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Nachdem sich die Brüder Wildungen vor der Thür der Brandgasse Nr. 9 von Hackert kurz und kalt getrennt hatten und sie in einer andern Richtung den Weg nach ihrer Wohnung einschlugen, begann Dankmar sein Bedauern auszusprechen, daß dieser Abend so ganz anders enden mußte, als er ihn sich vorgestellt hatte.
Welche Vorwürfe mach' ich mir, sagte er, in dir wieder das Interesse für diesen deinen »Proletarier« geweckt zu haben! Gibt es einen erbärmlicheren, jämmerlicheren Gesellen! Und um eine solche verwahrloste, unsittliche, tollgewordene Natur führ' ich dich in diese Höhlen des Jammers und zeige dir, daß hier nicht blos Elend, sondern auch Lüge, Verstellung, Geiz, Schlemmerei, Nichtswürdigkeit und jedes Laster wohnt, wie wir es nur bei den Reichen und Gebildeten vorauszusetzen gewohnt sind.
Siegbert fühlte, daß ihm Dankmar seine Abneigung gegen die sogenannte »soziale Frage« zu verstehen geben wollte...
Das Bild des armen Mädchens mit ihren Geschwistern war aber doch rein und ungetrübt! sagte er, um sich des Dranges, dem Bruder beistimmen zu müssen, einigermaßen zu erwehren.
Ich weiß nicht, antwortete Dankmar. Auch diese Farben werden mir vor den Augen grau. Wir gingen gewiß nicht ohne Grund von der Voraussetzung aus, daß Louise für diesen Miethsbewohner ein warmes, menschliches Interesse hegt und wenn sie an einer solchen bizarren, krampfhaften und lieblosen Persönlichkeit Gefallen findet, so vermiss' ich dabei Alles, was mir diese Empfindung achtbar und ehrenwerth erscheinen läßt.
Wir gingen vielleicht schon darin zu weit, eine solche Beziehung vorauszusetzen, sagte Siegbert. Von Hackert's Seite schien irgend eine Rücksicht auf seine Nachbarin gar nicht angenommen zu werden, und es war mehr sein Übermuth und seine Spottlust, daß er der Verdächtigung des Mädchens durch den alten hämisch schleichenden Bartusch, wie du ihn nennst, die Strafe auferlegte, uns in seinem Zimmer zu finden. Auch hatte ihm dieser eine Mittheilung im Vertrauen zu machen, wodurch mir seine Herbeiführung des Alten in ganz anderm Lichte erscheint, als wenn ich annehmen müßte, er hätte für die Ehre seiner Nachbarin eintreten wollen.
Bei alledem bin ich erstaunt, sagte Dankmar, indem sie die Brandgasse verließen, wie Hackert Lasally's so gewiß sein kann! Wer hat ihm die Versicherung gegeben, daß keine Anklage stattfinden wird? Noch vor wenig Stunden fand ich jenen Mann auf's Äußerste erbittert.
Wenn du eingestehst, daß hier etwas räthselhaft ist, bemerkte Siegbert, so möcht' ich noch, um den fatalen Eindruck der eben erlebten Scene zu mildern, hinzufügen, daß sie uns doch wol nur als eine neue Bestätigung der Wahrheit dienen kann, wie im Grunde jeder Mensch nach seinem eignen Standpunkte beurtheilt werden muß. Wir haben uns über diesen Hackert in so vielerlei, theilweise sich sogar widersprechende Empfindungen hineinraisonnirt, daß wir gleichsam mit Gewalt verlangen, sein Charakter müsse nun auch allen Voraussetzungen, die wir von ihm haben, entsprechen. Wir dachten uns nach den Prämissen des Vormittags am Abend eine rührende Scene. Ein unglücklicher Nachtwandler, in Gefahr, für eine böse, rachsüchtige Handlung, die er längst zu bereuen scheint, bestraft zu werden, wird uns seine Geschichte erzählen. Man ist auf diesen Empfang vorbereitet.. Da stehen Tassen und siedendes Theewasser, ich esse schon im voraus den für diese gemüthliche Scene bestimmten Braten und nun kommt der Hauptheld, ein völlig anderer, alle unsere Ideen durch den tollsten Rückfall in eine uns nicht homogene Natur durchkreuzend! An wem liegt da mehr die Schuld? An unserer Kurzsichtigkeit oder an dem wunderlichen Charakter, dessen rechten Schwerpunkt, dessen eigentlichen Schlüssel wir noch nicht entdeckt haben?
Dein milder Sinn ist auf dem bestem Wege, sich diesem Taugenichts unterzuordnen, sagte Dankmar. Dieser Hallunk weiß, daß wir die Absicht hatten, zu ihm zu kommen und benimmt sich wie ein Gentleman, der sich nicht einmal entschuldigt, wenn Andere auf ihn warten –
Der Thee und der Braten waren leider nur eine Idee des Mädchens –
Gut! sagte Dankmar. Ich werfe den Unglücklichen zu jenen immer nur als halbfertig erscheinenden Menschen, die im Unglück feige winseln und im Glücke sich hochfahrend übernehmen. Es fehlt ihm die Herrschaft des Geistes über sich selbst. Es ist der Mensch des thierischen Instinktes. Und ist Hackert nicht eigentlich der Ausdruck des Volkes selbst? Jammervoll genug, daß man eingestehen muß, wir malen uns den Charakter der Massen ganz anders, als sie sind! Nimm den Bauer; wie tückisch, wie hämisch, wie kurzsichtig, wie verschlagen! Nimm die halbe Bildung; wie eitel, wie prahlerisch, wie lügnerisch, wie falsch! Wir pinseln uns etwas vor vom Volke. Es ist nicht so, wie es die Touristen und Genremaler geben wollen. Die treueste Magd, die ganz Liebe und Hingebung für ihre Herrschaft scheint, pruhstet wie eine Katze auf, wenn ihr »Weihnachten« zu gering ausfällt. Egoismus regiert Alle und ich stelle mir eigentlich als Politiker die Aufgabe, Hackerten für das schwankende, unreife, halbfertige, oft großartige, dann wieder kleinliche, bald herausfordernde, bald feige, bald rührende, bald abstoßende, bald poetische, bald prosaische, nachtwandelnde, ahnungsvolle und am Tage geistig verschlafene Volk zu nehmen und mir zu sagen: Wie bändigt man das? Wie bessert man das? Doch sprechen wir nicht mehr von ihm.
Die Brüder waren eben im Begriff, am Schlurck'schen Hause vorüber zu gehen, an dem man Alles still und dunkel sah mit Ausnahme eines einzigen kleinen Fensters im dritten Stock...
Es war vielleicht Melanie's Schlafzimmer...
Und wenn sie sich täuschten – eher mochte es das Zimmer Bartusch's sein, wo auf dessen Rückkehr eine brennende Lampe wartete – sie blieben doch einige Augenblicke voll Wehmuth stehen und gedachten aller Täuschungen ihres heute so mannichfach geprüften Herzens...
Dann gingen sie seufzend weiter.
Bei alledem, sagte Dankmar nach einer Weile, während sie die schon leeren Straßen durchschritten, ist es mir lieb, von diesem Graurock die Bestätigung jener Angabe über meinen Schrein zu hören, die ich dem Prinzen Egon verdanke – Morgen in aller Frühe geh' ich – doch ich rede von Dingen, die ich dir nun mittheilen sollte, wüßte ich nur an der rechten Stelle anzufangen –
Bleib bei dem Prinzen Egon, sagte Siegbert. Denn auch ich habe eine Beziehung zu ihm. Sie betrifft das Bild, das du mir zu sorgsamerer Obhut empfohlen hast...
Das Bild – und du? antwortete Dankmar erstaunt.
Während die Brüder über die stillen Straßen gingen, erzählte Siegbert seine Berührung mit Rudhard, dessen Anliegen und eigenthümliche Ansprüche auf jenes Bild, über das sich Siegbert hütete nach seinen eignen Entdeckungen zu sprechen. Denn da ihm doch daran lag, seinem innern Triebe zu folgen und die Übergabe des Bildes an Egon's Lehrer und Erzieher wirklich zu vermitteln, so nahm er sich wohl in Acht, seinen in solchen Fragen nicht wie er besonders bedenklichen Bruder darauf aufmerksam zu machen, daß er das Geheimniß wirklich entdeckt, ja sogar Enthüllungen über ihre eigene Familie gefunden hätte. Verräthst du davon etwas, dachte er, so wird Dankmar Anstand nehmen, durch freiwilliges Herausgeben Das wieder gut zu machen, was Rudhard in seinen Ansprüchen auf jene Prüfung und Mitwissenschaft eigentlich doch wol verscherzt hat.
Vor dem Egon'schen Palais stand ein kleiner Einspänner. Dankmar noch ganz erfüllt von der sonderbaren Wendung, die das Schicksal jenes Bildes plötzlich nehmen sollte, fragte den Kutscher, ob er nichts von dem Befinden des jungen Prinzen melden könnte.
Dieser gab die kurze Antwort, er stünde hier nur, um zwei Damen auf den Fortunaball zu fahren...
Der Blick auf die Wäsämskoi'sche Familie, auf die Ankunft der d'Azimont, Alles, was Siegbert über Rudhard, über Anna von Harder erzählen konnte, regte Dankmarn so auf, daß er statt heiter eher verdrüßlich wurde.
Welche Last, rief er halb scherzhaft, halb wirklich unwillig aus, welches Bleigewicht bindet uns das Schicksal an die Füße und hindert uns im eigenen Gehen! Ich wüßte nur zwei Dinge, die mich wahrhaft erfreuen und beschäftigen sollten, meine Angeroder Papiere zurückzufordern und jenen Amerikaner und seinen Knaben aufzusuchen, die, ich weiß es, an mir das wärmste Interesse nehmen und von allen diesen Vorsätzen, die meinem Herzen am nächsten liegen, ziehen mich die starken Seile immer neuer Verwickelungen ab! Wie froh bin ich, daß ich in vergangener Nacht so eisern geschlafen habe! Denn die Aussicht, morgen jenen Rudhard zu begrüßen, von dem ich des Guten soviel erfuhr, ihm getrost jenes Bild zu überlassen, an das sich mir das hoffentlich in kurzer Zeit mögliche Wiedersehen des unstreitig ächten aber mit den fabelhaftesten Räthseln umsponnenen Prinzen knüpfen wird, das Alles läßt mir keine Ruhe und ich sehe, ich werde mich unschlüssig und innerlichst gepeinigt auf dem Lager hin- und herwerfen. Wie verwünsch' ich diesen Hackert! Wie ein Irrlicht hat er mich heute von meinem vorgezeichneten Wege verlockt, und wenn ich ihm auch verdanke, daß ich über die Nacht im Heidekruge einiges Licht erhielt –
Sei still, Bruder! unterbrach ihn Siegbert scherzend. Aus dem einen Irrlicht werden hundert! Ich glaube nicht, daß wir dem bunten Schimmer da unten in der neuen Feldstraße werden ausweichen können. Sieh nur, wie die Menschen dort hinströmen und die Wagen fahren! Das ist die Fortuna, bunt erleuchtet mit chinesischen Ballons! Ich erlebe, daß wir mit in den Strudel gerathen, uns am Eingang des Gartens ein Billet kaufen und das venetianische Maskenfest, wie es an allen Straßenecken angekündigt ist, auf eine Viertelstunde näher mit in Augenschein nehmen.
Dankmar konnte in der That nicht umhin, den verlockenden Reiz dieses bunten nächtlichen Prospektes am noch weit entlegenen Ende der neuen Feldstraße anzuerkennen...
Diese vergnügungssüchtige Bevölkerung! schmähte er. Sie werfen den Sommer in den Winter und den Winter in den Sommer! Die Politik hatte alle Meinungen gespalten und ein erfinderischer Unternehmer weiß sie alle wieder um bunte Lampen und die Polkaklänge der Blechmusik zu versammeln. Pfui! Sieh diese kichernden Mädchen, die ihre Larven in den Händen tragen! Wollt Ihr auch auf der Kugel der Fortuna tanzen, Ihr Schmetterlinge! Der Tanz auf einer Kugel ist schwer –
Immer rund – rund – rund! antwortete ein Trupp von einem halben Dutzend »Nähterinnen«, die ihre luftigen Röcke höher gebunden hatten, damit sie nicht den Staub der Straße fegten...
Der Umweg zu unserer Frau Schievelbein, die seit einiger Zeit mein Schwärmen gewohnt ist, sagte Siegbert, wird nicht zu groß sein. Sehen wir wenigstens einmal von außen diesen Tempel der Freude an und finden wir einen Ruheplatz, so schüttest du vielleicht endlich dein Herz aus und erzählst mir die Hohenberger Reise!
Die Brüder lenkten seitwärts in die neue Feldgasse ein, die sich fast unabsehbar in die Länge zog und am äußersten Ende, dicht beim Thore schon, die besuchtesten Vergnügungsörter der Stadt enthielt.
Die Fortuna war das neueste und größte Etablissement dieser Art. Der Schein-Besitzer desselben, ein bankrotter Kaufmann, war ein anschlägiger Kopf, der den Charakter der genußsüchtigen Bevölkerung zu treffen wußte und mit bunten Straßenplacaten und den wunderlichsten Namen für seine Festivitäten die Vergnügungslust immer in Athem erhielt. Seine neue Anlage, die Fortuna, war nach englischem Muster gebaut. Hier fanden sich Gärten und Säle, Galerieen, Logen, von denen man in die Säle hinabblickte, Tunnels, Schaukeln, Carrousels, Rutschberge, kurz eine ganze kleine Welt, die, so lange kein anderes Etablissement dieses neue verdrängte, in der Vogue war.
Das für heute angesagte große venetianische Maskenfest im Freien fand trotz der allgemeinen Klage über die bedrängten Zeiten und die Unsicherheit der Zustände den lebhaftesten Zuspruch. Eine Menge von Wagen standen vor dem Eingang, den helle Gasflammen magisch erleuchteten. Die goldene Kugel, die auf der Fortuna über dem Eingange schwebte, schimmerte im blendendsten Lichte. Von etwa aussteigenden Charaktermasken war keine Rede. Ein Jeder kam in seiner üblichen Toilette. Nur die Spekulation des Wirthes verband mit dem niedrigen Eintrittspreise noch die Nothwendigkeit, daß sich Jeder eine Maske kaufen mußte. Bis zwölf Uhr sollte Jeder maskirt sein, worauf jedoch nur an der zweiten Einlaßthür festbestanden wurde. Jeder Unmaskirte mußte zurück oder sich mindestens eine Wange oder eine Nase kaufen. Der Polizei war mit dieser Verordnung wie überhaupt mit den Fortunabällen sehr gedient. Sie lockte alle Gauner aus ihren Spelunken. Da sie maskirt kommen durften, blieben die, die ihr Signalement fürchteten, nicht zurück. Wenn die Vergnügungslust nicht schon von selbst die Fallen aufstellte, wo die meisten Verdächtigen gefangen wurden, sie hätten müssen vom Staate im Interesse der öffentlichen Sicherheit aufgestellt werden. Ohne die Unmoralität soll leider die Moral nicht bestehen können.
Das Gewirre der Wägen vor der Pforte, das Geschwirre der luftigen Vögel, die unter Fortunens goldner Kugel in die bunterleuchteten Gärten einzogen, das Schreien der Jungen, die die Wägen öffneten, die schmetternden Trompeten und die Paukenwirbel der Ballmusik, alles Das gab so sehr ein den Begriff der Nacht und das Bedürfniß nächtlicher Ruhe verscheuchendes Durcheinander, daß die Brüder fast willenlos mit in die allgemeine Strömung geriethen und an der Kasse ein Billet, in der Garderobe zwei Stirnen und Nasen mit großen schwarzen Schnurrbärten kauften und beschlossen, sich einen stillen Gartenplatz zu suchen. Der Frack war hier keine Nothwendigkeit und die Glacéehandschuhe mußten schon der drückenden Hitze weichen.
Ah bah! Holen wir unser Grün'sches Diner nach! sagte Dankmar heiter erregt. Was plagen wir uns! Vive la bagatelle! Ich erzähle dir meine Hohenberger Abenteuer.
Siegbert dagegen fühlte sich in dem Menschenstrom beengt und lächelte etwas zaghaft, was ihm, wie Dankmar ihm sehr glaubwürdig versicherte, unter der gewaltigen Nase mit den schwarzen Pferdehaaren philisterhaft komisch stand.
Eine so neue Gartenanlage konnte natürlich nur sehr dürftig sein. Die Beete boten verwelkte Blumen und zertretenes Gras. Wo die Bäume hätten schatten sollen, waren leinene Zeltdächer aufgespannt. Aber die schimmernden, grünen, rothen, gelben Ballons gaben aller Dürftigkeit ein freundlicheres Ansehen. Eine Grotte von Blumen, berieselt von einem Wasserfall und erleuchtet von einer großen Sonne aus einigen hundert Lampen, machte in der That einen grandiosen Effekt und verdiente das Staunen, das sich auf den Rembrandtisch erleuchteten Gesichtern, die herumstanden, rings zu erkennen gab. Rechts und links führte der Garten in dunklere Partien, die nicht minder belebt waren und wie man hörte, im zweiten Theile des Festes ganz besonders gesucht sein sollten. Geradeaus führten Stufen, die links und rechts von Candelabern erleuchtet waren, zu einem wirklich im Lichte schwimmenden brillanten gewaltigen Tanzsaale, wo sich Hundert von Paaren schon in wildem Galopp tummelten und die rauschendste Blechmusik schmetternd von den Wänden widerhallte.
Hierher also zog es Hackerten! sagte Siegbert, indem er auf den ersten Blick gleich nach ihm suchte. Kein Wunder, daß es ihm hier mehr gefällt als im vergitterten Galeriezimmer des dritten Hofes Brandgasse Nr. 9, neben einer Stube schnarchender Kinder und den gespenstischen Uhrschlägen, die an die schnellverrinnende Zeit und an den Tod erinnern.
Auch Dankmar hatte Hackerten noch nicht gesehen. Hier und dort fesselte ihn eine Bekanntschaft; da ein Offizier in Civil, hier ein junger Advokat, dort sogar ein junger Gelehrter, der durch die Brille mit zusammengekniffenen Augen lächelnd über die wilden Massen objektiv philosophirte. Siegbert fand einige Maler, die da behaupteten, Modelle zu suchen. Die Mehrzahl aber gehörte der dienenden und arbeitenden Klasse an. Hier war die Frage vom Proletariat zwar nicht gelöst oder widerlegt, aber doch eine Weile suspendirt.
Was dein Franzose Louis Armand wol über einen solchen Ball sagte? flüsterte Dankmar dem Bruder zu. Ich fürchte, er sieht in diesen Polkas und Cotillons die bloße Desperation der arbeitenden Klassen.
Siegbert, statt darauf zu antworten, zeigte dem Bruder die geschmackvolle pompejanische Malerei des Saales, die hübsche Einrichtung der Logen, durch die man durch versteckte Hintertreppen gelangte, das wirklich Gefällige und Kunstgerechte, das sich heutiges Tages bis in die gewöhnlichsten Bauten erstreckt und den, freilich auch bedenklichen Schönheitssinn der Massen nur entwickeln kann.
Die Hitze war indessen hier trotz der geöffneten Thüren und Fenster so erstickend, daß die Brüder wieder in den Garten zurückkehrten und sich ernstlich nach einem Plätzchen umsahen, wo sie einigermaßen ungestört sich unterhalten konnten. Sie fanden ein solches, wenn auch ziemlich entlegen, in jenen unheimlichen düstern Regionen, wo nur die Liebenden sich wohlbefanden. Die Trompeten und Pauken dröhnten hier nicht mehr so ohrenerschütternd herüber. Es war ein einfacher Tisch, den sie fanden, mit zwei Stühlen an einem vielleicht erst vor einigen Monaten eingesetzten Apfelbaum, der vielleicht noch nicht zwei Blüten getragen hatte, aber ein Stachelbeerstrauch bot doch eine Art Rückwand und vor allen Dingen man konnte hier sein eigenes Wort verstehen.
Wollte Siegbert eben die Bemerkung machen, es käme ihm hier vor wie an der Kegelbahn im Pelikan, so mußte Dankmar's Zustimmung zu dieser Vergleichung um so treffender sein, als die Brüder zu ihrem größten Erstaunen in dem Kellner, den sie anriefen, ihnen Wein und die Speisekarte zu bringen, Niemanden anders erkannten als den leiblichen Ehegatten der Kathrine Bollweiler aus dem Pelikan, den Angeroder Fuhrmann Peters!
Aber Peters, ist es denn möglich, Sie hier? riefen die Brüder.
Ach, du mein Himmel! war Peters' ganze auf den Lippen ersterbende Antwort.
Sie hier in der kurzen Kellnerjacke? Was ist Das? sagte Dankmar lachend.
Ja! Ja! stammelte Peters. Was ist Das? So heißt's immer auf die zehn Gebote. Und die zehn Gebote hab' ich immer perfekt gekonnt; aber beim Was ist Das? Da hab' ich immer gestockt. Ja, ja! Was ist Das?
Peters, Sie sind melancholisch? Freuen Sie sich denn nicht, daß ich da bin? Sagte Ihnen denn Hitzreuter, der dicke Pelikanwirth, daß Alles in Ordnung ist? Wo waren Sie denn gestern?
Gestern wo ich heute bin!
Sie sind Kellner in der Fortuna geworden! Ist es möglich! Wie hängt Das zusammen? Haben Sie denn den Bello noch erkannt?
Lahm ist lahm und hier soll Einer flink sein...
Peters Aufwärter auf dem Fortunaball! Aber wo ist denn die Kathrine?
Unten im Tunnel!
Im Tunnel? Peters, ich glaube wir träumen oder den Pelikan hat man hier in die Fortuna verlegt...
Der Pelikan ist ein Thier, das sich die Brust aufreißt für seine Jungen, fiel Siegbert ein. Sie haben ja keine Kinder, Peters! Wie kommen Sie...
Der Pelikan vorm Tempelheider Thor hat sich auch die Brust aufgerissen, aber für seinen Bruder... sagte Peters mit einer sonderbaren Melancholie.
Aufklärung, Peters! Das ist uns zu gelehrt! Zuviel Fuhrmannslatein!
Mein Dicker hat das Geld hergeliehen für einen neuen dummen Streich, den sein Bruder macht – erklärte Peters.
Ist Hitzreuter der Bruder des Hitz – Ah! Richtig! – Sind die Hitzreuter's Brüder?
Das sehen Sie ja! Wo soll das Geld herkommen für die Fortuna? Der Pelikan hat auf die goldene Kugel da vorn eine Hypothek von fünftausend Thalern.
Und auf dieser Kugel rollte auch die Kathrine in den Tunnel und Peters –
In die Marqueurjacke! sagte Peters tiefaufseufzend mit einem schmerzzerrissenen Blick zum Sternenhimmel.
Aber das scheint Ihnen nicht zu behagen, Peters? Kein Wort über Bello? Nichts von dem Schrein? Keine Frage nach Euren ehrlichen Zeck's? Peters, was habt Ihr?
Was ich habe, ist Alles eins; aber Sie haben den Schrein und dafür bin ich auf die Knie gefallen und habe Gott und allen himmlischen Heerscharen gedankt.
Ja, Peters, wir wissen wenigstens, wer den Schrein gefunden hat. Der Justizrath Schlurck hat ihn gefunden und morgen am Tage wird er in unser Palais gefahren.
Hört' ich Alles schon vom Hitzreuter; aber wie der Justizrath ihn hat finden können –
Ist Euch nicht klar, Peters? Auch mir noch nicht. Aber gesteht nur, eine Achse, die Einem vor der Nase bricht und ein Rad, das Einem auf den Kopf fällt, nimmt die Sinne – Ihr hattet sie alle fünf verloren.
Mag wol! Ich war elend und mocht's nicht sagen. Es war meine letzte Fahrt.. Angerode seh' ich nicht wieder und Das muß ein Glück sein. Fortuna ist ja wol die Glückshexe – was?
Richtig verdeutscht! Nicht mehr und nicht weniger. Aber zum Glück macht man kein so saures Gesicht wie Ihr?
Und Siegbert, der wohl verstand, was den Armen in der Jacke drückte und dem als Maler die Poesie des deutschen Fuhrmannslebens gegenwärtig war, setzte zu diesen Worten Dankmar's hinzu:
Ihr wäret lieber Fuhrmann geblieben? Das seh' ich, Peters.
Das möcht's wol sein, entgegnete Peters mit einem sichtlichen Ausdruck von verbissenem Kummer. O die liebe Zeit! Ich schäme mich!...
Nach einem aus tiefster Brust gezogenen Seufzer fragte er die Herren, was sie denn nun »schafften«? und zog dabei mit einer Art von stiller Wehmuth langsam und wie verstohlen den Speisezettel aus der Brusttasche.
Dankmar fand dies Bild sehr komisch.
Peters, begann er, wenn Sie diesen Beruf wider Ihren Willen ergriffen haben – setzen Sie sich doch! Sagen Sie uns doch –
Du mein Himmel, ich setzen? Wie darf ich mich unterstehen und mich hierher setzen?
Seit wann treiben Sie denn dies Ihren Wünschen nichtentsprechende Metier?
Erst seit drei Tagen. Die Fuhren zwischen hier und Angerode hören auf! Die Ausspannung im Pelikan ist nicht mehr der Rede werth; der dicke Hitzreuter hat Das so mit seinem Bruder abgemacht und wenn ich's auch nicht wollte, die Kathrine will's.
Die Kathrine! Die will's? Peters, Ihr ein Fuhrmann, ein Freiherr der Landstraße, Besitzer einer sechssträhnigen Peitsche – und die Kathrine will's?
Das ist wahr! Freiherr war ich! Wenn ich mit meinen Gäulen auf der Landstraße fuhr, die Dörfer schon von fern mit meiner Peitsche grüßte, wenn der Schmied schielend und prüfend auf meine Räder sah und ich mit dem Schellengeklingel der Pferde, die mit ihren ledernen Kummten ordentlich den Kopf schüttelten und Nichts! sagten, ich auch Nichts! sagte und Alles stolz und solid und im besten Geschirr war –
Bis einmal eine Achse brach und ein gewisser Schrein gestohlen wurde – fuhr Dankmar humoristisch fort.
Ja, Das war meine letzte Fahrt! Ich wußt' es nicht, aber keine Schraube war mehr in Ordnung: am Wagen nicht und im Kopf nicht. Ich wußte nicht, was ich hinfort nun noch im Leben soll und hätt' ich ahnen können, daß mir mein Gevatter Hitzreuter diese Jacke anziehen würde, wer weiß –
Aber bester Freund, sagte Dankmar, Ihr Ehrgeiz ist höchst achtungswerth, theilt ihn denn Ihre Frau nicht?
Meine Frau! sagte Peters ergrimmt... Heute Vormittag wollt' ich Sie ja einmal besuchen...
Schön! ergänzte Siegbert, die Schievelbein sagte mir's! Es thut uns wahrhaft leid – Sie haben Kummer und beklagen sich über Ihr Weib. Was ist Das?
Was ist Das? Immer was ist Das? So heißt's immer hinter den zehn Geboten! Die konnt' ich, aber was ist Das? nicht. Ich komme noch zu Ihnen derohalben... für heute, sagen Sie mir, was Sie anschaffen? Der Rindsbraten soll gut sein und vom französischen Wein sind alle gangbaren Sorten da. Die Namen kann ich nicht lesen, aber wenn Sie recht deutlich Ihre Worte sagen, behalt' ich sie schon –
Wohlan! Eine Chateau Margeaux –
Schatten Margo... wiederholte Peters mit großer Unsicherheit; und Rindsbraten – Was? Nicht wahr?
Gut behalten... Peters macht sich!
Bleiben Sie aber ja hier – damit ich mich zurecht finde! Seit den drei Tagen hier in der Fortuna wird meine Grütze im Kopf immer dünner. Das halt' Einer aus hier in dem Sündenspektakel!
Peters ging, schwerfällig wie seine Gäule.
Dankmar mußte herzlich lachen, während Siegbert wahrhaftes Mitleid mit dem armen neubackenen Kellner empfand.
Ich hätte nie gedacht, daß dieser Mensch ein solcher Esel ist, sagte Dankmar und doch bin ich nun fast gewiß, daß ihn die durchtriebenen Zeck's in Plessen gefoppt haben.
Du urtheilst zu scharf! sagte Siegbert. Solche Menschen haben nur den Verstand, der auf ihrer gewohnten, seit Jahren gefahrenen Straße liegt. Aus ihrem Beruf heraus, sind sie um alle Besinnung. Ich begreife dies ganze Verhältniß im Pelikan nicht.
Es liegt auf der Hand. Dieser alte Ausspänner Hitzreuter hat Geld und gibt seinem Bruder Luftig die Mittel zu einem Etablissement, das besuchter ist als die Straße nach Angerode. Ich bin überzeugt, die Kathrine regiert unten den Tunnel und die Fortuna, wie den Pelikan und benimmt sich dabei geschickter als ihr Mann, dem die Kellnerei eine ungewohnte Sphäre ist. Wenn ich die spitzbübischen Zeck's –
Wer sind denn die Zeck's?
Nun so höre!
Hier begann denn nun Dankmar endlich die Mittheilung des seinem Bruder versprochenen Reiseberichts. Die Behaglichkeit dazu gab die fröhliche Umgebung, der milde Himmel, der Sternenschein, das Flimmern der Lampen, vor allen Dingen aber der Rindsbraten nebst dem »Schatten-Margo«, den sich Peters ausdrücklich vom Besten erbeten hatte, weshalb er auch einen halben Thaler mehr kostete, als die Brüder ihn bestellt hatten.
Eine weitre Anknüpfung des Gesprächs mit dem stillen Dulder in der Kellnerjacke war nicht möglich; denn schon riefen ihn andre Gäste.
Mit einem schmerzlichen Seufzer und einem traurigen Blick zum bestirnten Himmel empor, folgte Peters den Pflichten seines neuen Berufes, während die Brüder durch den Wein und die trauliche Mittheilung sich jene behagliche Stimmung nachträglich in der Nacht schufen, die sie sich unter freilich viel comfortableren Verhältnissen für den Mittag vergebens geträumt hatten.
Indem wir sie diesem Austausch uns bekannter Thatsachen überlassen, folgen wir in dem Gewühl der Menschen, die wir gern für unsre Charakteristik festhielten, vorläufig nur zwei ganz bescheiden auftretenden Männern, die ohne Masken in das Innere der Gärten auf ihr wohlbekanntes Antlitz freien Eintritt haben. Es sind Dies Kümmerlein und Mullrich, die beiden Diener der Gerechtigkeit.