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Das Redaktionstelephon klingelt.
»Schreiben Sie den Nachruf für Stefan Großmann?«
Gerne. Nekrologe-Schreiben ist ein Vergnügen. Man kann Milde und Tücke, Gerechtigkeit und Rache, Objektivität und Abneigung zu einem süffigen Drink mischen und der Tote muß schweigen. Ja, ich schreibe den Nachruf für Stefan Großmann.
Ich brauche eine Formel für ihn. War er ein Zeitungsschreiber? Sicher gehörte er zu den fünf oder sechs deutschen Journalisten aus Passion, aber sein Liebesverhältnis zur Zeitung war allmählich zur Strindbergehe ausgeartet, er hielt es bei keiner Zeitung aus, vor allem nicht bei seiner eigenen. Was war er denn? Er verpfuschte seine Zeitungsarbeit durch seine Phantasie, und er verdarb seine Phantasie durch Meinungsmache. Zugegeben, seine Novelle »Der Vorleser der Kaiserin«, im September 1914 geschrieben, im Oktober 1914 in der »Neuen Rundschau« erschienen, war die erste literarische Arbeit, die in Deutschland die Herzen gegen den Krieg weckte. Warum blieb er nicht bei der Stange? Warum blieb er nie bei der Stange? Warum schwoll seine Stimme nicht an? Warum floh er immer wieder vom Sein in den Schein, vom Leben ins Theater und wieder zurück, von der Leere des ausgeräumten Theaters ernüchtert, in die volle Welt des Realen? So verpfuschte er sich Schein wie Sein. Zugegeben, Großmanns Erzählung über den armen Princip, dem man den Weltkrieg, welchen er entfesselt hat, verheimlichte, war eine 1915 geschriebene Vorwegnahme künftiger grausiger Vorgänge, warum ist seine dichterische Phantasie immer abhängig gewesen von Depeschen des Wolffbureaus? Vom Standpunkt des Journalisten gesehen, war Großmann unzuverlässig. Vom Standpunkt seines dichterischen Talentes gesehen hat Großmann sich selbst zu oft verlassen. Er hat, zugegeben, seiner Zeit gedient, aber die Zeit mußte auch ihm dienen. Er fraß die Ereignisse, aber die Ereignisse haben auch ihn gefressen. Als sein einziger Roman »Die Partei« erschien, schrieb Paul Ernst, Großmann müsse sich hinsetzen und in einigen großen Romanen das Bild der deutschen Großstadt malen, den unbarmherzigen Journalistenroman, den von keinem auch nur angefangenen Richterroman, den Roman der demolierten Ehe. Großmann hat all das nicht einmal versprochen, dennoch ist er es schuldig geblieben. Er hat sich immer wieder der Gegenwart preisgegeben, und so verdarb er sich sein bißchen Ewigkeit. Mit fünfzig Jahren erst begann er sich ein wenig zu sammeln, dieser immer Zerstreute.
*
So wäre mein Nekrolog fertig, die Trauer um den Verblichenen wäre richtig mit einem leisen Kichern gemengt. Wie aber, wenn die Todesnachricht falsch war und der Nachruf zehn, zwanzig Jahre ungedruckt bleibt? Wie, wenn jetzt erst die reife Arbeit Großmanns beginnt? Wie, wenn dies alles bloß Vorarbeit war und Vorerlebnis? Wie, wenn ich jetzt erst, entfernter von einer Gegenwart, die mir fremd zu werden beginnt, zu meiner Sammlung und damit zu meinem Werke komme? Ich habe lange genug die Zeit in mich hineingetrunken, ich war besoffen von vielen Gegenwarten, darf ich endlich den Unruhestand verlassen? Kann ich endlich aus dem aktiven Dienst der Zeit scheiden? Was kann ich schaffen in zehn Jahren Stille – aber wie kann ein Zeitungsmensch von zehn Jahren Stille sprechen?
Im Mai
1925. Stefan Großmann.