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Erstes Kapitel.

 

Wiedersehen und Berge ohne Echo.

 

»Das ist freilich etwas Anderes« – sagte der Amtmann betroffen, und Thespis, der Schauspieldirector, wiederholte sich mit erzürntem Nachdruck, blutroth vor Ingrimm und mit mehr natürlicher als Kunstwärme: »Ja, auf Stempelpapier! Auf Landesstempelpapier! Denn ich werde kein« – er brauchte hier eine thierische Metapher – »seyn und die Waffen aus den Händen geben! Kann heutiges Tages sich eine Kunstanstalt erhalten, wenn die Direktoren alle, und die Schauspieler keine Verbindlichkeiten haben? Herr, es gehen ja bei der so um sich greifenden Dressur jetzt mehr Schauspieler, als Pferde durch! Kaum sticht die so ehrvergessenen Menschen der Hafer, kaum haben sie sich nach Kummer und Elend bei einer achtbaren Direktion wieder runde Backen gegessen, so schlagen sie aus, reißen sich los und laufen in die weite Welt. Man erblickt erst einen solchen Findling am Wege, nimmt ihn in sein Haus, füttert ihn, gibt ihm Rollen, läßt ihn Helden spielen, und eines Morgens ist das Nest leer und der Vogel ausgeflogen. Die Wache bleibt, Herr Amtmann, sie bleibt; die Contracte sind auf Stempelpapier.«

Der Amtmann entgegnete, nicht ohne sichtbare Zeichen einer großen Verwirrung: »Sie haben das Recht für sich, Herr Thespis, aber nicht die Vernunft! Es gibt einen Aufruhr. Meine bewaffnete Macht reicht nicht hin, fünf tollkühnen Abenteurern, die nur gewohnt sind, Räuber und Königsmörder zu spielen, förmlich den Krieg zu erklären. Unsere Stadt ist ein offenes Landstädtchen, unsere Gerichtshalterei ist auf Capitalverbrechen eben so wenig (denn wir haben ja nicht einmal einen Galgen), wie unser Profoßamt auf eine complete Verschwörung eingerichtet. Der Tumult in der Stadt währt mir zu lange, und bloß deßhalb mein' ich, Sie sollten sich lieber mit den Leuten vertragen und sie gegen eine billige Entschädigung ihrer Wege gehen lassen.«

Hier schlug Thespis jene eigenthümliche Lache auf, welche halb das Echo der Verzweiflung, halb diabolische Persiflage seyn soll, und in diesem Falle Beides auch wirklich war. »Mich mit ihnen abfinden!« lachte er laut auf, daß ihm die Thränen aus den zornigen, blutgesprenkelten Augen kamen. »Entschädigung!« rief er nochmals und wollte kein Ende finden, in dem Amtszimmer umher zu laufen, da er nichts weiter zu entgegnen wußte und durch sein verzweifeltes satirisches Lachen wahrscheinlich doch nur die leicht mögliche Thatsache verdecken wollte, daß die Gagen seit einiger Zeit vielleicht noch rückständig waren. Der Amtmann blickte zum Fenster hinaus und sah, daß der Marktplatz voller Menschen, und alle Industrie des kleinen Ortes still stand. »Kurz und gut,« sagte er zornig und schlug die Acten zusammen, »zwei Tage hab' ich an dem Spectakel genug, Herr Thespis, und, wenn Sie mir nicht jetzt im Orte Frieden schaffen, so lasse ich Sie mit Ihren wortbrüchigen Rebellen alle zusammen zur Ruhe verweisen.«

Thespis, der den aufgesprungenen Amtmann hindern wollte, sich nach Hut und Stock umzusehen, und eben eine donnernde Rede aus dem »Bürgermeister von Saardam« halten wollte, wurde von einem Amtsdiener und einem lauten, gellenden Pfeifen auf dem Marktplatz unterbrochen. Die rebellischen Schauspieler, hieß es, hätten sich der gesammten Garderobe – Thespis wartete jedoch die Periode nicht ab, sondern stürzte leichenblaß zum Amtszimmer hinaus (der Amtmann besonnen hinter ihm her), lief wie Diogenes baarhaupt über den Rathsplatz jenem alterthümlichen Gebäude zu, welches seiner Truppe zu ihren theatralischen Leistungen eingeräumt zu werden pflegte. »Platz, Platz dem Generallieutenant!« schrie er aus »Wallensteins Tod« und bahnte sich mit gewaltsamen Stößen den Weg durch die vor dem Gebäude versammelte Menge. Die ganze Stadt freute sich, seit zwei Tagen eine theatralische Vorstellung im Freien und unentgeltlich zu sehen: denn es sah romantisch aus, die alte Ruine, welche früher ein Kloster gewesen war und jetzt gewöhnlich als Waarenmagazin diente, in den Schauplatz einer ritterlichen Begebenheit verwandelt, ein hoher Thurm, dessen Fenster zwar seit Jahrhunderten schon mit Brettern vernagelt waren, aber doch noch aus einigen Oeffnungen die Schadenfreude der fünf aufrührerischen Schauspieler verrieth, die sich in diesen Thurm geworfen und ihn unten am Eingange verriegelt und verrammelt hatten. Ein Duzend Stadtsoldaten hielt an der von Innen verschlossenen Thür Wache und blickte vergebens zu den Belagerten empor, die zuweilen oben den Kopf aus einer Luke steckten und eine Fledermaus oder todte Ratte, zum Jubel der versammelten Menge, hinunterwarfen. Oefters sangen sie auch Lieder aus Schillers Räubern und Wallensteins Lager oder fingen mit den Belagerern scherzweise zu parlamentiren an. Die Unmöglichkeit, die Thür zu sprengen, lag nicht so sehr in dem festen Schlosse desselben, als in dem Umstand, daß dieser Thurm als Garderobe- und Decorationsbehälter benutzt worden war. Die Belagerten hatten sich nämlich theils der Coulissen, theils der Kleiderkisten dazu bedient, die Thür zu versperren. Thespis konnte daher bei aller eignen Erbitterung und bei allem Muthe der durch Trinkgelder und versprochene Freibillets angefeuerten Stadtmiliz dennoch keinen Sturm wagen, weil ihm die gesprengte Thüre unfehlbar auch die Hinterallee des Parkes von Belriguardo, einige alte Ahnenhallen und wohl gar die Teufelsschlucht aus dem Freischützen in Stücken zerrissen haben würde. Wenn Thespis den Belagerten mit Hinterlist den Weg der Güte zurief, so ließen diese in zweideutiger Anspielung einen Strick herunter und meinten damit zunächst wohl nur, daß die Thür unerbrechlich wäre, und der Director auf diesem Wege zu ihnen hinaufklettern möchte. Diese Verhöhnung mit dem Wege der Güte, da er wirklich keinen andern zum Thurme finden konnte, hatte ihn so verdrossen, daß er zum Amtmann lief und um ernstliches Einschreiten bat, mit einem Erfolge jedoch, den wir schon kennen.

Thespis kam athemlos an dem frei im Hofe des Magazins belegenen Thurme an und sah schon in der Ferne, wie die im Thorwege, im Hofe und draußen vor dem Gebäude versammelte Menge über das neue Schauspiel lachte, welches die Belagerten zum Besten gaben. Diese mußten nämlich allerdings auf ein Mittel sinnen, um aus ihrer drückend ängstlichen Lage befreit zu werden. Eben im Begriff, sich heimlich von der Gesellschaft zu entfernen, hatte sie Thespis arretiren lassen. Einer und der Andre wäre wohl entsprungen; aber, da sie Alle für Einen stehen wollten, so blieb ihnen nichts übrig, als sich in den Thurm zu werfen und von hier aus ihr Schicksal abzuwarten. Flucht war nicht möglich; Lebensmittel besaßen sie nur hinreichend für einen Tag. Seit vierundzwanzig Stunden peinigte sie der fürchterlichste Hunger, der durch vieles Reden unter sich (eine bekannte Erfahrung, die es auch den Armen räthlich macht, lieber still zu schweigen bei ihrem leeren Magen) nur noch heftiger wurde. Sie mußten alle ihre Verschlagenheit zu Hülfe nehmen, um nicht den Aeltesten unter ihnen in die Lage Ugolino's zu bringen, und so verfielen sie auf den Ausweg, den Director durch die angedrohte Vernichtung seiner Garderobe zum Frieden und zu freiem Abzug zu zwingen. Sie schlugen die Kisten auf und nahmen sämmtliche Harnische und Schlafröcke, Königskronen und Schlafmützen, Räuber- und Jagdröcke, Königinnenroben und durchsichtige Tricots mit hinauf in die höchste Zinne des Thurmes, wo sie sich ankleideten und in den verschiedenartigsten Costumes auf eine Art von Gallerie hinaustraten, wo sie mit jubelnder Begrüßung empfangen wurden. Siehe, da stand der fabelhafte chinesische Kaiser Altoum, mit einer ungeheuren Deckelmütze und einer Kleiderschleppe, die wie eine Schiffsflagge vom Winde gefaßt wurde und um den ganzen Thurm herumklatschte! Aus zwei Roßschweifen eines Theodor Körner'schen Zriny-Paschas hatte sich der chinesische Kaiser einen ungeheuren Schnurrbart gemacht, und, um das Volk noch mehr zu belustigen, setzte er die Papagenoflöte an den Mund und blies: »Ein Männchen oder Weibchen –«. Hinter ihm stand die Königin der Nacht in dem weiten, sterndurchsäeten, falschen Spitzenschleier, der dem Director Thespis nicht wenig Geld kostete und um so theurer war, als ihn nur Madame Binder-Bürsten trug, nie eine Gastin, geschweige ein Mann! Die Königin der Nacht hatte in der That die Absicht, die Sonne zu verdunkeln, die so herrlich schien und den gaffenden Leuten gerade in's Angesicht. Sie ließ sich den ungeheuren Sternenschleier an zwei Eckvorsprüngen des Thurmes befestigen und breitete somit ihre Flügel wie eine riesenhafte Fledermaus aus. Es wurde mit den Gewändern der Garderobe ein so großer Luxus getrieben, daß sich der fabelhafte Kaiser Altoum und die Königin der Nacht ordentlich wie zwei Kaschemir-Bajaderen ausnahmen, die den beliebten Shawltanz, wenn gleich diesmal sitzend, aufführten. Um die Gruppe vollständig zu machen, blickten an verschiedenen in der Drapperie gelassenen Lücken drei andere Gestalten hervor. Zuerst Werther im blauen Frack und den gelben Beinkleidern, mit einer Pistole in der Hand, die von der Stadtmiliz mißverstanden wurde und sie um so mehr anfeuerte, den Amtmann zur Aufhebung der Belagerung zu ermuntern. Sodann Graf Dunois, der Bastard von Orleans, in einem ganz neupolirten blechernen Harnisch, mit heruntergelassenem Visier und einem beispiellosen Hünenschwert, welches er aus dem prächtigen Waffenschranke jenes Scharfrichters entnahm, dessen Freiknecht der berühmte Hinko der Madame Birchpfeiffer wurde. Thespis blickte diese Scene mit jenem, schon einige Mal an ihm beobachteten Lächeln an, welches bei manchen Leuten, die man auf's Aeußerste bringt, die Ouverture zum Wahnsinn zu seyn pflegt. Er mußte nicht nur sehen, daß man seine kostbaren Costumes auf diese Art mißbrauchte, sondern sie auch den Blicken eines Publicums preisgab, welches dazu kein Eintrittsgeld gezahlt hatte. Es war Zeit, daß er sich an den Paukenschläger seiner Capelle lehnte: denn des Hohnes wurde immer mehr. Nun sah man gar noch den fünften der contractbrüchigen Durchgänger als Richard III. auftreten, und zwar mit einem Buckel, der weit über eine natürliche Vorstellung hinausging. Thespis konnte sogleich wahrnehmen, daß zur Ausfüllung dieses Schweizer Rigis von einem Höcker nicht etwa die ausgezogenen Kleider des Possenreißers würden gedient haben, sondern er setzte nicht mit Unrecht voraus, daß sich in diesem Ungethüm mehr als zehn Wappenröcke, Räuberanzüge und Lazzaronimäntel zusammengeballt finden würden. Richard III. nahm sich zu seinem Rücken wie ein Beduine zu einem Kameel aus; er konnte recht eigentlich im Schatten seines Unglücks wandeln und hatte nur nöthig, sich nach der Seite hinzuwenden, wo gerade der Wind herkam, um vor ihm geschützt zu seyn. Wie ein Dolchstoß war es dem Director, wenn Richard III. mitunter ausrief: »Mein Königreich für ein Pferd!« denn Thespis pflegte diesen Tyrannen ja selber zu spielen und hatte gerade etwas Besonderes in seinem Organ, was ihm der Schelm so glücklich nachzumachen wußte, nämlich, bei jedem Satze das Räuspern, was Thespis früher aus Verlegenheit sich angewöhnt hatte und später zu einer Kunsteigenthümlichkeit erhob, die bei ihm das heisere Organ Ludwig Devrients ersetzen sollte. Richard III. auf dem Thurme courbettirte wie ein Affe auf Thespis berühmtem Paradepferd und schaltete das bedeutsame Räuspern selbst da ein, wo es unter keiner Bedingung hingehörte, z. B. in die im höchsten Affect gesprochenen Worte: Ein Pferd! Ein Pferd! wo der contractbrüchige Schauspieler hinter jedem Worte eine Pause machte und sie zum Räuspern benutzte. Thespis wagte nun auch nicht mehr zu widersprechen.

Nämlich dem Amtmann, der schon lange vor ihm stand und ihm ernstlich die Präliminarien eines unverzüglich zu schließenden Friedens vorhielt. Das Volk verlasse seine Arbeit und kein auf nächsten Sonntag bestellter Rock oder Stiefel würde fertig werden; die Stadtmiliz wäre so anstrengender Operationen nicht gewohnt, und die Schauspieler selbst hätten im Thurme keine Lebensmittel, wohl aber, wie es scheine, die tollkühne Idee, eher zu verhungern, als nachzugeben; wie er, als Amtmann, bestehen würde, wenn man die Waghälse todt im Thurme fände! Thespis sah die Vernichtung seiner Garderobe vor Augen. Die Contractbrüchigen zerrten an ihr erbarmungslos und schleppten jetzt sogar den Comthur zu Pferde aus Don Juan herauf und stellten das steinerne Monument, es war aus Pappdeckel, oben aus. Auch die Marmorbraut (man sieht, Thespis hatte ein gutes Repertoire) wurde aufgestellt, gleichfalls eine Figur aus Pappdeckel. Der Director wandte sich ab: vor seinem Blicke gaukelten alle zertrümmerte Requisiten seines Musentempels, er sah im Fieberwahne oben den Bürgermeister Staar, er sah Posa, den Astrologen Seni, sah Johanna von Montfaucon, Karl Moor, die Jungfrau von Orleans, den Abbé de l'Epée, Othello, Jaromir, er winkte abweisend mit der Hand und entschloß sich, an den Paukenschläger und den Amtmann gelehnt, mit den Belagerten zu capituliren.

Nach langer Verhandlung entschloß sich endlich Thespis, den contractbrüchigen Flüchtlingen freien Abzug zu gestatten. Er machte sich anheischig, einen Wagen vor dem Thurm auffahren zu lassen, auf welchem die Besatzung gleich das Weite suchen sollte. Der Amtmann und die Stadtsoldaten, die lieber die Klingen einsteckten, um zu zeigen, daß Keiner darüber zu springen hätte, garantirten diesen westphälischen Frieden, der einen länger als dreißigstündigen Krieg beschloß. Der Wagen fuhr vor. Die contractbrüchigen Schauspieler kleideten sich um, und bald hörte man sie die Stufen des Thurmes herunter kommen. Die wogende Menge drängte sich an die Thür, welche mit den Coulissen so gesichert war, daß es lange währte, bis sie frei wurde und sich öffnete. Ein allgemeines Hurrah empfing die tapfern Krieger, welche sich wohlgemuth auf den Leiterwagen setzten und unter dem Pfeifen und Jubeln der Menge davonfuhren. Der Lärm war so groß, daß Herrn Thespis Drohung, er wolle nun aber ihr ehrloses Betragen auch in allen Blättern der Welt bekannt machen, unmächtig darin verhallte. Die Flüchtlinge kümmerte nichts, als die Untersuchung des mitstipulirten Eßwaarenkorbes. Sie hatten wahrlich nöthig, daß sie bald in's Freie kamen, um ungestört für ihr nächstes Bedürfniß, den schon mit Verzweiflung ringenden Magen, zu sorgen.

Hinter dem Weichbilde des Städtchens wurde die Gegend öde und melancholisch. Während der Wagen noch auf einem unebenen Steindamme hin- und hergeschleudert wurde und später in den tief ausgefahrenen Gleisen eines Sandweges schlich, schien sich allmählich auch jede Vegetation zu verlieren, und nur dürres Haidekraut bedeckte die weite Aussicht, welche eine unermeßliche Fläche darbot. »Und doch,« sagte derjenige von den Reisenden, welcher der Aelteste war und den Kaiser Altoum mit so würdiger, mehr passiver Ruhe als drastischem Willen gespielt hatte, »doch fehlt auch der Wüste ihr Reiz nicht. Nirgends blüht die poetische weißstämmige Birke so schön, als auf der Lüneburger Heide, und nirgends hab' ich die Lerche so empfunden, als da, wo man sie sich als unmöglich denkt, zwischen Lüneburg und Celle. Die bunten Blüthen des Haidekrautes kommen an Duft und Farbe oft den Alpenblumen gleich, und wie dichterisch ernst und fast babylonisch wehmüthig stehen da die dicken Weidenstämme, unförmlich zwar, wie Knollen, und mit weit weniger Zweigen, als dem Ueberfluß an Holze zukäme, aber gerade geeignet, Harfen an ihnen aufzuhängen, da man nirgends poetischer gestimmt wird, als da, wo die Poesie am entferntesten ist, und die Armuth der Natur das Menschenherz auffordert, ihr ein Lied zu singen und ihre Blöße mit Liebe zu bedecken.«

Aus diesen Worten kann man Alles entnehmen, nur nicht, daß der, der sie sprach, so besonders redselig gewesen wäre. Es war nur unsere Pflicht, ihm das erste Wort zu gönnen, weil seines das erste vernünftige war. Man hatte genug um ihn her gelacht und das erlebte Abenteuer durchgesprochen, bis er sich mit seiner sanften Rede Bahn brach und die Gemüther zum Ernst stimmte. Das Ernsteste war aber die Zukunft, und, diese erörternd, sagte der Eine: »Bis jetzt haben wir nach eingelernten Rollen gespielt, und der Unterschied scheint bloß der werden zu wollen, daß wir beim Grafen aus dem Stegreif spielen und ohne Theater.« Ein Anderer griff in die Tasche und faltete einen Brief auseinander, dessen Inhalt er nochmals (denn er kannte ihn schon) ungläubig durchmusterte: »Große Versprechungen, auf Sand gebaut! Wieder eine Lotterie, aber nicht mit Gütern, sondern diesmal mit Menschen.« – »Und wo ihm«, fiel ein Dritter sehr ernst und ironisch ein, »doch auch die Nadel nicht fehlen soll. Uebrigens hat der Graf Talent und ist unter der Constellation des Zeitgeistes geboren. Die Ritter-Industrie seiner faustrechtlichen Vorfahren hat ihm nicht so viel hinterlassen, als er sich, seit dem er Industrieritter geworden, durch einen glücklichen Wurf erwerben kann. Er hat praktisches Talent und macht sich nicht viel daraus, noch unter der Hungertuchfahne groß für die Rechte der Feudalität zu kämpfen.«

Und der Redner hatte Recht, die Tugenden eines zweideutigen Mannes in's Große und Lockende auszumalen, da es ja, allem Anscheine nach, der Wille der Flüchtlinge war, ihre bisherige theatralische Laufbahn zu verlassen und sich dem Unternehmungsgeiste eines Mannes anzuschließen, als dessen Princip uns schon längst bekannt ist, daß das Glück vom Einsatz abhänge. Der Aelteste, der Kaiser Altoum, mischte sich in die Unterhaltung nicht, sondern ließ nur höchstens einmal eine kürzere oder längere Bemerkung fallen, wie z. B. diese: »Liebe Kinder, wir scheinen nun einmal dazu bestimmt zu seyn, unser Leben alle Augenblicke von vorn anfangen zu müssen. Hab' ich doch selbst ein ganzes, mit trübseliger Consequenz durchgeführtes Leben über Bord geworfen und mich ganz von Frischem wieder eingeschifft, um es noch umgekehrt zu versuchen. Es liegt eine eigene Ironie darin, daß ihr, die ich erzog, um nur Eines zu werden, jetzt gerade genöthigt seyd, Alles zu werden. Der Schauspieler hatte nun gar erst die Bestimmung der täglichen Umkleidung und mußte jeder Rolle gewärtig seyn. Wenn übrigens die Menschen sagen: Ihr seyd nichts! so wollen sie nach ihren Begriffen eigentlich sagen: Ihr habt nichts! Diese beiden Hülfszeitwörter unseres Daseyns werden von der Masse irrig verwechselt, und nur, wer darüber steht, sieht ein, daß im Werden die Würde des Mannes liegt. Wohl dem, der etwas hat; noch besser dem, der etwas ist; aber wehe dem, der je aufhören wollte, etwas zu werden! Wenn wir in andern Planeten unser hiesiges Daseyn etwa fortsetzen sollten, so werden wir doch nie von dem ausgehen dürfen, was wir hier schon geworden sind, oder die Aufgaben jenseits sind ohnehin so hoch gestellt, daß die Blume unserer irdischen Bildung dort nur zu ganz gemeinem Dünger für eine ganz andere und herrlichere Vegetation dienen kann.«

In der Art etwa erging sich eine Persönlichkeit, welche leicht als leiblicher Vater der vier Uebrigen zu erkennen war. Am Abend kehrten sie in einer einsam gelegenen Haideschenke ein und setzten am nächsten Morgen ihre Reise fort. Der Weg bekam, je mehr sich der morastige Haideboden in Sandboden verwandelte, hie und da einige Erhöhungen, und der Alte sagte: Nur Eines wär' ihm unerträglich, die absolute Sandfläche – und Sand- und Lehmgruben, die sich für Thäler ausgäben und ordentliche Berge bildeten. Solche Gegenden könnten nur durch Mordthaten, die darauf begangen würden, berühmt werden, und es wär' ihm in manchen absoluten Sandflächen immer zu Muth gewesen, als könnten nur Schaffotte darauf wachsen. In der That kündigte sich ihnen auch, je näher sie dem Orte ihrer Bestimmung kamen, in diesen kleinen Sandhügeln eine sehr unheimliche Erscheinung an. Sie hörten nämlich von Zeit zu Zeit verhallende Töne, die einen gewissen Zusammenhang zu haben schienen und doch immer nur mit Zwischenpausen ausgestoßen wurden. Es war ihnen erst wie der Hülferuf eines Unglücklichen, allein bald gab sich ordentlich eine Methode in den Tönen zu erkennen. Sie folgten sich unermüdet auf einander und ließen entweder einen Scherz voraussetzen oder, wären sie in Indien gewesen, einen Fakir, der, die heiligen Vedas auf diese Art Wort für Wort sein Lebenlang in der Wüste auszurufen, sich und den Göttern gelobt hätte. Allmählich ergab sich indessen, daß auch diese Annahme in Indien irrthümlich gewesen wäre: denn die Stimme kam immer näher, und ihre Worte ließen eher auf die laut hergesagte Lection eines Schulknaben, als auf die tiefen Philosopheme der Gymnosophisten schließen. Die Reisenden hielten innerhalb eines Zusammenstoßes verschiedener Sandhohlwege inne und warteten den sich immer mehr nähernden Schreier ab, der mit dem größten Aufwande seiner Lungen die Luft erschütterte. Nun konnten sie auch schon deutlich hören, welches der Inhalt der syllabirenden Gebirgswanderung war. Mit urmächtiger Stimme donnerte es schon dicht in ihrer Nähe aus dem brandenburgischen Kinderfreund:

»Aus – diesem – Lesebuche – kann – ich – viel – Nützliches – und – Gutes – lernen, – darum – will – ich – es – in – Acht – nehmen – und – nicht – zerreißen. – Ich kenne – mein Lesebuch, – denn – ich habe – mir – gemerkt, – daß es – viereckig ist, – einen – pappenen, – mit – Papier – und – Leder – überzogenen – Deckel – und – einen – weißen – Schnitt – hat. – Im – Januar – ist es – gewöhnlich – sehr kalt, – und – im Juli – ist es – gewöhnlich – sehr – heiß. – Ich habe – in – der Küche – folgende – Dinge – gesehen: – Töpfe – Eimer – Schüsseln – Teller – Kessel – Näpfe – Kannen – Kellen – Quirl – eine Zange – einen Mörsel – eine Pfanne – ein Reibeisen – einen Bratspieß – einen Borstwisch – eine Stürze – eine Butterbüchse – einen Lohgrapen – viele Deckel – Tassen – Büchsen – und einen großen Wasserkrug.«

Jetzt endlich wurde oben auf einem kleinen Sandhügel ein Mann sichtbar, der den brandenburgischen Kinderfreund in der Hand hielt und ihn mit ungeheurer Anstrengung auf die bezeichnete abgestoßene Weise ausrief. Als der Mann, der äußerlich eher einem Flur- als einen Fibelschützen glich, der Reisenden ansichtig wurde, schlug er den Kinderfreund zu, nahm eine Prise und die Mütze ab und grüßte. Befragt, was ihm denn wäre, daß er so grimmig in die Berge hinein buchstabirte, stieg er von der kleinen Anhöhe herunter und sagte: »Ach, es ist eine dumme Geschichte; aber ich bin verheirathet, und was thut man nicht um sein Brod? Uebrigens ist alle Mühe vergebens, und der Graf kann gewiß seyn, daß in keinem Winkel hier was zu hören ist.«

Es währte etwas lange, bis der Fibelschütz eine verständliche Auskunft gab. Er durchstreifte nämlich schon seit acht Tagen diese flachen Sandhügel, um, im Auftrage des Grafen, der etwas Großartiges im Werke hatte, zu untersuchen, ob nicht etwa ein Echo in ihnen verborgen läge. »Wär' ich nicht,« sagte der umgekehrte, moderne Narcissus, »Musikus von Haus aus, so würd' ich mir schon was an der Lunge zersprengt haben« (eigentlich sagte er zersprungen); »seit acht Tagen lauf' ich herum und brülle wie ein Stier nach 'nem Echo und höre keines; die Berge bleiben stockdumm, ich mag schreien, was ich will. Da ich wenigstens eine Unterhaltung bei diesem lästigen Geschäft haben wollte, und da mein Witz auch nicht groß genug ist, immer was Neues köpflings auszudenken, so hab' ich mir den brandenburgischen Kinderfreund mitgenommen und ihn schon einmal ganz durchgebrüllt; aber es hilft nichts, ich höre kein Echo.«

Von den Reisenden meinte Einer, wenn der Graf denn doch einmal zu seinen Plänen eines Echos in den Bergen bedürfte, so könnte er ja Jemanden anstellen, der aus irgend einem »geheimen Plauderstübchen« den Leuten das mit Geschicklichkeit nachriefe, was sie in die Gegend hinein schrien. »Ja,« meinte der Fibelschütz, sich hinter den Ohren krauend, »was Anderes seh' ich auch nicht kommen, wenn's doch 'mal ein Echo seyn soll! Ueberhaupt glauben Sie nicht, was der Graf mit dieser ganzen Gegend hier vorhat. Er will, wie unser Herrgott, hier aus Nichts ordentlich ein Paradies machen. Ich bin eigentlich für die Bademusiken – ja,« unterbrach sich der Mann, »davon wissen Sie All' noch nichts?«

Von den Reisenden bedeutete ihn Einer, daß ihnen die Pläne des Grafen wohl bekannt wären, und lud den Echojäger ein, sich nur mit auf den Leiterwagen zu setzen und ihnen eine andere Unterhaltung zu gönnen, als den Kinderfreund. »Nun,« sagte er wohlgefällig und stieg ein, »ich fahre bis zum Sandkruge mit und kann ja recht laut sprechen, wenn's doch vielleicht wo an den Bergwänden Anklang fände.« Der gute Mann erzählte nun recht vertraulich seine kleine Lebensgeschichte. »Sehen Sie,« sagte er, »ich heiße eigentlich Joseph Andres Meißner, und mein Vater war bloß ein Töpfer. Die Leute sagten immer: Wir essen doch von Meißner'schem Porzellan, was aber eine scherzhafte Zweideutigkeit war: denn sie meinten nicht Meißen in Sachsen, sondern meinen Vater. Es war gewissermaßen auch Meißner'sches Porzellan, was er machte, weil er nämlich Meißner hieß, und, wie gesagt, ich bin sein Sohn. Mein Geburtsort ist aber in Bayern und nicht weit von den katholischen Fürstenthümern, weßhalb ich selber auch katholisch bin und von Hause aus großes Genie für die Flöte, überhaupt für Alles, was Musik ist, gehabt habe. Ich lernte Clarinette, Violine und blies auch die Trompete, was eigentlich auch die Veranlassung war, daß ich Hoftrompeter wurde, das heißt Klosterhoftrompeter oder Hofklostertrompeter im Bambergischen. Es war nämlich immer bloß ein Spaß, daß sie mich Hoftrompeter nannten. Uebrigens wurde die Anstalt, woher der Name kam, später eingezogen und mein Gehalt auch, warum ich denn nach Moskau ging, nämlich auf eine Anzeige hin, die im Blatt gestanden hatte. Es war eine Stelle als Violinist vacant, die ich, wie jeder Andere, im Orchester ausfüllen konnte. Nun hören Sie, wie man öfters durch etwas sein Glück machen kann! Ich hatte die Fertigkeit und habe sie noch, ob die Finger gleich steif werden, die Violine mit einem Finger zu spielen. Mein Obergelenk hier am rechten Zeigefinger ist so gewandt, daß ich etwas ganz fest damit packen kann, und so halt' ich den Fidelbogen mit dem Dings so fest, wie mit der geballten Faust. Das machte mein Glück. Ich kam nach Moskau, und, wie sich Alles so schicken muß, da war der Theaterintendant des Kaisers gerade in Ungnade gefallen und nach Siberien geschickt, und, wie ich Ihnen sage, ein General, der wirklich von der Musik gar nichts verstand, wurde vom Kaiser an seine Stelle gesetzt. Es war ein guter General gewesen, der Mann; aber der Kaiser konnte ihn nicht mehr brauchen, weil er seit einiger Zeit das Gehör verloren hatte vom Kanonendonner oder Rheumatismus, genug, er war stocktaub. Wie nun so ein Mann an die Spitze eines Orchesters gestellt werden kann, das begreife Gott! Der General sollte das Theater verwalten, die Schauspieler, Sänger und Instrumente auswählen, und er konnte kaum etwas hören, selbst, wenn man's ihm mit Gewalt in's Horn schrie: denn so weit ging es, daß er eins brauchen mußte. Nun verließ sich der Mann aber auf sein Auge. Wer gut declamirte auf dem Theater, der war sein Mann (manche Sängerin auch seine Frau). Ich muß gestehen, ich habe von dem Unglück des Mannes lange Zeit mein Glück gemacht. Er prüfte mich mit drei andern Violinisten zu gleicher Zeit. Wir mußten Alle auf Einmal spielen: denn den Höllenlärm, den das gab, den hörte er nicht, und er sagte, er hätte nicht viel Zeit. Nur auf die Finger sah er uns, und hier war es, wo ihn meine Fertigkeit, bloß mit einem Finger zu spielen, so weit brachte, daß er mich engagirte und später sogar zum Capellmeister machte. Ich muß sagen, ich spielte weit schlechter, als die drei Andern; aber ich wäre ja wohl ein Narr gewesen, nach Moskau zu reisen, um dort noch die Großmuth selbst zu seyn. Ich habe die erste Violin und den Capellmeister gespielt, bis mein General in den kaiserlichen Senat kam, wo er nicht bloß nichts zu hören brauchte, sondern auch allenfalls hätte stumm seyn können. Sein Nachfolger war ein Kenner, und ich wurde entlassen. Mit einigem Vermögen ausgestattet, kehrt' ich mit Weib und Kind nach Deutschland zurück, und nun soll es mich wundern, was aus dem Grafen, der mich als Director einer zu errichtenden Badcapelle engagirt hat, werden wird. Bis jetzt sah ich weder eine Capelle noch ein Bad, und zunächst soll ich, da ich doch ein musikalisches Ohr hätte, hier in der arabischen Wüste ein Echo entdecken, glaube aber, ich finde keins.«

Am Sandkruge hielten die Reisenden inne und erfrischten sich. Der Echojäger theilte ihnen noch Mancherlei über die Vorgänge auf der hier neuerdings erkauften Wirthschaft des Grafen mit, was ihnen um so willkommner seyn mußte, als sie im Begriff standen, sich in seine Pläne verwickeln zu lassen, und das Wohnhaus des Grafen, wie sie hörten, ein verfallenes Schloß im Geschmack des siebenzehnten Jahrhunderts, ziemlich nahe lag. Als sie aufbrachen, nahm der Echojäger seinen brandenburgischen Kinderfreund und sagte zum Abschied: er woll' es noch einige Tage so treiben, vielleicht fände er doch noch Anklang. Als die Reisenden weiter fuhren, hörten sie, wie allmählich in der öden Gegend die kurz abgestoßenen, bedeutsamen Worte verhallten:

»Die Kartoffeln – werden in einem hölzernen Maß, welches eine Metze heißt, gemessen. Ebenso Mehl und Früchte. Die Butter wird auf einer Waage gewogen. Die Käse werden nach der Größe verkauft oder, wie die Eier, gezählt. Fünfzehn Eier oder Käse machen eine Mandel aus, dreißig ein halbes Schock und sechzig ein ganzes Schock.«

Ganz in der Entfernung noch hörten die Reisenden:

»Warum möchtest du deinen Rock nicht mit einem zerrissenen oder abgetragenen vertauschen? Nicht wahr, weil du beide mit einander verglichen und bemerkt hast, daß dein Rock nicht zerrissen und nicht abgetragen, also besser ist, als jener? Du sagst nun: Ich will meinen Rock behalten und nicht tauschen: denn mein Rock ist besser. Indem du vergleichst und urtheilst, gebrauchst du deine Seele oder deinen Verstand, und, indem du dich entschließest, deinen Rock zu behalten, gebrauchst du deinen freien Willen. Beide zusammen nennt man auch die Vernunft.«

»O wie unvernünftig!« polemisirte der Aelteste der Reisenden. »Wie schlecht, den Kindern schon beim ersten articulirten Lallen einzuprägen, was ein besserer und schlechterer Rock ist! Wäre hier ein Echo, es würde schon deßhalb auf diese Fragen nicht antworten, weil es Blasphemien sind.« Aber allmählich verrollte die rufende Stimme, und nur ganz leise noch hörten sie:

»Ich habe einen Garten gesehen, in welchem die Raupen fast alle Bäume und allen Kohl zerfressen hatten. Aber der Gärtner hatte auch nicht zur rechten Zeit die Bäume von den Raupennestern gereinigt. Welches ist die rechte Zeit?«

Die Brüder lachten über den Unsinn, und nur der Alte hielt ihn für tiefere Allegorie und wischte seufzend die nassen Augen.



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