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Erstes Kapitel.

 

Die Anleihe.

 

Der Graf von der Neige, mit welchem Herrn von Lipmanns Geldkatze noch immer Mäuschen spielte, hatte nun allerdings eine große mechanische Saug- und Pumpmaschine erfunden, vermittelst welcher er, wie Herr von Lipmann sagte, mit der Zeit selbst den Ocean hätte ausschöpfen können. Auch benutzte sie der Graf dazu, wenigstens einige Goldwellen aus dem Ocean (denn Herr von Lipmann verstand darunter seinen Credit und sein Vermögen) auszupumpen, weil der Banquier im Grunde doch das Genie des erfinderischen Grafen bewunderte und von der Saugmaschine für die höhere Wasserbaukunst sich keine geringe Resultate versprach. Indessen half Blasedown diese neue Bereicherung des Saug- und Pumpsystems in seiner Arbeit nichts. Er war nämlich seit einiger Zeit — sechs Jahre nach dem gebannten Gespenste — in Finanzverlegenheiten und wußte sich um so weniger zu helfen, als das Korn mißrathen war, und Gertrud seit den Heustoppeln, die sie aus Tobianus Haaren zog, aus Mißmuth den Heubau vernachlässigt hatte. Man denke sich nur, wie die Kinder inzwischen herangewachsen waren! Wie frische junge Erlen schwankten sie und wiegten sich in der Luft, wie Maikäfer schwirrten sie auf, sie brummten und summten im Hause herum, daß Gertrud die zehn Thaler, welche nun nöthig waren, um sie in die Stadt zu schicken, um ihrer los zu werden, gern gegeben hätte; doch hatte sie Blasedow nicht. Das wurmte ihm die Ruhe und den Schlaf ab: er war zwar längst eher mit Holzbirnen, als mit Kirschen zu vergleichen; jetzt aber dörrte er gar wie Backobst zusammen und verlor sogar den Muth, weil der einzige Graben, den er noch bis zu seinem Ziele zu überspringen hatte, nicht etwa in einer gesellschaftlichen Rücksicht, in einem Zank mit seiner Frau, in einem Risico seines Amtes, sondern in zehn Thalern bestand, die die Jungen haben mußten, wenn sie in der Stadt nun Dasjenige praktisch weiter ausführen sollten, was sie in der Theorie bei ihm gelernt hatten.

Blasedow sah überall diese zehn Thaler, welche ihm fehlten. Er sah sie im Traume, in der Luft, er nahm sie hundertmal in Gedanken ein, aber er konnte sie nicht wieder ausgeben, er konnte sie dem Schlachtenmaler, als dem Aeltesten, nicht anvertrauen, so viel Schinken und Würste (als Guirlanden der Triumphpforte in die Zukunft hinein) auch schon in Bereitschaft lagen. Wie sie im Rauche hingen, hingen auch die zehn Thaler darin, aber im andern Sinne. Blasedow hatte sogar schon das Küchenmesser ergriffen und Gertrud mit Gefahr ihres Lebens gefragt, ob sie nicht in einem alten Strumpfe spare, und er wisse es, sie lege sich etwas auf seinen Tod zurück, sie solle nur ihr Leben bedenken, denn jetzt müss' es heraus! Gertrud vermaß sich hoch und theuer, daß sie immer noch denke, er würde sie unter die Erde bringen, und dort unten würden wohl alle Schmerzen einmal aufhören, alle Schulden bezahlt und alle Sünden vergeben seyn. Blasedow ließ das Messer sinken, und Gertrud weinte bitterlich. Sie könne Bürgen stellen aus dem ganzen Dorfe, sagte sie, wie jämmerlich es ihr ginge. »Ja,« antwortete Blasedow mit verbissenem Spott und drohender Anspielung: »Siebenbürgen.« Nämlich er meinte, daß ihr Erspartes nach Ungarn und Siebenbürgen hinwandre, wo ihr erster Sohn noch immer in Arbeit war. Gertrud merkte dies wohl und fuhr auf ihn zu: »Soll er fechten?« Blasedow ertrug ihren Tigerblick und zermalmte ihn, daß er scheu wurde und es nicht aushielt. »Schlechtes Weib!« seufzte er und ging gravitätisch aus der Küche.

Was half ihm aber sein Stolz? Seine Söhne waren nun im Hafen seiner Wünsche angelangt. Es fehlte nur noch der Schilling, den die Londoner Themsefahrer verlangen, um die Reisenden an den Strand zu setzen. Geldnoth, gestand er sich ohnedies, ist die schmutzigste Lage, in welche ein edler Mensch kommen kann: denn selbst ein weiser und gerechter Mann muß an sich irre werden, wenn ihm sein Geld ausgegangen ist. Er wollte damit gewiß sagen, daß das Unedle der Armuth in dem allgemeinen Nichtigkeitsgefühle liegt, welches uns beherrschen würde, wenn uns Stand und Einkommen nicht hälfen, uns zu isoliren und über uns emporzuheben. Der Normalzustand ist der, daß man kein Geld hat, und dieser ist fürchterlich. Blasedow fühlte es wohl, wie Feld und Flur dann ihre Farbe verlieren, wie selbst die freudigste Botschaft, bringt sie grade das Fehlende nicht, von uns mit Gleichmuth angenommen wird. Das Geld ist die Unruhe der Lebensuhr. Nur durch sie gehen die Stunden mit der Zeit vorwärts. Blasedow wußte aber Mittag von Abend nicht mehr zu unterscheiden. Er war in den Wendepunkt gekommen, wo die Richtung der Augen sich einwärts kehrt, wo sich, wie bei Magnetischen, alles Leben auf das Sonnengeflecht hinzieht, und man Pistolen neben dem Träumenden abschießen kann, ohne ihn zu erschrecken. Blasedow war nebenbei nicht harmlos genug, um an seiner Verlegenheit die bloß persönliche Klemme zu sehen, sondern er bezog die fehlenden zehn Thaler bald auf den ganzen Zusammenhang der Weltordnung, auf die wichtigsten Begebenheiten in der Geschichte und das menschliche Elend im Allgemeinen, auf seinen Pessimismus, der ihn alle Dinge schwarz sehen ließ. Aus zehn Thalern, die ihm fehlten, schlug er sich eine Theodicee über Zweck, Ursache und Mittel der Schöpfung, schlug er sich eine ungeheure Medaille, die er dem vor seinen Augen sich verkörpernden Weltgeiste an einem Armensünderstricke umhängen wollte. Des Nachts schüttete er die zehn Thaler über den gestirnten Himmel aus und lachte, als sie fast alle zu den Füßen der hellglänzenden Venus rollten. Er nahm Dante's Hölle zur Hand, um zehn Thaler zu vergessen. Er las und las, bis sich ihm die Großen, die dort schwitzten, alle in das Brustbild des Landesfürsten verwandelten, welches auf den Thalerstücken geprägt war. Er griff nach Kants Kritik der reinen Vernunft und wollte sich von diesem metallischen Zuge seiner Phantasien befreien, aber die Philosophie verwandelte sich gleich in Numismatik, in den Antinomien erblickte er die sich widersprechenden Einnahmen und Ausgaben, und auf Seite 348 seiner Auflage erblickte er sogar das traurige Schema der Negation: Nichts ist 1) der leere Begriff ohne Gegenstand ( ens rationis), 2) der leere Gegenstand eines Begriffes ( nihil privativum), 3) die leere Anschauung ohne Gegenstand ( ens imaginarium), 4) der leere Gegenstand ohne Begriff ( nihil negativum). In diesem vierten Zustand befand er sich, in einem radicalen oder ratzekahlen Nichts, im nichtigsten Nichts, im nihil negativum. Blasedow schlug das Buch zu und sich vor den Kopf.

Rath mußte nun aber doch geschafft werden. Die Kinder hatten längst die Reifen der väterlichen Erziehung gesprengt; wie junger Wein gährte ihr Uebermuth; sie bedurften neuer Gefäße, um sich zu klären und zu erhalten. Blasedow empfand eine solche Ehrfurcht vor den Schöpfungen seiner Weisheit, daß er sich in Acht nahm, ihnen eine strenge Zumuthung zu machen. Er glich den fürstlichen Vätern junger Regenten, wenn jene selbst nicht an die Regierung gekommen waren; sie nennen ihre eigenen Kinder Majestät. Er ordnete sich ihnen unter, er betete ihr Talent und ihre Zukunft an. Was er ihnen geben konnte, das hatten sie. Konnt' er ihnen nun doch nicht einmal zehn Thaler mehr geben! Gertrud rieth zu einer Eingabe an das Consistorium; doch Blasedow entgegnete, daß man dort eher geneigt wäre, ihn um zehn Thaler zu strafen, als damit zu belohnen. Auch würde ihm Blaustrumpf kurz erwidert haben, daß das Consistorium das landesherrliche Münzregal nicht besäße. Dann dachte er an Basse in Quedlinburg und wollte einen Roman schreiben: »Die Geister um Mitternacht;« doch wollte Basse erst das Buch sehen, dann drucken und erst nach Ablauf zweier Messen bezahlen. Herr von Lipmann fiel ihm jetzt ein. Er wollte bei ihm ein Anlehen eröffnen. Wie ein Blitz fuhr dieser Gedanke in den Glockenstuhl seiner Träume. Seine Augenbraunen waren fast versengt vom Lichtglanz dieser Hoffnung. Er setzte sich hin und schrieb an Herrn von Lipmann:

»Kommen Sie, Herr von Lipmann, nur einen Tag zu uns heraus; denken Sie an den Grafen nicht und die Güterlotterie, sondern an jenes Himmelslotto, in dem es nur Nieten gibt für die, welche schmutzigen Herzens sind! Reißen Sie, wenn nicht Ihren Leib, doch Ihren Geist von den Estafetten und Telegraphen, von den Coupons und Pfandbriefen, von Ihrem Garten los, und wär' er noch so zaubervoll, Herr von Lipmann! Fragen Sie sich doch nur einen Augenblick: Was bin ich? Was hab' ich? Wohin fahr' ich? Ach, Herr von Lipmann, hätte ich Sie vor mir, ich zöge Ihnen den blauen Frack von so feinem holländischen Tuche aus, nähme Ihre schwere Uhrkette, Ihre Ringe; ich legte es Alles an einen Gewahrsam und nähme Sie in Hemdärmeln mit hinaus in den Wald, wo das Eichhörnchen knuspert und das Birkhuhn unter den Sträuchern vorüberhuscht! Und eigentlich, Herr von Lipmann, auch das ist nicht der Ort, wohin ich mit Ihnen wallen möchte, sondern hoch hinauf in die Luft, wo es keine Stiege gibt, in die funkelnde Sternennähe, in die Gebirge der Phantasie, wo unsre Hoffnungen wie Sanct Gottharde ragen, unsre Ahnungen Höhlen, unsre Täuschungen Gletschern und Schneelawinen gleichen! Sollten Sie denn nur in die gewöhnlichen Wirthschaftsbücher der göttlichen Weltordnung, nur in das Conto der täglichen Einnahmen und Ausgaben im Himmel verzeichnet seyn und nicht auch, Herr von Lipmann, in jene großen Notizbücher der Gottheit, wo sie ihre besten Gedanken einschreibt, freilich oft flüchtig und nie so sauber und nett, wie im Wirthschaftsbuche der Weltökonomie, aber tiefsinnig dem Inhalte nach ein Gedanke, ein neuer, und wenn nicht dies, doch wenigstens die Bestätigung eines alten? Ach, Herr von Lipmann, es ist schwer, Philosophie zu lehren, wenn man sie für das Räthsel des Lebens hält; aber der Tod und die Ewigkeit, der Kreislauf unsrer Seele durch die Sterne, die Läuterung unsrer Gewänder, die beim Einen von Leinwand, beim Andern von Asbest sind, ihre Läuterung in dem Urlichte der Sonne und der Blick in's Antlitz der Allmacht! Welch eine Stufenleiter, wo schon die unterste Sprosse, der Stein, auf dem Jakob schlief, und der unser Grab decken wird, so schwer zu heben und so unendlich Räthselhaftes zu verschließen scheint! Ach, wir denken beim Tode nur dessen, was er uns nimmt, nicht dessen, was er uns gibt! Wir zittern, es einst nicht mehr zu können, wir weinen, daß einst unsre Augen trocken seyn müssen, es fröstelt uns, daß wir einmal so kalt werden. Da schallt Musik aus den Bäumen eines Palastes, Echo trägt sie dem Echo zu, die Gäste bilden mit ihren Augen eine Reihe Brillanten, die alle à jour gefaßt sind, à jour éternel, auf ewig! Und wie oft denkt man doch in dem Gewirr, daß Einer nach dem Andern sich leise aus ihm fortschleichen muß, daß man ihn, während die Andern zechen, hinaustragen wird, und daß er sagen muß: Leb' wohl, du gutes Tageslicht, leb' wohl, du seidener Sopha, du Mahagonytisch, du Polsterstuhl, leb' wohl, du Feder, die ich eben noch führte, leb' wohl, du Rollen eines Wagens, der vorüberfährt, leb' wohl, du heiseres Bellen des Hofhundes, leb' wohl, Alles, was mit mir nicht stirbt, nein, was so bleibt, wie es ist, wenn mein Auge nicht mehr sieht! Herr von Lipmann, nehmen Sie meine Hand, kommen Sie, ich sehe etwas, was uns aus dem dunkeln Grabe herauswinkt! Blicken Sie nur hin; da ist ja die Höhle des Plato, von der er spricht, um uns die Wesenheit der Ideen zu beweisen! Dunkler Raum um uns her – Feuchtigkeit tröpfelt von den Wänden der Höhle, aber am äußersten Ende winkt ein heller Sonnenschein. Und am jenseitigen Rande des Felsens, der dicht vor der Höhle steht, wanken ernste Schatten vorüber, stolze, gereifte Gestalten in langen Gewändern. Ja sie sind's, die Unsterblichen, wir hören ja ihren Fußtritt über uns; sie lassen jene Schatten dort an der Wand zurück; hinauf, hinauf, wir wandeln unter ihnen, wir sind im Lichte der Schöpfung mitten inne, wir wandeln kühn durch das Centralfeuer der Ideen, unverwundbar, unsterblich! Und beginnt dies selige Daseyn denn erst nach dem Tode? Flüstert es nicht zu jeder Stunde, wo wir unser Ohr für den Geist der Liebe und Offenbarung spitzen, um uns her, raschelt es nicht hinter den Wänden, lockt es uns nicht hinaus in die freie Welt, preßt es uns nicht die Brust zusammen so liebend und zärtlich, daß wir selbst im Schmerze Seligkeit empfinden? Ach, Herr von Lipmann, es gibt eine schönere Welt, als die wir erleben, eine Zeit, die sich nicht in Tag und Nacht scheidet! Rom, Griechenland kannten sie, die Weisen aller Jahrhunderte schmeckten sie, und wir dürfen ihrer noch immer harren und gewiß seyn, wenn wir weiße Feierkleider anthun und uns auf dem Scheiterhaufen unsrer irdischen Existenz, den Göttern ein seliges Opfer, selbst verbrennen! Wer säete Feindschaft unter uns Menschen? Tragen wir nicht Alle das Abelszeichen der Gottähnlichkeit an unsrer Stirne? Führt die Nabelschnur, der wir als Neulinge entbunden wurden, nicht zurück auf das Geheimniß des ersten Menschen, und sollen wir die Letzten seyn, die sich als Brüder erkennen? Ja, Herr von Lipmann, wenn Sie fühlen, daß die Börse mit all ihren Silberpiastern doch nichts gegen das gestirnte Firmament ist, daß die Staatspapiere zwar so tief fallen können, wie die Hölle, aber nie so hoch steigen, wie der Himmel; wenn Sie es über sich vermöchten, an meine Brust zu sinken und zu rufen: Auch ich bin in Arkadien geboren! – würden Sie, Herr von Lipmann, dann noch ein Darlehn von zehn Thalern Preuß. Courant für einen Gegenstand halten und nicht vielmehr sagen: Nimm, was du tragen kannst, es ist dein, wie es mein war! Ich aber bin nun stumm, presse mein armes, zerspringendes Herz zusammen und – hoffe.«

Nun hatte aber leider der erste Geschäftsführer der Firma von Lipmann nur die Procura für den Geld-, nicht für den Herzensbeutel des Hofagenten. Er vertrat ihn in Wien und London, nur nicht in Arkadien. Blasedow bekam in Abwesenheit »unsers Herrn von Lipmann« eine abschlägige Antwort. Der saubere Zettel des Handlungshauses war ein Strichregen am Abend einer schönen Landparthie; von den Wiesen, auf denen man tanzte, mußte man in die stickigen Kammern eines Bauernhauses. Oder wer schämte sich nicht eines Morgens der tollen und verworrenen Dinge, die er im Jubel eines vorangegangenen Festabends ausgesprochen! Dieser moralische Ekel und Jammer, der weit ärger ist, als der physische! Und doch will dies Alles noch nicht Blasedows Schmerz beschreiben: denn bei ihm kam Alles zusammen, Wehmuth und Stolz; er sah, daß er nicht nur nichts bekommen, sondern sogar noch etwas verloren hatte. Er würde geweint haben, hätte er nicht gefühlt, daß man im Comptoir des Hofagenten über ihn lachte.

Für diejenigen, welche am ersten Juli ihren Miethzins zahlen sollen und erst am fünfzehnten das Geld dazu haben, ist dies Kapitel nicht geschrieben. Sie verstehen Blasedows Lage ohne Ausmalung. Ich hätt' es auch gern umgangen; allein wie kann Blasedow seine Söhne in die Residenz schicken? Wie kann auch eine Krisis unsers Helden übergangen werden, die schon deßhalb dichterisch ist, weil sie gerade so menschlich ist! Nichts unterwühlt die Einheit des gesellschaftlichen Friedens mehr, als Mangel in einer Lage, wo man auf den Mangel nicht angewiesen ist. Die baare Armuth hat nur für den etwas Rührendes, der sie selbst nicht ertragen könnte; allein eine völlige Auflösung des moralischen Gleichgewichts kann immer dort eintreten, wo der Geist über die Materie weit hinaus ist und das Ideal plötzlich in die Lage kommen soll, einen Wechsel zu bezahlen. Und so wie der arme Knabe, der in eine höhere Klasse versetzt ist, an den Häusern entlang schleicht und nicht weiß, woher er das Geld nehmen soll, um sich die nun nöthig werdenden Bücher zu kaufen, so irrte Blasedow umher, und hatte nun gar noch die Demüthigung mit seinem enthusiastischen Briefe und dem kalten Wasseraufguß der Procura. Er schämte sich schon fast, der Verzweiflung nachzugeben, und war in das zweite Stadium financieller Noth eingetreten, in das der Erfindungsgabe. Er blickte nicht mehr deßhalb so scheu, weil er die zehn Thaler nicht hatte, sondern, weil er wohl darüber nachdenken mußte, wie er sie sich anschaffen sollte. Er mußte sich in die krampfhafte Aufregung versetzen, ohne die man gar nicht den Muth hat, etwas zu borgen. Er mußte den nur zufällig Verlegenen spielen und kam gar nicht mehr zur Besinnung.

Tobianus war es nun, der zu den Präludien der Blasedow'schen Erziehung den Schlußstein liefern sollte. Und doch vermochte Blasedow nicht, dabei Gewalt zu brauchen. Ein schnelles Wort würd' ihm von Tobianus die zehn Thaler verschafft haben, dieser hätte sie aus Furcht gegeben und ohnehin aus Liebe, wenigstens zu Gertrud. Zu einem Industrieritter war Blasedow trotz dem, daß er genugsam Ritter von der traurigen Gestalt heißen konnte, doch nicht fähig. Er hatte eine edle und verschämte Natur; er fürchtete überdies, Tobianus mehr Zinsen, nämlich moralische und Umgangszinsen, zahlen zu müssen, als das Capital werth war. Er fing indessen, da keine Thür und kein Truhenschloß anders offen war, allmählich an, seine Operationen zu machen. Man muß auf dem Lande leben und noch obenein Pfarrer seyn, um zehn Thaler für etwas Großes zu halten. Wer, wie Blasedow, nur Korn sah, Naturalzehnten und die kleinen baaren Accidenzien für Leben und Tod in der Gemeinde, der glaubte gewiß, jene Summe nur durch eine scharfsinnige Strategie und consequente Belagerungskunst erobern zu können. Blasedow eröffnete ein förmliches Geniewesen, um, wenn nicht Tobianus in die Luft zu sprengen, ihn doch zu bestimmen, daß er zehn Thaler springen ließ. Er zog Lauf- und Schanzgräben um ihn her und rückte den Casematten, wo Tobianus seine Reichthümer feuerfest gelagert hatte, immer näher. Tobianus blühte wie ein dicker Tulpenkelch auf, seitdem Blasedow gegen ihn so viel Sonnenschein entwickelte. Deßhalb dacht' er auch, der Schlag sollt' ihn rühren, als Blasedow eines Tages ganz leise zu ihm sagte: Tobianus, schießen Sie mir zehn Thaler vor!

Die menschlichen Charaktere geben sich in keiner Lage so frei und natürlich, als wo man ihnen etwas abborgt. Seneca und seine Schule nahmen das Unglück als Prüfstein des Charakters an. Er sagte: Ein weiser und gerechter Mann im Kampf mit dem Schicksal ist ein Schauspiel für Götter. Allein man kann ein großer Stoiker seyn und doch sehr kleinliche Empfindungen verrathen, wenn man ihm etwas abborgt. Es wird nicht gesagt, daß es immer nöthig wäre, das Verlangte zu geben; allein die Ausflucht schon, in der man sein Heil vor Zudringlichen sucht, oder die Art, wie man ein wirkliches Unvermögen entschuldigt, wirft gewiß die grellsten Lichter und die dunkelsten Schatten auf die Menschen. Erinnerte sich doch auch Blasedow aus seiner Jugend, daß er als Kostgänger in der alten gothischen Musenanstalt, die ihn erzog, niemals über sich vermocht hatte, seinem Nebenmann, der Muth oder Noth genug hatte, um borgen zu können und zu müssen, etwas abzuschlagen. Und es war nicht die Gutmüthigkeit, gestand er sich späterhin oft, die ihn so apostolisch mildthätig machte, sondern Ehrgeiz, weil er wohl fühlte, im Kampf mit der Knickerei und den peniblen Empfindungen offenbare sich der Mann. So oft sich Jemand auf der Schule und Universität an ihn festsaugte und unter einem Thaler oder zwölf Groschen nicht wieder losließ, so bekämpfte er ordentlich in sich den angebornen Ameisentrieb der Sparsamkeit und schüttete ohne Weiteres seine Taschen aus, wo sich freilich unter dem gebackenen Korn von Brodkrummen selten viel geschrotetes Korn von Viergroschenstücken vorfand.

Nun hätte ja auch nach dieser Theorie Tobianus immerhin das Geld verweigern können; aber er mußte nicht in jene moralische Epilepsie fallen, die man immer bei den Schlafrocks- und Pantoffelnaturen antrifft, wenn man ihnen den Schreck verursacht, sie um ein Darlehen zu ersuchen. Die Furcht, das Geld nicht wieder zu erhalten, hängt aus den verglasten Augenfenstern eines solchen Menschen plötzlich ein Leichentuch heraus, und die ehrlichsten Leute, die nur grade im Augenblick nicht bei Casse sind, können sich in den Gedanken des Erschrockenen wie Spitzbuben abspiegeln: denn er hält sie dafür. Er gibt das Geld schon auf, was er leihen muß. Zu einer Nothlüge fehlt das Genie und die schnelle Besinnung, bei Tobianus sogar die moralische Erlaubniß. Hätte Tobianus nur gesagt: Ich gebe sie Ihnen; allein in acht Tagen brauch' ich selbst zehn Thaler: wollen Sie mir dann zwanzig wieder geben? Nein! So mußte sich Blasedow unter seiner eigenen Pumpe quälen und winden und mußte ganze Stücke Luft, die sich bei der gehemmten Respiration seiner geängsteten Lungen in der Kehle sammelten, hinunter schlucken, ja, mußte sogar die Phrase, die den ganzen zweiten Teil seiner Lebensgeschichte entschied, noch einmal wiederholen, wobei es ihm wie vielen stolzen Leuten ging, daß man nämlich mitten in der Periode plötzlich keine Luft hat, und Einem die Stimme versagt. Wie leicht kann man das nicht Furcht nennen? Da es doch nur Stolz und Adel ist, indem wir nicht gemein seyn wollen, und etwas Bedenkliches mit voller Brust aussprechen und doch grade in der Kehle nicht Kraft genug haben, um anzügliche und entschiedene Erklärungen, z. B. gegen vorlaute Secondelieutenants, gegen bramarbasirende Studenten, gegen grobe Polizei-Inquirenten, in einem mit unsrer Entrüstung parallel laufenden Athem zu Protokoll zu geben. Tobianus verstand nun wohl, wessen Blasedow begehrte. Es scheint, als wollt' er nicht Nein sagen; warum aber nicht gleich Ja? Warum erst den armen, zerknirschten Collegen so weit bringen, daß er wie ein ungeduldiges Kind die Karten zusammenwirft, die er so sauber und leise an einander gelehnt hatte, und mit etwas verzerrter Geberde auffährt: »Lassen Sie's nur!« Tobianus sagte: »Sie sind wunderlich, ich bin ja bereit;« und ein Saal mit tausend Lichtern wurde mit diesen Worten für den elektrisirten Blasedow aufgerissen. In all' seine Adern schoß es wie siedender und wärmender Wein hinein, seine Glieder hatten wieder die alte Länge, und ein stilles seliges Lächeln umspielte wie die aufgehende Sonne den kleinen Montblanc seiner Nase. Tobianus nahm aber dies Lächeln wie die Affenpfote des Schalks, die hinter einem Vorhange plötzlich sichtbar wird, fürchtete Ueberlistung und verlor sich nun in jenes unglückselige Zaudern, welches Darleihern eigenthümlich ist. Denn sie geben nie schnell, was sie sogar schon verwilligt haben, sondern weiden sich erst an der Demüthigung des Andern, steigen eine Staffel nach der andern über ihn hinauf, erlauben sich, was ihnen sonst nie gestattet gewesen wäre, zupfen ihm an den feinsten Haaren, die mit den Gedanken seines Gehirns capillarisiren, bringen zur Sprache, was sie längst einmal für eine passende Gelegenheit auf dem Herzen hatten, und richten sich immer erst die Hildebrands-Schadenfreude eines kleinen Canossa an, ehe sie die Absolution ertheilen. Tobianus bediente sich hier seines Vortheils, wie jeder Philister. Die noch zu zahlenden zehn Thaler Pr. Courant deckten ihm Rücken und Flanken. Nun konnte er operiren militärisch und chirurgisch. Er schlug, ein langweiliger Leporello, ein langes Register von Geschichten auf, die er alle seinem unglücklichen Freunde vorrückte. Er verwies ihm seine Kinder- und Rinderzucht, seine geistliche und leibliche Ackerwirthschaft, sein Benehmen mit Schulmeistern, Küstern und Kindbetterinnen. Er brachte Blasedows Bleistiftspolemik am Rande der Journale, die ihn noch an den Rand irgend eines Abgrunds bringen würde, zur Sprache und schloß, wie der Philister dies dann immer thut, wenn er sich warm und Alles vom Herzen und der Leber herunter geredet hat, mit Enthusiasmus. Er rückte seine Sammtkappe auf ein Ohr, ließ nun erst Wein holen, stopfte zwei thönerne Pfeifen, lud Blasedow ein, die Nacht bei ihm zu bleiben, und zeigte mit lachenden Spiegelblicken in sich selbst, daß er im Grunde doch ein genialer Mensch wäre und zehn Thaler Pr. Courant so ohne Abschied zum Fenster hinauswärfe. Er that, als beständen die Fidibus, mit welchen er seinen Kanaster anzündete, aus zusammengerollten Tresorscheinen, umarmte seinen »Freund, seinen einzigen und wahren Freund,« mehrere Male und gab ihm zuletzt sogar die gewünschte Summe, mit dem Bemerken, ob er nicht noch zwei Thaler acht Groschen mehr haben wolle? Blasedow steckte das Geld mit Zufriedenheit zu sich und riß sich aus den Liebkosungen des Collegen los. Dieser gab aber nicht Ruhe, sondern begleitete ihn noch in tiefer Nacht über sein Dorf hinaus und schied von ihm wie von einer Geliebten. Blasedow aber lief spornstreichs in die Nacht hinein und ließ sich von keinem Irrlicht locken. Er war kalt und nüchtern geblieben. Es fröstelte ihn sogar, weil er ohnedieß nicht wußte, sollt' er der Freude oder dem Schmerze nachhängen. Dennoch war er stolz genug, auch diesen Gedanken in sich auszuführen: »Dummköpfen imponiren Männer von Werth, selbst wenn sie Lumpen tragen. Er mußte sich zuletzt noch für die Ehre bedanken, daß man baarfuß vor seine Thüre kömmt und bettelt. Er mußte zu dem Capital, das ihn so schmerzte, noch ein Agio von Begeisterung geben. Großer Genius, wie dank' ich dir! Du hast mir ein Adelswappen in den Schild meiner Stirne gesetzt, das mir Achtung selbst da verbürgt, wo ich nicht hehlen kann, daß ich darbe!« Es war die erste Nacht seit langer Zeit, die Blasedow nicht durchstöhnte, sondern durchschlief.

 


 


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