitzreuters die Speisekarte, die deines edlen Busens nicht würdig ist, Landsmann! Schatten Margo zu apportiren lasse Denen, die pudelhafter ihre Seele von einem Weibe verkaufen lassen! Pegasus im Joche, schwing' dich in die Lüfte und werde wieder, was du eher warst, ehe du wurdest, was du bist!
Peters machte Dankmarn ein Zeichen, als wollte er sagen, dem Bruder Maler hätte wol der Schatten Margo...
Zu viel Licht gegeben? Nein! antwortete Dankmar zur Ehrenrettung seines Bruders; es ist seine wirkliche Überzeugung! Wir bemitleiden dich, Peters! Morgen früh um neun Uhr klingl' ich an Schlurck's Hausthür. Wartet da auf mich! Hört Ihr! Wir bringen dann alle unsere Angelegenheiten in's Reine.
Herr Dankmar, wirklich – meinen Sie?
Er ist reich, – er kann sich ohne Kutscher nicht behelfen –
Dann bring' ich aber den Bello auch mit.
Bring' auch den Bello mit! Gegen vier brechen wir auf. Vier Stunden Schlaf ist genug für einen so tollen Tag wie den heutigen, auf den drei Nächte gehören, wenn man die verlornen Ruhestunden wett machen wollte! Wir wollten verdorbenes Volksleben studiren, Schmerzen in uns selber tödten! Für einmal und nicht wieder! Also um neun Uhr –
Mit Bello beim Justizrath!
Abgemacht! Wenn du Anwartschaft auf den Posten bekommst, Peters, trägst du mir den Schrein nach Haus? Nicht wahr? Oder wird er zu schwer auf deinen Schultern drücken...
Nein! Mein Gewissen erleichtern, sagte Peters fast mit verklärtem Blick und sah mit Ungeduld auf die Uhr, die nicht fortrücken wollte und trotzdem, daß schon der lichte Sommertag durch die Fenster graute, auf halb vier Uhr stand...
Die Zahl der tanzenden Paare hatte sich sehr gelichtet. Kümmerlein und Mullrich gähnten und schliefen halb und halb wieder auf ihren Stühlen ein...
Kaum mochten sie zehn Minuten »gedämmert« haben, als bei dem geringeren Toben der Menge es Mullrichen war, als wenn er an der Wand, die die Sternwarte von einer kleinen Loge dicht neben ihr trennte, ein Gespräch hörte, das laut, ja zankend war...
Sich sammelnd und aufrichtend horchte er und hörte leider nur den wilden Galopp, den jedoch kaum noch dreißig Paare tanzten. Er hätte sich gern umgebeugt und in die Loge eingesehen, allein der kluge Erbauer des Fortunasaales hatte es so eingerichtet, daß Niemand aus einer Loge in die andere lauschen konnte. Sehr geschmackvolle Stukkaturen und Bronzearbeiten waren an den Verbindungswänden zur Zierde des Saales angebracht. Man hätte sich weit über die Brüstung lehnen müssen, wenn man um die Karyatiden herumsehen wollte, die die Logen von einander trennten. Von der vollends etwas zurückgebauten »Sternwarte« war dies mit der zunächst anstoßenden sehr kleinen Loge durchaus nicht möglich.
Kaum hatte sich Mullrich wieder an die Verbindungswand gelehnt, als er ein jetzt plötzlich gar lautes und aufgeregtes Gespräch zu hören glaubte, jedoch nur von zwei streitenden Personen.
Er weckte Kümmerlein und machte, als sich dieser gesammelt hatte, ihm Gebehrden, auf die Wand zu merken.
Was ist denn? fragte dieser.
Hören Sie nur! Hier!
Beide legten ihr Ohr an die Verbindungswand, die die Sternwarte von der kleinen, ganz unbeachteten Loge trennte.
Was sie vernahmen, war ein grämliches Zanken zwischen einem wie es schien älteren Manne und einer jüngeren aber heiseren und tiefliegenden Frauenstimme.
Schweig, Maulwurf! sagte die Frauenstimme, was hab' ich von dem Glanz, wenn ich ihn nicht zeigen darf?
Eine fast grunzende, mürrische Stimme grämelte irgend etwas dagegen, was man nicht verstehen konnte.
Gold und Juwelen, fuhr die Frauenstimme maliciös fort, und in einem Käfig sitzen? Nein, lieber Wasser und Brot, aber Polka tanzen! Ich hab's satt – morgen gehst du oder ich.
Die Stimme des Alten murmelte oder brummte wieder etwas Unverständliches.
Fünf Tage, nicht drei! sagte die Frauenstimme, hörst du? Fünf, nicht drei! Dann thu' ichs! Was sind drei Tage? Oder nimm drei Tage, aber zwischen jedem einen von deinen mageren Tagen dazwischen? Hörst du? Nicht drei fette Tage hinter einander –
Hintereinander! war die jetzt verständliche, deutliche, entschiedene Antwort des alten Mannes.
Dann bleiben wir nicht zusammen, fuhr die Frauenstimme zornig fort. Drei Tage im Monate, hast du mir versprochen, mir so zu schenken, daß ich alle meine Vergnügungen und Wünsche befriedigen kann. Nun ja; ich habe gestern prächtige seidne Kleider bekommen, heute Juwelen und Gold und morgen soll ich mein wahres, mein echtes Bild haben, das ich wirklich bin und keine Andere...
Und gab ich heute nicht schon mehr? sagte jetzt deutlicher und mit gehobener Stimme der Mann, als du begehrtest? Ist dieser tolle Nachtschmaus, wo man sich vor dem anbrechenden Tageslichte schämen muß, nicht eine Zugabe zu den Juwelen und dem Golde? Ich sah überall in die Logen dieses Saales. Diese kleine, stille, verborgene ist die schönste. Hier sind Spiegel und weiche Polster! Hier duften Blumen und da hängen reizende Bilder! Du hast Fasanen gegessen, Champagner getrunken! Aber du weißt nichts zu würdigen. Im gierigen Genusse schlingst Du Alles hinunter und hast wie die Heißhungrigen erst dann einen Reiz dazu, wenn du es schon verzehrt hast...
Nun gut! sagte lachend die Frauenstimme. Diesen Fortunaball schenktest du mir auf den zweiten Tag als Zugabe; aber ich will tanzen, tanzen! Ich trinke hier Champagner, esse Eis und verzehre mich vor Gier, hinunter in den Saal zu dürfen. Sieh, Alter! Überall da unten sind meine Tänzer! Sieh den kleinen mit den feurigen Augen – erkennst du mich wohl – wenn ich – he Junge! He! He!
Willst du – bleibst du wol zurück! Tritt nicht leichtsinnig mit Füßen, was ein Freund liebevoll heute über dich häufte – –
Man hörte fast, daß die Hand des männlichen Sprechers die des weiblichen packte und zurückriß...
So komm mit! Ich will mit dir tanzen; Alter... mit dir! Ha, ha, ha, Komm –
Laß mich! Schäme dich!
So will ich nur einmal an deinem Arme durch den Saal schlendern. Sieh, es ist gleich drei Viertel auf vier. Um vier Uhr hast du den Wagen bestellt. Komm, schlendre mit mir durch den Saal, Brummbär!
Das Alles ist wider die Abrede, antwortete die Männerstimme. Diese Fortunabälle werden sich oft wiederholen. Es werden andere Feste kommen, wenn die Jahreszeit unfreundlicher wird und man die geselligen Vergnügungen sucht. Du hast dann wieder drei Tage des Glücks und der Verschwendung –
Und siebenundzwanzig der Armuth und Langenweile, der schrecklichsten Folter. Nein, Männchen, such' dir eine andere Närrin für deine Possen, ich kann arm sein, aber Langeweile haben und nicht – nein! nein!
Und nicht lieben, willst du sagen?
Ich sagt' es nicht!
Und doch ist es Das! Nur Männer, die dich küssen, willst du um dich.
Ich will nicht Männer, die mich küssen...
Du sagtest mir Das vor vierzehn Tagen, als ich dich im Elend, in der verworfensten Schande antraf, die Tochter eines Mannes, dem ich ewig verpflichtet bin. Hättest du mir gesagt, ich muß lieben, muß küssen und leichtsinnig sein, ich kann die Tugend nicht üben, so hätt' ich für dich gebetet – so aber sagtest du...
Ich habe nicht gelogen.
Nun denn, wenn du die Freude, das Vergnügen, die Pracht und die Trägheit liebst, warum siehst du nach dem kleinen Schwarzkopf mit den feurigen Augen –?
Er tanzt und du nicht! Komm, wenigstens durch den Saal müssen wir schlendern. Es ist gleich vier.
Wir sind ja nicht gebunden. Die Pferde warten...
Sie sind um vier Uhr bestellt...
Andre Wagen warten genug unten.. wir bezahlen beide...
Das kostet zuviel...
Was kümmert dich's, ob's an den drei Tagen deines Glückes mich etwas mehr kostet oder weniger?
Hier schwieg die Frauenstimme einen Augenblick.
Ihre heiseren Töne waren plötzlich sanfter geworden.
Mullrich machte Zeichen des größten Erstaunens und der unglaublichsten Überraschung.
Nun? fragte Kümmerlein flüsternd...
Da verwett' ich meinen Kopf...
Worauf denn?
Das ist Nr. 17!
Wo Nr. 17?
Nr. 17 aus unserm Hause... Die Maler-Guste...
Die nach Hamburg wollte?
Die und Hamburg! Horch... Wart'! Du sollst uns mit dem alten Spiegel und mit der Bettstelle und dem Waschlavoir – St! Stille!
Die ältere männliche Stimme begann wieder:
Sonderbar! sagte sie. Schon die ersten drei Tage sorgst du ja für mich, Mädchen! Bedenkst ja meine Kasse! Sieh! Sieh! Wirst ja häuslich, wirthschaftlich...
Ha, ha, ha, lachte spöttisch das Mädchen, bilde dir nichts ein, Männchen...
Ich wette, du lernst noch mit der Zeit dich in Manches fügen –
Die Zeit wird dir doch zu lang werden, Alter!
Glaub's nicht...
Wollen wir wetten? Ich wette gern...
Heute hast du eine Broche, zwei Armbänder, Ohrringe bekommen, ich schenkte dir ein Souper im Fortunaball als freiwillige Zugabe. Eine Wette spar' dir auf deine nächsten drei fetten Tage im September.
Die erleb' ich nicht mehr. In den siebenundzwanzig magern lauf' ich dir davon oder sterbe!
Bedenke, im Februar sind es nur fünfundzwanzig, wo du dich bezähmen und mit mir Erdäpfel essen sollst!
Nie! Nie! Ich gehe nach Hamburg!
Hier sprang Mullrich auf und sagte halblaut für sich:
Satan! Du bist's! Juwelen und Gold und Fasanen und sich malen lassen und mir läß'st du einen zerbrochenen Spiegel, eine lahme Bettstelle und ein Waschlavoir für drei Monate Hausschlüssel und alles Übrige? Kröte du!
Mit diesem kräftigen Worte, das alle seine Empfindungen und auch das systematische Bestreben, reich zu werden, wie Kümmerlein gesagt hatte, ausdrückte, faßte er Kümmerlein's Hand, um von diesem einen localkundigen Rath, irgend einen strategischen Angriffsplan auf die Nachbarloge zu hören.
Kümmerlein aber winkte ihm mit spähend aufgerissenen Augen und zeigte stumm auf die Wand, wo noch folgende Worte hörbar wurden:
Hör' Alter, sagte die Frauenstimme, wenn die drei fetten Tage im September kommen und ich sage an einem davon, wir gehen auf den Fortunaball und du mußt tanzen... so mußt du's auch. Das erfordert unser Contract.
So werd' ich tanzen, antwortete der Alte.
Ha, ha! Das lassen wir für Geld sehen...
Gelernt hab' ich's...
Das möcht' ich sehen; aber mit mir nicht! Man lacht uns aus...
Man lacht dich nicht aus, wenn du schöne Kleider trägst, von denen sie Alle wissen, daß ich sie dir schenkte...
O Das muß lustig sein, dich da unten hinken zu sehen. Komm! Es rückt auf vier. Thu' mir wenigstens den Gefallen und mach' noch einmal im Saale mit mir die Runde...
Um fünf!
Nein, wir fahren jetzt...
Warum jetzt schon...
Was die Stunde kostet, daß der Kutscher hält, dafür... dafür trink' ich morgen Chokolade.
Mädchen, weil du zu sparen anfängst, sagte der Alte lachend, will ich dir den Gefallen thun und einen Gang durch den Saal machen. Glücklicherweise sind die Logen fast leer und von den Tänzern nur noch ein paar Wilde da, die sich nicht zur Ruhe geben wollen! Führe mich, Auguste! Ich kann nicht gut sehen. Komm, Auguste!
Auguste! sagte Mullrich triumphirend.
Ich kann nicht gut sehen? fiel Kümmerlein ein.
Wer?
Der da!
Nun?
Nichts begriffen?
Es ist die Auguste, die mir für vier Monate...
Zum Henker, ja! Aber der Andre...
Was denn?
Kommen Sie, sagte Kümmerlein kopfschüttelnd über die Beschränktheit seines Collegen. Rasch! Der verdammte Tunnel! Es muß von hier noch eine Treppe gerade in den Saal hinunter gemacht werden. Wir machen einen Capitalfang. Ziehen Sie die Pfeife heraus, wenn Succurs nöthig ist...
Mullrich, der immer nur an Nr. 17 und die ihm schuldigen vier Thaler dachte, folgte verwundert dem klügern, an die schwarze Binde denkenden Kümmerlein...
Gerade aber fünf Minuten vor dem vollen Glockenschlag Vier begab sich unten im Saale der Fortuna folgende seltsame Scene:
Es war eben ein stürmischer Galopp, den man den Tarantelstich nannte, beendigt; die nur noch spärlichen Paare traten zurück und Manches rüstete sich, der tiefernsten, sittlicherhabenen Mahnung des durch die großen Fenster hereinschimmernden Tageslichtes zu folgen und nun still niederblickend heimzugehen. Die Kraft des zuströmenden Gases ließ in den Kronenleuchtern nach, ein unheimliches, gespenstisches Helldunkel verbreitete sich in dem staubigen Raume. Die vorhin noch so freundlich schimmernden Toiletten wurden plötzlich fahl und erschienen zerknittert, die Gesichter, eben noch prahlerisch, machten sich häßlich, alt, ja als ein Kronenleuchter plötzlich ganz verlöschte, war es, als spräche eine Geisterstimme plötzlich ein schauerliches Wort, das dem Feste noch vor der Zeit ein Ende zu machen schien.
In diesem Augenblicke stoben, vor einem seltsamen Anblick entsetzt, die Tänzer auseinander.
Die wenigen Tänzerinnen, die eben eiligst ihre Shawls und Hüte suchten, stießen ein ängstliches unterdrücktes Ach! aus.
Alles sah mit dem Ausdrucke des fragenden, unsichern Erstaunens nach einer Erscheinung hin, die, durch die große Hauptthür eintretend, erst Wenigen auffiel, dann Alle in Furcht und Schrecken versetzte.
Ein Tänzer, den Alle kannten, weil er sich als der Gewandteste, Witzigste, Ausgelassenste in ihren Reihen getummelt hatte, kam in zerrissenem Anzuge, verwilderten Kleidern, zerschlagenem Hute über dem röthlichen Haar, Staub und Gras an den Kleidern und Stiefeln, mit einem jener Lichter, wie man sie unter Glasglocken, die die Flamme schützen, in öffentlichen Gärten aufstellt, herein, feierlich schreitend, gespenstisch, mit geschlossenen Augen.
Hinter ihm die rothe Dame, die Allen aufgefallen war und noch immer ihre Maske trug.
Ängstlich besorgt folgte sie dem Wandelnden und hielt Alle, die von dem Anblick überrascht erst lachend, dann entsetzt stillstanden, zurück, den Finger auf den Mund legend und förmlich mit den Händen um Schonung und Mitleid flehend.
Die Musik begann nicht wieder.
Die Tänzer flohen von jeder Seite weg, wo der gespenstische Wanderer mit dem großen Windlichte daherkam.
Auch zu den wenigen noch besetzten Logen hinauf zischte man und erzwang Ruhe und allgemeine ängstliche Aufmerksamkeit.
Ein Nachtwandler! ging es mit flüsterndem Grauen durch die Reihen aller Anwesenden, die beklommen den Athem anhielten und nicht wußten, ob sie bestürzt sich entfernen oder das Ende dieses Zustandes und seine mögliche Entwickelung abwarten sollten.
Manche waren freilich so frivol gespannt, daß es ihnen das Liebste gewesen wäre, der Unglückliche hätte irgend ein gefährliches Unternehmen begonnen und eine Thatsache ihnen bestätigt, von der man allgemein wol viel erfährt, aber selten so günstige Gelegenheit findet, selbst von ihr etwas in Erfahrung zu bringen.
In diesem Augenblick schlug es voll vier...
Der Nachtwandler horchte auf und lächelte...
Er blieb stehen...
Seine schützende Begleiterin war in Verzweiflung, weil sie nicht wußte, was sie thun, was unterlassen sollte.
Indem setzt der Nachtwandler seinen großen Leuchter auf einen Tisch, sieht sich nach der Uhr um, schlägt, als wenn er die acht Klänge der Uhr wiederholte, acht mal mit der Hand langsam in die Luft und beugt sich bald nach rechts, bald nach links, als suchte er etwas.
Dabei lächelt er...
Dann nimmt er den Leuchter und gleichsam, als wenn er sich über Schlafende beugte, leuchtete er hin... bald hier, bald dort...
Die Begleiterin riß sich jetzt die Larve vom Gesicht; denn die Thränen rannen ihr aus dem Auge...
Alle starrten nach ihr hin...
Niemand kannte sie...
Dies Rathen und Forschen mehrte die Ängstlichkeit der Scene...
Was thut er? Was bedeuten diese Bewegungen der Hände, als wenn er ein Kind schaukelte...?
So sprachen die stummen Mienen der Umstehenden und forschten leise die weinende Fremde aus.
Diese verstand sehr wohl, daß der Unglückliche durch das Schlagen der Uhr an den alten Großvater Eisold in der Brandgasse und an dessen Urenkel, die Kinder, erinnert wurde und daß diese Gebehrde, die er in seinem träumenden Zustande machte, Scenen vorstellte, die sie oft zu ihrer innigen Freude erlebt hatte, wo der Bemitleidenswerthe auf milder, weicher und ihr zugewandter besserer Stimmung Abends kam, zu den schlafenden Kindern auf ihre Lagerstätten niederleuchtete und diesen eine gute von Engeln behütete Nacht wünschte.
Der Nachtwandler hielt das Licht und leuchtete auf den Boden und lächelte und die Flamme des Lichtes faßte bereits sengend seine eigenen zerfetzten Kleider...
Hackert! rief die Fremde jetzt vor Schreck und der Gefahr des Verbrennens und in ihrem überwältigten Gefühle stürzte sie auf diesen zu, dem aber schon ein muthigerer Zuschauer die Lampe aus der Hand riß und auf den Tisch stellte und ihn selbst auffangen wollte, wie er eben in Louisens Arme sank und sich schaudernd besann auf Das, was ihm eben geschehen war und noch geschah...
Alles kam näher; Alles wollte fragen, die Pein war furchtbar für Louise und Hackert, der sich in diesem Aufzuge unter allen diesen Menschen und in seinem Zustande sah...
Glücklicherweise dauerte diese Folterqual für Hackert und Louise nur eine Sekunde.
Denn im Nu erscholl ein gellender markdurchbohrender Pfiff.
Man sah sich um.
Die Polizei umringte eben jenen Mann, der Hackerten mit raschem Entschlusse das Licht aus der Hand gerissen hatte.
Es war Dies ein gebeugter, älterer Mann, sehr fein gekleidet, mit dunkler Perrücke und einer großen schwarzen Binde über dem rechten aufstarrenden Auge.
Auch ein junges, allgemein gekanntes Mädchen, Namens Auguste Ludmer, wurde mit ihm zugleich verhaftet. Die große, bildschöne, schlanke Figur war so reich gekleidet, so mit Gold und Edelsteinen geschmückt, daß Alle starrten. Der Grund dieses überraschenden Zwischenfalls konnte Niemandem auffallen. Der Mann mit der schwarzen Binde hatte auf Kümmerlein's einfache Frage: Sie sind Murray? einfach geantwortet:
Ich bin Murray.
Ruhig hatte er sich in sein Schicksal ergeben, während Auguste Ludmer, genannt die Maler-Guste, sich wie verrückt gebehrdete, halb wüthete, halb lachte und Mullrich mit den Worten anredete:
War Das ein Pfiff auf einem von deinen Hausschlüsseln? Pechdraht du! Diebsschlosser!
Das Sträuben des schönen, üppig geformten, an die Statüen der Griechinnen aus dem Zeitalter des Alexander erinnernden Mädchens half ihr aber nichts. Zwei Agenten, die Mullrich und Kümmerlein zu Hülfe gekommen waren, führten sie fort.
Mullrich aber und Kümmerlein nahmen den Mann mit der schwarzen Binde, der sich Murray nannte, in die Mitte.
Er ging ruhig lächelnd.
Hackert schlich am Arme des armen Mädchens, Louise Eisold, die die entstandene Aufregung benutzte um Hackerten fortzuziehen. Sie ging still und unscheinbar. Sie hatte den seidnen rothen Mantel über dem Arm, die Maske in der Hand.
Die Tänzer, die Flöten, die Geigen, die Posaunen folgten.
Die Gaslichter erloschen.
Der Fortunaball hatte ein Ende.