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Grete Beier

An die schreckliche Tat der Grete Beier erinnert sich wohl noch jeder! Sie hatte ihrem Bräutigam die Augen verbunden, mit ihm gescherzt und ihm versprochen, sie werde ihm was Gutes in den Mund stecken, er solle ihn öffnen. Der Bräutigam tat es, und sie sandte mit einer Flaubertpistole vier Schüsse in seinen Rachen. Er war natürlich sofort tot und Grete Beier auf der Stelle eine Gefangene. Der Pöbel, den die Pistolenschüsse herbeigelockt, hätte sie am liebsten zertreten, zerrissen, zerfetzt. Es war ja auch wirklich eine unbegreifliche Bestialität; der Ermordete war ein hübscher junger Mensch mit einem kleinen blonden Schnurrbärtchen, ein glücklicher Verlobter, ein netter Kollege, ein flotter Tänzer; er malte auch ein bißchen und war zweiter Tenor im Gesangverein, der sich am Leichenbegängnis korporativ beteiligte.

Das Unbegreiflichste war, daß es eigentlich gar keinen besonderen Grund gab, warum Grete Beier ihren Verlobten getötet hatte. Sie hatte mit dem Bräutigam, der sie ein wenig langweilte, im Garten Blindekuh gespielt. Dabei gewahrte sie in einem Lusthäuschen die geladene Pistole ihres Onkels. Es fiel ihr blitzschnell ein: Ob Theodor sich in den Mund schießen ließe? Und da hatte sie es auch schon getan. Es war etwas Kindisches in diesem schauderhaften Mord, und wie ein Kind faßte Grete Beier die Sache auch auf. Sie war erschrocken, als Theodor wirklich zusammenbrach, aber das Entsetzen hatte doch was Wohliges, und als er tot vor ihr lag, da hätte sie ihn am liebsten am Ärmel gezupft und mit ihrer verzärtelten Stimme geflennt: »So steh doch auf, Theodor!« Aber da waren schon die vielen Leute da, und sie wurde gefesselt weggeführt.

Wie ein zwölfjähriges Mädchen sah sie auch aus, die Grete Beier, das heißt zur Zeit, als sie ins Landgericht eingeliefert wurde. Wenn man will, wie ein verdorbenes zwölfjähriges Mädchen. Ihre Gestalt, ganz knospenhaft und doch mit Anzeichen einer Aufgeblühtheit, die durch allerlei lasterhafte Übungen künstlich hervorgebracht schien. Ihr blasses, weiches, allzu weiches Gesicht war von den strahlend dunklen Augen merkwürdig lebendig gemacht, ihr mattblondes Haar war kindlich gescheitelt und gern mit einer Masche geschmückt. An manchem Morgen sah sie ganz erschöpft aus, und die weichen Wangen waren wie verschwollen um die matt blinzelnden Augen. Aber am Abend war ihr Gesicht wieder oval und jung und die Augen wieder groß und lebendig.

Im Untersuchungsgefängnis benahm sie sich still und artig. Sie legte Wert darauf, daß sie ein nettes, einfaches Kleid von zu Hause bekam, das ihr den Anschein einer gewissen sauberen Bürgerlichkeit gab. Sie behielt drei Bänder in der Zelle, um nicht jeden Tag dieselbe Masche ins Haar flechten zu müssen; aber als ihr der Geistliche einmal diese Eitelkeit verwies, da ging sie von nun an mit ihrem schmucklosen mattblonden Haar herum.

In der Öffentlichkeit hatte der Gesangverein, dessen zweiter Tenor Theodor gewesen, dafür gesorgt, daß sich die Bevölkerung durch das scheinheilige Äußere der Mörderin nicht täuschen lasse. Es stellte sich heraus, daß das Vorleben der Grete Beier durchaus nicht so kindlich und ahnungslos gewesen, wie sie es den Leuten vorgespiegelt hatte. Angesichts des herben Verlustes, den der Gesangverein erlitten, hielt es der erste Bariton für angezeigt, zuerst dem Vereinsvorstand, später dem Staatsanwalt zu eröffnen, daß ihn die Schändliche schon vor drei Jahren – Grete war damals fünfzehn – in ihre Netze zu locken und sogar zum Beischlaf zu bewegen gewußt habe. Die Macht der jugendlichen Verführerin war so groß, daß es ihren fortgesetzten, unglaublich raffinierten Bemühungen gelang, auch während der Verlobung einigemal den zweiten Tenor des Vereines mit dem ersten Bariton zu betrügen. Gewissensbisse, die in der Seele des ersten Baritons wühlten, veranlaßten ihn vor drei Vierteljahren, die Beziehungen endgültig abzubrechen. Das war er schließlich seinem Gesangskollegen und Freunde Theodor schuldig! Die Nachstellungen der verdorbenen Braut hörten damals noch nicht auf, doch sie blieben erfolglos! Heute preist sich der erste Bariton darüber glücklich, denn wer weiß, wo er heute läge, wenn er nicht rechtzeitig Tabula rasa gemacht hätte.

An der Zurechnungsfähigkeit der Grete Beier war nicht zu zweifeln. Sie beantwortete alle Fragen der Ärzte ganz vernünftig, sie stammte von anscheinend gesunden Eltern ab, nur die Großmutter soll hysterisch gewesen sein, und das einzig Abnorme an ihr war, abgesehen von ihrer frühen Verderbtheit, die vielleicht auf die Vertraulichkeiten eines Schullehrers zurückzuführen war, ihr Mangel an Reue, ihr fehlendes Schuldgefühl. In diesem Punkte war sie, sagten die Ärzte, geistig minderwertig; aber das sind die meisten Mörder. Sollen deshalb blühende junge Männer von minderwertigen Weibern zum Zeitvertreib straflos hingemordet werden? Nein, sagten die Sachverständigen.

Der Kerkermeister, der Untersuchungsrichter, ja selbst der Präsident des Landgerichtes konnten sich trotzalledem einer gewissen – ich will nicht sagen Sympathie, aber – Anteilnahme nicht erwehren. Lag es in ihrem kindlichen Gesichtchen? An ihrem schönen mattblonden Haar? Oder daran, daß sie allen die Arbeit erleichterte? Ihre Zelle war immer blank und sauber, ihr Bett korrekt geschichtet, ihre Bücher und Teller lagen ordentlich auf dem Spinde. Sie antwortete dem Untersuchungsrichter klar, aufrichtig, ohne Hinterhältigkeit, und das Verhör mit ihr war mühelos. Wenn der Präsident in die Zelle trat, heuchelte sie durchaus nicht Devotion, sondern grüßte mehr mit ihren im Gefängnisse größer gewordenen Augen als mit ihrer fast versagenden Stimme.

Aber die Geschworenen verurteilten sie zum Tode. In der Verhandlung war die Mutter des Gemordeten als Zeugin ohnmächtig geworden! Herr Beier, der Vater, weigerte sich, seine Tochter anzusehen, und entschlug sich der Aussage. Die Enthüllungen des Baritons zeigten die Vergangenheit der Unschuld spielenden Dirne. Mit elf gegen eine Stimme ward Grete Beier des Mordes schuldig erkannt.

Jetzt verlor sie die Fassung. Jetzt erst schien sie zu erkennen, daß sie ihr Leben verspielt habe.

In einer Nacht wurde das kindhafte Mädchen eine alte Frau.

Als der Präsident zwei Tage nach der Verhandlung in ihre Zelle trat, schrak er zusammen: War das die achtzehnjährige Grete Beier? Wo war denn ihre mattblonde Haarfülle? Ein paar armselige Strähnen hingen ihr von der Stirn. Die Wangen, vor einer Woche noch weich und sanft, waren hohl und knochig geworden. Ihr Auge lief irrsinnig über die Wände.

»Fassen Sie sich doch, Beier«, sagte der Präsident. »Sie dürfen noch nicht alle Hoffnung aufgeben. Noch hat Seine Majestät der König ein Wort zu sprechen. Seit dreißig Jahren ist in unserm Königreich keine Frau hingerichtet worden, des Königs Gnade wird Sie wieder aufrichten.«

Grete begann zu schluchzen und nun war jedes Wort an sie verloren. Der Präsident ging.

Stunden, Tage, Wochen hörte sie der Kerkermeister schluchzen. Er hatte dergleichen wahrhaftig oft vernommen, aber einem solchen, aus den inneren Organen herausgepreßten, endlosen, fiebrigen Schluchzen war der alte Mann nicht gewachsen. Er tröstete die Delinquentin, er strafte sie wegen ungebührlichen Lärmes und Unfolgsamkeit, er streichelte die vor ihm Knieende, aber alle Beruhigungsversuche des alten Mannes blieben erfolglos.

Nur der Geistliche war empört: »Sehen Sie denn nicht, Herr Kerkermeister, daß das keine Reue, keine Besserung ist, sondern bloß gemeine Angst vor dem Schafott?«

Ja, das war es wirklich. Wenn einer in die Zelle eintrat, so meinte sie schon, es sei der, der ihre Hände fesseln, ihren Nacken entblößen und sie auf den Block legen werde. Jeder Schritt auf dem Gange war ein Henkersschritt. Nachts sah sie den Kerl, der sie mit blutigen Händen anpackte und mit Püffen zum Schafott stieß. Sank sie nieder, so stieß er sie so lange mit den Stiefeln, bis sie aufstand, und dazu brummte er mit seiner Schnapsstimme: »Dich will ich 'mal kitzeln ...« Wenn sie vor Schwäche nicht aufkonnte, dann spie er sie mit seinem gelben, tabakstinkenden Speichel an ... Durch ihre eigenen Schreie wurde sie nachts aus ihren Träumen geweckt. Aber sie vermochte Traum und Sein kaum mehr zu unterscheiden.

Die Begnadigung vom König kam nicht. Bisher war seit dreißig Jahren jede Frau, die zum Tode verurteilt war, begnadigt worden. Das hatte sich die Königin von ihrem Gatten ausbedungen. Aber die Königin war gestorben, ihr edlerer Geist fehlte und war ersetzt durch die seelenlose Strenge engherziger Prinzessinnen. Übrigens hetzten auch die Zeitungen, vom Gesangverein aufgestachelt, gegen die Begnadigung.

Jeden Tag hatte die Grete Beier nur eine Frage: Ist Antwort vom König da? Jeden Tag war es schwerer, sie auf morgen zu vertrösten.

Morgen sollte sie hingerichtet werden.

Der Präsident kam mit dem Schriftführer und dem Kerkermeister in die Zelle, verlas das in Rechtskraft erwachsene Urteil und ermahnte die Delinquentin, in sich zu gehen und sich bereit zu machen.

Aber kaum hatte er die üblichen Phrasen begonnen – es wurde ihm leichter, als er gedacht hatte, weil in dieser tollen Megäre das Bild der früheren Grete Beier nicht mehr zu erkennen war – so begann sie zu schluchzen, zu schreien, so schrill, daß man es in allen viertausend Zellen hörte. Sie wälzte sich zu den Füßen des Präsidenten.

»Stehen Sie auf«, sagte der Präsident indigniert, weil er gar keine Macht mehr über die Schreiende besaß: »Sie, Kerkermeister, richten Sie sie auf.«

Der Schriftführer und der Kerkermeister faßten sie unter der Achsel, hoben sie in die Höhe: aber sie brach zusammen wie ein Holzgestell, das keinen Halt hat. Erleichtert, daß die Szene vorbei war, entfernte sich der Präsident.

Die Schreie der Grete Beier hallten fürchterlich durch das Gefängnis. Der Kerkermeister hatte nicht die Kraft, ja auch nicht die Lust, sie zu besänftigen. Sollten die Herren droben nur hören, wie es dem Mädchen zumute war! Seit dreißig Jahren war keine Frau geköpft worden und mit Recht, denn ein Weibsbild köpfen, pfui Teufel, das ist ekelhaft! Und gar die, die bei der Einlieferung einfach ein Kind war! ...

Am Abend ging der Kerkermeister über den langen, langen Zellenkorridor, blieb vor ihrer Tür stehen und hörte sie wimmern. Sie hatte solche Augenblicke der Ermattung, da sie nicht mehr schreien konnte.

Er sperrte die Zellentür auf und brachte ihr eine stärkende Suppe.

Kaum sah sie ihn, so stürzte sie schon wieder zu Boden und begann schreiend zu schluchzen.

In dieser Stunde, vom Mitleid gepackt, vom Zorn gegen die Oberen erleuchtet, hatte der Kerkermeister eine Eingebung, um derentwillen ich dem Manne hier ein Denkmal setze.

Er winkte der auf dem Boden Wimmernden mit einer geheimnisvollen Geste, beugte sich zu ihr und flüsterte ihr mit aller Energie ins Ohr: »Die Begnadigung ist da!«

Ihr Schreien stockte, sie sah ihn halbirr an, sie wehrte sich gegen das ungewollte Schluchzen, dem sie verfiel, beruhigte sich endlich und lauschte.

»Soeben ist die Begnadigung gekommen,« flüsterte der alte Mann, »ich gratuliere Ihnen ... Na, sehen Sie! ... Wenn Sie sich jetzt musterhaft halten, können Sie in zehn, in acht Jahren wieder begnadigt werden ... Nur einen Rat geb' ich Ihnen: Schmeicheln Sie den Pfaffen ...«

Die halbirre Seele lächelte fast.

»Ja, das eine muß ich Ihnen noch sagen: Die droben wollen Sie zappeln lassen. Das soll Ihre eigentliche Strafe sein! Sie sollen Todesängste ausstehen ... Aber eigentlich ist das dumm, denn Sie wissen ja auch, daß seit dreißig Jahren jede Frau begnadigt worden ist, und das ist auch recht so; denn eine Frau ist eine Frau, und besonders wenn sie noch ein Kind ist! ... So, jetzt trinken Sie schön die Suppe und lassen Sie sich nur nicht foppen von den Herren droben. Verstanden? Und wenn sie Sie morgen bis zum Richtplatz führen, fürchten Sie sich nicht, das geschieht alles nur, weil Sie Ängste ausstehen sollen ... Schauen Sie nur, ob ich eine weiße Rolle in der Hand habe, und dann können Sie ruhig hinausgehen; denn das ist die Begnadigung, und draußen wird sie vorgelesen ...«

Die Grete Beier trank die stärkende Suppe und schlief in ihrer letzten Nacht!

Am Morgen erschien der Henker bei ihr, viel höflicher, als sie es geträumt hatte – sie legte seine Höflichkeit als gutes Zeichen aus – aber hinter ihm kam der Kerkermeister, und er trug eine weiße Rolle in der Hand, leeres Papier, das er sich feierlich versiegelt hatte.

Der Kerkermeister zwinkerte ihr zu und hob die Rolle in die Höhe ...

Da hatte die Grete Beier beinahe wieder ihr Kindergesicht, ihre Haare schimmerten mattblond, und sie wankte nicht, als sie zur Richtstätte schritt.

Ehe sie aus ihrer Trostlüge erwacht, da war sie schon ergriffen und geköpft!

Dem Kerkermeister, der diese Genialität des Herzens besessen, wollte ich längst schon ein Denkmal setzen.


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