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Der Fliegenstich

Ein großes Unglück kann ein großes Glück sein. Das klingt ein bißchen pompös und zweideutig, aber, glaub' mir, Erschütterungen sind heilsam, plötzliche Überfälle des Schicksals stärken, wenn man nicht draufgeht. Na, und was ist denn viel daran, wenn man flöten geht, wie der schönste wienerische Ausdruck heißt? Aber man ist zähe, man geht nicht so leicht in die Brüche. Dagegen wird man so leicht bequem, eingetrottet in seinen ausgetretenen Lebensweg, faul und schweren Blutes. Wie gesund sind da Erschütterungen! Doch ich wollte ja gar nicht Erkenntnisse verschleißen, sondern die Geschichte einer Frau erzählen, der etwas Fürchterliches zugestoßen ist und die darüber glücklich wurde.

Die Dame, um die sich meine Geschichte dreht, ist keine zwanzigjährige, ganz im Gegenteil, es ist eine beleibte, graue, was man so nennt: stattliche Frau, nicht besonders interessant, die Gattin des Hofrates Kirnbauer aus der Landesfinanzdirektion. Auch ihr Dasein ist gar nicht auffällig oder besonders gewesen, sie war einmal jung, appetitlich, schlank, eine brillante Walzertänzerin und beim Schlittschuhlaufen mit einem Preis gekrönt. Der Hofrat Kirnbauer hat sie sogar aus Liebe geheiratet. Er war einmal, was man dem bissigen und grämlichen Herrn heute kaum ansieht, ein bildhübsches, mageres Bürscherl, der gewiß eine reiche Partie hätte machen können. Aber er nahm seine jetzige Frau, die keinen Heller hatte. Ich glaube, er hat sich damit übernommen, er hätte nicht so unüberlegt edel handeln sollen. Es hat ihn nachträglich nicht gereut, nein, das will ich nicht sagen, aber er ist nicht dauernd froh geblieben, er ist mit der Zeit mürrisch geworden. Er hat seiner Frau nichts vorgeworfen, dazu ist er viel zu anständig und selbstbeherrscht gewesen, nur wenn er ganz allein mit sich war, da ist ihm, glaub' ich, in aller Stille der Gedanke aufgestanden: Wo wär' ich heute, wenn ich klüger geheiratet hätte! Niemand hat je so etwas von ihm gehört, Gott behüte, aber sein mürrisches Gesicht, besonders ein verflucht schiefes Lächeln erzählte etliche böse Geheimnisse.

Sie bekamen zwei Kinder, Mädeln, die groß wurden und für sich lebten, nicht gerade in innigster Vertrautheit mit ihren Eltern. Man saß so jeden Tag beisammen, nahm die Mahlzeiten gemeinsam, las abends, nach dem Nachtmahl, um die Lampe gruppiert, machte Sonntag vormittag gemeinsame Spaziergänge, wobei die Mädchen immer vorausgehen mußten, während der Hofrat mit seiner Frau, meistens ohne ein Wort zu reden, hinterdrein zottelten. Mit den Jahren war nämlich nicht nur der Vater mürrisch geworden, sondern auch sie, die Mutter, verlor ihre Munterkeit und wurde trocken. Es gibt so ein Gesetz der Gleichwerdung in der Ehe, ein verdrießliches und gefährliches Gesetz. Dieses Einander-ähnlich-Werden habe ich hundertmal gewahrt, ein Leichtsinniger hat allmählich eine Schwersinnige sorglos gemacht, ein Schlaumeier hat seiner einfältigen Frau allerlei Listen eingegeben, das Ansteckendste aber ist diese graue Laune, dieses kleinliche, pedantische, unfrohe Mürrischwerden. Die frische Natur der Hofrätin hat sich lange gewehrt. Sie hat erst gehofft, daß er, der Vater, in der höheren Rangklasse, wenn die kleinsten Beamtensorgen wegfallen, wieder fröhlich wird. Vergebens ... Dann hat sie gehofft, mit ihren Mädeln froh zu werden. Sie hatte ursprünglich den Willen zur Fröhlichkeit in sich, ein Bedürfnis, einfach gut zu sein und kameradschaftlich gut zu werden. In den allerersten Jahren, als die Töchter noch ganz klein waren, ging's auch noch leidlich. Da konnte sie stundenlang auf der Erde liegen und mit ihren Kindern spielen; aber dann wurden die Mädeln größer, es kam der Egoismus der jungen Generation über sie. Die Mutter war ja ganz angenehm, aber schließlich will man mit jungen Menschen, mit Freundinnen, mit netten jungen Leuten beisammen sein. Ihre Anhänglichkeit war zuweilen – Gott, sie sagten es nicht direkt – lästig. Sie sollte sich bescheiden und hinten mit dem Vater gehen. Zu denen vorn gehörte sie nicht mehr! Manchmal wurde sie sogar ein bißchen lächerlich, so heuer beim Fasching, beim alpinen Kränzchen, wo sie absolut nicht die Gardedame abgeben, sondern mit den jungen Herren »einmal nur!« Walzer tanzen wollte. Die Töchter, die darauf brannten, sich endlich einmal auszutanzen, mußten ihre jungen Herren beim ersten Tanz an die Mutter abgeben, so versessen war sie drauf. Damals waren die Töchter hart daran, schnurstracks wieder nach Hause zu fahren. Zum Glück legte sich der Vater ins Mittel und sagte zur Mutter: »Laß doch diese Abgeschmacktheiten!« Es ging ihr, wie gesagt, nicht gut, der Hofrätin Kirnbauer. Grau, fade, ereignislos verging ihr Leben, ohne Hoffnung auf Überraschungen, und gerade diese Hoffnung auf etwas Außerordentliches braucht die Seele!

Da geschah das große Unglück. Sie hatten Sonntags eine Landpartie nach St. Veit gemacht und gingen mittags auf den Himmelhof, um dort im Freien ihr Mittagessen zu nehmen. Da schwirrte in der Sonne ein Insekt um sie, eine große brummende Fliege. Das war lästig. Die Frau Hofrat suchte das summende Tier mit der Serviette zu verscheuchen, da war sie auch schon in den Arm gestochen. Der Hofrat sagte noch, über die Abwehrungsversuche ärgerlich: »Das reizt die Bremsen erst recht«, und als der Arm ein wenig anschwoll, da murrte er sogar: »Das kann auch nur dir passieren.« Aber als nach einigen Minuten der Arm immer höher anschwoll, da verstummte sein Knurren, er nahm sein Taschentuch und verband den heißen Arm. Eine gewisse Unruhe trieb ihn zum Aufbruch. Sie fuhren nach Hause, schweigsam und unmutig, den schönen, sonnigen Sommertag nun in der lichtlosen Stadtwohnung verbringen zu müssen. Frau Kirnbauer fühlte das Bedürfnis, sich bei den Mädeln zu entschuldigen, und sagte zu ihrem Mann: »Könnten sie nicht draußen bleiben und uns abends nachkommen?« Der Herr Hofrat erwiderte nur kurz: »Allein?!« Und so saßen sie nachmittags in der dämmerigen, verhängten Wohnung. Franziska, die jüngere Tochter, wollte einen Arzt holen, doch die Mutter wehrte ab: »Wozu? Das kostet eine Menge Geld!« Sie war gewohnt, an die Rangklasse zu denken, in der man haushalten mußte. Brigitte, die ältere Tochter, zog sich mißmutig in das Mädchenzimmer zurück; sie hatte gehofft, nachmittags auf dem Himmelhof einen ihrer Tänzer zu treffen. Die Mutter legte sich essigsaure Tonerde auf den Arm, und so konnte der Hofrat ins Café gehen. Dieser Nachmittag in der dämmerigen Wohnung, während jeder der vier Menschen allein blieb und sich um die anderen nicht weiter kümmerte, trat allen nachträglich klar ins Bewußtsein. Sie sahen immer wieder die Mutter in der Sofaecke mit dem verbundenen Arm sitzen und mit ihrer sanften, müden Stimme sagen: »Wozu? Das kostet eine Menge Geld.« Franziska besonders erinnerte sich späterhin an den kurzen strengen Ton, als der Vater bei der Tür im Fortgehen sagte: »Ich gehe zu meiner Schachpartie.« Die Mutter in der Sofaecke nickte bloß ...

Als Hofrat Kirnbauer gegen halb neun zurückkam, fragte er befremdet: »Hast du nichts fürs Nachtmahl hergerichtet?«, denn er hatte den Fliegenstich fast vergessen; aber da antwortete aus der dunklen Ecke, in der die Mutter saß, Franziskas Stimme: »Vater, ich glaube, es geht der Mutter nicht gut.« Jetzt wurde Brigitte aus ihrem Zimmer gerufen, die Lampe wurde angezündet, und da sah man, daß der Arm bis zur Schulter hoch angeschwollen war. Der Hofrat sagte jetzt: »Vielleicht sollte man doch den Arzt rufen!« Aber wo war der Sonntags zu finden, und vielleicht würden die Umschläge helfen.

Nachts lag die Mutter da und fieberte schon. Am anderen Morgen mußte sie ins Krankenhaus gebracht werden. Der Arzt schüttelte den Kopf, es war zweifellos eine Blutvergiftung. Frau Kirnbauer lag schon in Delirien und schrie. Meistens verstand man sie nicht, weil sie so hastig durcheinander redete. Als sie den Arzt gewahrte, sagte sie halb bewußt: »Das kostet fünfzig Gulden.« Der Herr Hofrat sagte sanft: »Anna, wir sind bei dir«, sonst pflegte er sie »Mutter« anzureden, aber sie wiederholte mit dem Eigensinn der Delirierenden: »Fünfzig Gulden ... Fünfzig Gulden ... Fünfzig Gulden.«

Am dritten Tag nahm man ihr den rechten Arm ab. Sie war seit vierundzwanzig Stunden bewußtlos, und man hatte die Hoffnung fast aufgegeben. Der ganze Leib war mit eiterigen Pusteln bedeckt. Sie wälzte sich in ihrem Bette, stöhnte, schlief und erwachte nur für Sekunden. Abwechselnd saßen der Vater oder eine der Töchter bei ihr. Einmal schlug sie die Augen auf und wurde gewahr, daß sie keinen rechten Arm mehr hatte. Brigitte, die Ältere, saß bei ihr und sah den Blick der Mutter, diesen entsetzensvollen Blick zur rechten Schulter. Das Mädchen preßte die Lippen zusammen, um vor diesem Blicke nicht aufzuschluchzen; aber die Kraft versagte ihr, ein Wimmern und Schreien brach aus dem Munde des Mädchens, daß die Wärterin aus dem Nebenzimmer kam und mit strenger Mahnung sagte: »Aber Fräulein!« Da drehte sich dieser schwere, hundertfach wunde Körper im Bette mühselig um und versuchte, mit der einen gebliebenen Hand das Haar Brigittens zu streicheln.

Das hohe Fieber wollte nicht schwinden. »Wir wollen sie in ein Wasserbett legen«, sagte der Primarius. Fast drei Wochen ist die Arme so im Wasser gelegen, auf dünnen Gurten. Fast ununterbrochen wach. Die stattliche Frau war dünn geworden, und ihr ehemals derbes Gesicht hatte einen Zug der Ergebenheit und Sanftmut bekommen, den man seit den Mädchenjahren nicht an ihr gesehen. Einmal kam der Hofrat frühmorgens und brachte einen ungewöhnlich großen Strauß üppiger Pfingstrosen. Da gelang es ihm, ein glückliches Lächeln von ihr zu erzeugen. Es war, als wollte sie mit diesem Lächeln sagen: »Wie lange ist es her, seit du mir Blumen gebracht hast?« Von diesem Morgen an kam er täglich mit einem anderen Strauß. Einmal brachte er einen kleinen Garten von blühendem Schlehdorn, ein andermal war sein Gesicht hinter einem Strauß hellblauer Kornblumen versteckt, dann überraschte er sie mit den zauberhaftesten Orchideen. Sie durfte nicht sprechen, aber ihre Augen sahen ihn und lächelten: »In welcher Rangklasse bist du denn plötzlich?« Daß Franziska, die Jüngere, nicht von ihrem Bette wich, brauche ich nicht zu sagen. Sie sehnte sich danach, der Mutter die schwierigsten und, wie die Leute meinten, unangenehmsten Handreichungen zu leisten, und sie gewöhnte sich eine zarte Lautlosigkeit an, um den heiligen Schlaf der Genesenden nicht zu gefährden. Sie atmete stiller als früher, und sie konnte stundenlang in der Ecke kauern, um den Blick des Erwachens aufzufangen, diesen dankbaren Blick der Überraschung: Bist du da, mein Kind?

Viele Wochen wurde um das Leben dieser Frau gerungen. Ihr Fall hatte Aufsehen gemacht. Verwandte, die sich nie um sie gekümmert, wurden durch die schreckliche Plötzlichkeit dieser Krankheit aufmerksam und meldeten sich. Eine lang entbehrte Schwester reiste zu der Kranken. Im Bureau wurde dem hart getroffenen Hofrat mit Rücksicht und Teilnahme begegnet. Der Minister gab seine Karte ab. Sie aber nahm das alles mit einem Lächeln hin, das immer glückseliger wurde: Plötzlich war die Welt um sie anders geworden. Plötzlich lebte sie in einem Blumengarten, plötzlich sah ihr Mann sie wieder an wie damals vor dreiundzwanzig Jahren, plötzlich besaß sie ihre Kinder ...

Sie ist genesen. Sie zog aus dem Krankenhause und übersiedelte in ein Landhaus in St. Veit.

Als sie das erstemal draußen auf der Veranda in ihrem Krankenstuhl lag und die Luft des Wienerwaldes mit der dankbaren Seele des Genesenden einsog, da sagte der Hofrat lächelnd: »Wenn du wieder ganz in Ordnung bist, da veranstalten wir hier ein Fest, und du mußt mit mir einen Walzer tanzen!«

*

Oh, ein großes Unglück ist oft ein großes Glück. Erschütterungen sind reinigend und heilsam.


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