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Wir müssen jenes im Sandwege mühsam fortschleichende Fuhrwerk schon einmal gesehen haben. Das Pferd ist älter geworden, und die Kalesche nur frisch angestrichen. Der Kutscher scheint der Besitzer selbst zu seyn, aber die Dame neben ihm doch die Herrin des Ganzen. Ein vier- oder fünfjährig Mädchen ist uns freilich ganz neu; doch, wie sie so in ein großes Tuch gewickelt dasitzt und an den Fingern saugt, scheint sie nicht ohne einige Aehnlichkeit mit der nun längst verschollenen Sophie zu seyn. Tobianus sind es und Gertrud, die Beide von der Gegend des Amalienbades her gefahren kommen. Wie Beide gealtert sind! Wie die Zeit und die Liebe sie verzehrt haben! Doch noch immer scheint sie Beide dasselbe Temperament zu beleben, Tobianus gelassen und besorgt, Gertrud auffahrend und nichts sich nehmen lassend. Wie sie die Hände zusammenschlägt und dem dritten Gatten nicht genug ihre Verwunderung bezeugen kann! »Ihn in Sünden und Gottlosigkeit wiedersehen zu müssen!« rief sie schluchzend aus und verbarg ihr Haupt in dem Umschlagetuch. Tobianus, der mit dem Pferd genug zu thun hatte, meinte, daß Gottes Wege wunderbar wären, und die Kleine fiel mit Aeußerlichkeiten ein, was er für einen Bart, für Kleider und Mütze hätte! »Stille!« fuhr Gertrud auf und verbot dem Kinde, von dieser Geschichte mit- oder gar etwas auszureden. »Das wäre ja eine Schande vor der ganzen Welt,« fuhr sie fort, »sein Kind auf solchen Irrwegen zu ertappen, wie es seinen Heiland, Jesus Christus, abschwören muß.« – Da sie hier auf's Neue in ein jämmerliches Schluchzen verfiel, so meinte Tobianus, etwas zu ihrem Troste zu thun, wenn er sagte: »Das kann man gerade nicht sagen! Die Türken erkennen Christum wohl an, wenn sie gleich ihren Muhamed über ihn setzen. – Peter hätte gerade,« fuhr er fort, »Christum nicht abgeschworen, wenn es ihm auch, aufrichtig gesagt, etwas schauerlich wäre, einen Stiefsohn zu haben, der sich hätte beschneiden lassen.....« Gertrud rief unaufhörlich: »Ach Jesus, Jesus!« und die Kleine bemerkte des Beschneidens wegen, daß er ja kein Jude geworden sey. Gertrud gab ihr dafür, mitten aus ihrem Schmerze herausfahrend, recht derb Eins auf den Mund und sagte: »Ich werde dich lehren mitreden, du Balg, der du noch nicht wissen solltest, daß es zwei Geschlechter in der Welt gibt!« Tobianus, immer gewohnt, die raschen Zornausbrüche seiner Frau durch sanfte nachträgliche Erklärungen zu motiviren, tröstete das nun auch weinende Kind, wie es denn auch so dumm seyn könne und Petern für einen Juden halten! Peter wär' ein Türke geworden, was allerdings eine Neuigkeit wäre, in die es ihm schwer falle sich zu finden. Indem hatte Gertrud bemerkt, daß ihr an den Füßen ein unbequemes Kästchen stand. Schon wollte sie ihrem Ehemanne wegen seiner schlechten Art zu packen Vorwürfe machen, als ihr die Form des Kästchens auffiel. Sie hob es auf und stieß Tobianus an, er solle helfen. Auf dem Kästchen standen wunderliche Charaktere; da aber der Schlüssel daranhing, so öffnete sie es. Wie groß war ihr Erstaunen, in Sammt und Seide hier nichts als Kostbarkeiten anzutreffen, Ringe, Schnallen, Vorstecknadeln, Armbänder, Alles von Gold und mit den edelsten Steinen besetzt! Gertrud ließ diese herrliche Bescherung, wie vom Schlag getroffen, in ihren Schoß gleiten und starrte Tobianus an, der sich auf dergleichen Sachen, er war ein wohlhabender Mann und trug Ohrringe, verstand und jeden Stein bei Namen nennen konnte. Daß dies Geschenk von dem abenteuerlichen Sohne kam, litt keinen Zweifel. Jetzt weinte Gertrud Freudethränen und rang nur zuweilen verzweifelnd die Hände, wenn ihr einfiel, daß sie für dies und vielleicht auch jenes Leben auf immer von ihrem Sohne Peter getrennt wäre. In Beziehung auf das ewige Leben tröstete sie indessen Tobianus und begann, sich über das Christenthum und den Himmel sehr freimüthig auszusprechen. Sein Glaube war weltlich und natürlich. Er spornte nun den Gaul wieder an und fuhr schnell zu, weil er noch seine Tochter Sophie im nächsten Gasthof antreffen wollte: denn er hatte mit ihr zu reden, da sie im Begriff war, sich von Wiesecke zu trennen und mit Geigenspinnern zu verheirathen. Auch wegen der Ehescheidungen, dachte er so in seinem Sinn, wie gut ist es, daß wir nicht katholisch sind!
Demnach schienen in Amalienbad sich Wunder begeben zu haben. Der so lange in Ungarn und Siebenbürgen pilgernde und fechtende Peter hatte sich in den Orient und den Islam verloren und kehrte jetzt als Renegat heimlich zu den Seinigen zurück, um sie noch einmal zu sehen – und wo möglich sein Gewissen dadurch zu erleichtern, daß er ihnen Gutes thäte. Er hatte nicht gewagt, geradezu seine Mutter aufzusuchen, auch Dinge gehört, die ihm den Muth benahmen, sich offen zu erkennen zu geben. Er beschloß, von dem Amalienbad aus seine genaueren Nachforschungen zu leiten. Hier war es, wo er am Spieltisch seinen sonst so harten und ihm feindseligen, aber doch so biedern Stiefvater erkannte. Er nahm die Besuche und den Unterricht desselben mit Freuden an, glücklich, in seinem Bart und seiner Kleidertracht jede Erinnerung an sich verbergen zu können. Später lernte er unter den Badgästen seine Brüder unterscheiden. Schlachtenmalers Unglück betraf ihn wie ein selbst erlittenes. Nun konnte er sich aber auch nicht länger zurückhalten, sondern schrieb an seine Mutter, sie möchte kommen, um ihren ersten, wenn auch bis in den Tod unglücklichen Sohn zu umarmen. Den Erfolg dieses sonderbarsten aller Wiedersehen kennen wir. Der Bimbaschi war trostlos, in seiner Mutter so viel Kälte und, wie der inzwischen merklich genesene, einarmige Schlachtenmaler hinzufügte, so viel Bigotterie kennen zu lernen. Blasedow hatte sich während des Tobianus'schen Besuches verborgen gehalten, nicht, weil er fürchtete, Gertrud zu begegnen (denn er wußte, daß sie sich in Thränen baden würde, sähe sie ihn wieder), sondern, weil er Tobianus noch immer die verhängnißvollen zehn Thaler schuldig war und ihn hinlänglich kannte, um zu sagen: Ein Philister ist unerträglich, wenn man ihm schuldig ist, aber vollends unausstehlich wird er, wenn er großmüthig ist und uns die Schuld erläßt. Im ersten Falle fürchten wir ihn doch nur, aber im zweiten sollen wir ihn bewundern! Erst, als dieser Besuch fort war, kam er wieder an's Tageslicht und gesellte sich mit fröhlichster Neugier in den kleinen verschwiegenen Kreis, wo der Bimbaschi sein in Wahrheit sehr merkwürdiges Leben erzählte. Er bekleidete jetzt in der von Mehemet Ali geschaffenen ägyptischen Beamtenhierarchie eine nicht unansehnliche Stellung. Er hatte nämlich die Oberaufsicht über den Nilschlamm. Die Brüder lachten, als er ihnen nach einigem Zögern dies Geständniß machte; doch bemerkte Blasedow unwillig, was es da zu lachen gäbe? Der Nilschlamm sey eine Lebensfrage Aegyptens, und es scheine ihm ehrenvoller, General-Director des Nilschlamms in Aegypten, als in Europa ein Oberceremonienmeister am Hofe zu seyn. Der Bimbaschi (diese militairische Würde bezeichnete den Rang Mustapha Bei's, des Renegaten) forderte sie Alle dringend auf, ihm zu folgen und unter seinem Schutze ihr Glück in Aegypten zu versuchen – im Lande des Todes, wie Blasedow still und sinnend ergänzte. Schlachtenmaler meinte, mit einem Arme würd' es ihm im Gewühl der europäischen Concurrenz ohnehin schwer werden, sich Bahn zu machen; die Brüder waren nicht abgeneigt, und Blasedow ergriff es geradezu als eine Lieblingsidee, in einer Pyramide dereinst begraben werden zu können oder sanft und unbewußt an der Pest einzuschlummern. Celinde meinte, daß diese Aussicht zwar nicht allzulockend wäre; doch schmiegte sie sich mit Zärtlichkeit an ihren blassen Freund und drückte innig die einzige Hand, die er noch hatte, und sagte treulich: »Ueberall, wohin du willst!« Indem sie so innig saßen und über eine außerordentliche, sehr poetische Zukunft rathschlagten, wurde Schlachtenmalern ein Brief überbracht. Da ihm in seinem Arme noch alle Gewandtheit gebrach, so öffnete Celinde und las. Die Zeilen kamen von Sägenreißer. Er forderte ihn und die Seinen auf, so schnell wie möglich einen Ort zu verlassen, der bald in allen öffentlichen Blättern von ihm als ein Sitz des Betruges würde bezeichnet werden; er wäre fest entschlossen, um die getäuschten Badegäste, die sich in Zukunft vielleicht wieder einfinden könnten, nicht noch unglücklich zu machen, alle Welt vor dem Besuche dieses Bades zu warnen. Er bäte ihn deßhalb, um sich jeder Rache zu entziehen, auf's Schleunigste seine Abreise anzutreten. Mustapha Bei duldete nun noch um so weniger Bedenklichkeiten. Er zeigte ihnen einige mit Kremnitzer Ducaten gefüllte Beutel und erbot sich, sie Alle in seine neue ferne Heimath auf seine Kosten mitnehmen zu wollen. Celinde bedurfte dieser Beruhigung nicht. Sie war vermögend genug und meinte, sie gäbe wohl Alles hin, um einmal da zu stehen, wo Christus geboren, und da, wo er gestorben wäre. Man trieb alle nur in der Umgegend vorhandene Fuhrwerke auf und bildete bei der Abreise eine mehr als fürstliche Caravane. Von Blasedows und Sidoniens Abschied wissen wir nicht viel zu sagen, wie uns denn überhaupt das etwas heimliche Verhältniß zwischen ihnen Beiden entgangen ist; nur so viel ist gewiß, daß Sidonie nach dieser Trennung von ihrem Freunde in der That sichtbar zum Pietismus überging. Sie neigte schon längst abschüssig und hatte nun keinen Halt mehr, an den sie sich lehnen konnte.
Die Reise ging über Kaputh, wo Schlachtenmaler von Sägenreißer und Silberschlag Abschied nahm, und Celinde ihren großen Haushalt so ordnete, daß sie ihn nach Jahren, wo sie vielleicht wieder zurückkehren durfte, in erfreulichem Zustande zu finden hoffen durfte. Unterweges lasen sie in allen Zeitungen, die sie in den Wirthshäusern antrafen, folgenden Artikel:
Warnung vor Betrug.
Wenn in unserer Zeit der Gebrauch von Mineralbädern ohnehin schon auf eine die möglichen Heilungsaussichten weit übertreffende Weise um sich gegriffen hat, und die Aerzte schon vor dem zu weit getriebenen Gebrauch echter Mineralbäder warnen sollten, wie viel mehr sollten sie es vor unechten! Unterzeichneter glaubt es seinem Gewissen und dem Wohle seines Vaterlandes schuldig zu seyn, auf eine, er will es unentschieden lassen, ob absichtliche oder zufällige, Täuschung aufmerksam zu machen, die im laufenden Sommer einem neuentstandenen Bade einen unglaublichen und darum höchst gefährlichen Zulauf verschafft hat.
Verführt durch eine in den Zeitungen gegebene lobpreisende Darstellung des neu eröffneten eisenhaltigen Amalienbades, entschloß ich mich, an weißem Blute leidend, noch in den Spätsommermonaten jene Quelle zu besuchen. Dort angekommen, hörte ich, daß eine große Anzahl von Gästen während der Mittagshöhe der Saison dort gewesen, nur eine geringe Anzahl aber wesentliche Erleichterung von dieser Quelle erfahren habe. Das erste Glas jenes angeblich heilenden Wassers, das ich an den Mund setzte, benahm mir sogleich jedes Vertrauen. Der Geschmack des Wassers verrieth allerdings eine mineralische Berührung; doch war das Eisen unmöglich in seinem organischen Bildungsprocesse mit dem Ursprunge dieser Quelle zusammenhängend, im Gegentheil hatte das Wasser alle Kennzeichen eines durch Eisenbestandtheile mehr verderbten, als gestählten Zustandes. Jetzt erst ward ich auf den Charakter der Gegend aufmerksam, in welcher dies Wunder einer Eisenquelle sich ereignen sollte. Man braucht kein großer Geognost zu seyn, um einzusehen, daß in einer durchgängig sandigen Gegend die Natur kein Eisen, also auch keine eisenhaltige Gewässer erzeugt. Nirgends findet sich in dieser Gegend auch nur die geringste Spur einer gebirgigen Formation; weit eher ist glaublich, daß sie das Bett früherer urweltlicher Gewässer ist, die nichts als Flugsandwellen zurückgelassen haben. Einige neue Versuche mit diesem lügnerischen Wasser bekehrten mich, daß es sich hier um ein durch verrostendes Eisen verfaultes, keinesweges durch mineralischen Contact in seinen Bestandtheilen organisch gehobenes Wassers handelte. Offen und frei, unbekümmert um den Gegenstand, den meine Anklage eines vielleicht absichtlichen Betruges treffen könnte, erklär' ich, daß auch alle meine sonstigen, auf die Geschichte und den Ursprung der Quelle gerichteten historischen und topographischen Nachforschungen die feste Ueberzeugung, die sich in mir ausgebildet hatte, bestätigten, daß das Wasser dieser sogenannten Amalienquelle aus einem gewöhnlichen Süßwasserbrunnen kömmt, aber so geleitet wird, daß es erst eine Zeitlang in einem Gerümpel alten, verrosteten Eisens stagnirt und dann an jenen Hahn der Röhre kömmt, wo die Brunnengäste, auf Linderung ihrer Leiden hoffend, in Treu' und Glauben ihre Gläser füllen.
Unterzeichneter weiß nicht, wen seine Anklage auf Betrug hier persönlich trifft; er will nicht aussprechen, wer das von einem in dem Schlosse stattgehabten Bau gewonnene alte Eisen, als da sind Thürkrammen, Fensterbeschläge, alte schadhafte Schlösser, verrostete Schlüssel u. s. w., plötzlich an einen Ort untergebracht hat, der allen Bauleuten ein Geheimniß geblieben ist; aber seiner Pflicht als Gelehrter und Menschenfreund glaubte er es schuldig zu seyn, das Publicum vor dem Gebrauch einer Quelle des Betrugs zu warnen und durch diese offene Erklärung Jedermann von dem Besuche jenes Giftbrunnens zurückzuschrecken. Wer es kann, der belehre mich eines Andern!
Prof. Dr. Sägenreißer,
Fürstl. Sayn-Sayn'scher Hof-Wundarzt.
Kaputh, den 15. September 18...
In Wien erfuhren die Reisenden, daß Graf von der Neige diesen Artikel unbeantwortet gelassen, sich aber mit einer neuen Speculation befaßt hatte. Er hatte eine Compagnie zur Erdpechpflasterung aller Straßen und Plätze Europa's gebildet und sich zum Director des permanenten Ausschusses dieser neuen industriellen Unternehmung wählen lassen.
Von unsern vertrauteren Freunden aber nehmen wir jetzt vielleicht auf immer Abschied. In Wien haben sie so eben das Donau-Dampfschiff Nador bestiegen und blicken wehmüthig in die neue Zukunft hinaus, die ihnen der Orient erschließen wird. Es ist ein kalter Morgen. Blasedow lehnt sich fröstelnd an das Dach der Cajüte, den Arm in den Brustlatz gesteckt, und denkt über sein Grab in den Pyramiden nach. Die Brüder und die Türken lärmen mit den Arbeitsleuten, die ihre Effecten verpacken. Mustapha Bei sieht mit stumpfer Neugier dem geschäftigen Treiben zu und zählt die Thürme Wiens in der Ferne. Schlachtenmaler unterhält sich mit dem Capitän und besichtigt die Maschinen. Celinde sitzt neben Blasedow und ordnet ihre Guides de Voyageur, ihre Landkarten, Albums und Zeichenmaterialien, wie eine Engländerin. Die Glocke wird zum zweiten Male gezogen. Die letzten Verspäteten beeilen sich, auf das Schiff zu kommen. Die Glocke läutet zum dritten Male, der Schornstein hört zu brausen auf, und im leichten Tanze schaukelt das schwere Schiff sich allmählich in die Mitte des Stromes hinein.
Nimm dein Tuch und wehe ihnen noch einmal deinen Abschied zu! Grüßet die Kuppeln der Minarets von Stambul, grüßet die Ruinen Troja's, grüßet den heiligen Nil und den Vater Enfantin! Eine neue Welt geht vor euren Augen auf; vergeßt unter Palmen nicht die deutsche Buche, unter Dattelbäumen unsere Zwetschen nicht, unter Rododendren nicht das Veilchen und Vergißmeinnicht! Lebt wohl, ihr Theuren, Guten! Noch einen Gruß mit euren Tüchern; ach, dann nehmt sie, um eure Thränen zu trocknen! Lebt wohl, ihr Lieben! Lebt wohl!