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»Immer rutscht dir der Kragen deines Rockes oben hinaus. Der Überzieher, wie oft habe ich dir dies gesagt, soll so hoch sitzen, daß niemand sehen kann, was du heute für einen Anzug trägst. Du bist ein fürchterlicher Mensch, immer ist etwas bei dir nicht in Ordnung. Entweder du schleifst ein Schuhband durch den Kot, oder du setzt den alten Filzhut auf, den ich dir zehnmal weggenommen habe.«
Sie band ihm die Krawatte, sie schnitt mit ihren leichten Händen eine Grube in seinen weichen Hut, sie drückte ihm matte graue Rehlederhandschuhe in die Rechte. Dann stellte sie ihn vor den Spiegel: »Georges, jetzt schau dich einmal an, jetzt siehst du nicht aus wie der Vertreter von ›Lederer & Kuhn‹, jetzt könnte man dich für einen Bankdirektor halten.«
Georges steht vor dem Spiegel, aber es fällt ihm nicht ein, sich anzuschauen, er genießt das Glück, neben seiner jungen Frau zu stehen und sie neben sich im Spiegel zu sehen. Er muß, es kann nicht anders sein, er muß seine Hand um ihre Taille legen und sie quetschen: »Kein Mieder?«
»Nie mehr, Doktor Thurnwald sagt, das haben nur dicke Frauen nötig.«
Georges quetscht ihre Mitte noch fester an sich. Plötzlich sagt er, vom Spiegel wegtretend: »Findet Doktor Thurnwald deine Figur so gelungen?«
»Georges, sei nicht dumm und eifersüchtig. Er hat es gar nicht zu mir gesagt, er hat es ganz im allgemeinen bei dem Vortrag im Reformverein gesagt. Bist du jetzt zufrieden, Affe?«
Edith zieht ihn wieder zum Spiegel. Warum wird sie immer gut gelaunt, wenn ihn diese plötzlichen Anwandlungen von Eifersucht überfallen? Sie legt ihren schlanken, schönen weißen Arm um seinen Hals und drängt ihn wieder zum Spiegel: »Zu mir her!«
Ihr Gesicht ist dem Spiegel ganz nahe.
»Meine Haare sind schön, obwohl sie nicht schwarz und nicht braun und nicht rot sind, sondern alles zusammen. Nicht wahr, Georges, meine Haare sind schön?«
»Schön«, sagt er einfach.
»Und meine Haut ist auch schön. Doktor Thurnwald hat in dem Vortrag gesagt, ein natürlicher schöner Teint ist der beste Beweis für gute Blutzirkulation. Wie ist meine Haut, Georges?«
»Schön«, sagt er wieder mit voller Überzeugung.
»Du langweiliger Mensch, du sollst sagen: weiß und rot oder pfirsichfarben oder sonst etwas Besonderes. Nicht immer: schön.«
Sie drängt ihn ganz nahe zum Spiegel: »Wie ist mein Mund?«
Er überlegte. Dann fand er die Antwort: »Wunderschön.«
»Na ja,« sagt sie, »es geht. Du hättest sagen können: schön geschwungen, oder nicht zu voll und nicht zu schmal. Auch der Hals ist gut. Nicht eine Falte, bitte, und da kommen sie zuerst! Auch mit meinem Ohr bin ich zufrieden ... Schau dir einmal deine Ohren an. Gott, sind deine Ohren komisch! Das hab' ich noch nie bemerkt. Deine Ohren sind ein bissel zu lang und außerdem, pfui, sind Haare drin. Georges, bitte, laß dir doch die Haare im Ohr wegrasieren. Oh, ich kann gar nicht hinsehen.«
Er sagte etwas verdrossen: »Ich bilde mir nicht ein, ein Schönheitsideal zu sein.«
Sie wiederholte eigensinnig: »Du hast nun einmal Haare im Ohr.«
Da schoß er zur Warnung in die Luft: »Ganz vollkommen sind wir alle nicht!«
Sie schnappte sofort ein: »Du willst sagen, ich schiele! Es ist nicht nett von dir, denn ich habe nur ein bissel gescherzt. Du weißt, daß du mir sehr gut gefällst, weil du ein ganzer Mann bist. Da darf man auch einmal eine Bemerkung über die Ohren machen. Aber das ist schlecht von dir, daß du mir so etwas vorwirfst. Ich kann doch nichts dafür, daß ich schiele! Du bist roh, jawohl, du bist roh.«
Die hellen Tränen liefen ihr über die Wangen.
Georges war ganz erschrocken: »Edith, es ist mir nicht eingefallen, du weißt doch, für mich bist du die Schönste. Das bißchen Schielen finde ich ... reizend. Daran hab' ich mich gewöhnt, ich finde gar nichts daran. Im Gegenteil, es ist gut, sonst wärst du vielleicht zu klassisch. Am Ende wärst du dann sogar zu schön für mich. Wer bin ich denn? Der Vertreter von Lederer & Kuhn, Georges Haase. Weine nicht, Edith. Es schadet deinem schönen, pfirsichfarbenen Teint. Bedenke, wir wollen abends ins Stadttheater, ich habe Plätze in der sechsten Reihe und morgen ... ach, morgen muß ich wieder auf die Tour! Drei Wochen sehe ich dich dann wieder nicht, süße, schöne, schlanke Edith ohne Mieder.«
Da war wieder heller Sonnenschein in ihrem Gesicht, sie zupfte Georges zart am Ohr und murmelte reuig: »Und das, was ich über deine Ohren sagte, war auch falsch. Sie sind gar nicht zu groß. Alle Männer haben größere Ohren, wie sie größere Füße haben, selbstverständlich. Und außerdem hat deine Erscheinung etwas Männliches, und das ist das Wichtigste. Bleibst du wirklich drei Wochen weg?«
Die Leute im Parkett ärgerten sich, weil die beiden so spät kamen. Aber sie rauschte in ihrem dunkelgrünen Seidenkleid durch den Mittelgang, und es tat ihr wohl, daß alle Herren und Damen in der Reihe ihretwegen aufstehen mußten, und sie spürte ganz deutlich, wie die Herren auf ihre wunderbar gewölbten, noch nicht sehr frauenhaften Schultern und die sanft gehobene Brust guckten. Wenn so ein Blick allzulange dauerte, drehte sie sich blitzschnell um. Die Herren, die ihre neunzehnjährige Figur, ihren kinderschlanken Hals, die rotschwarzen Löckchen auf dem Genick, den Duft ihres mattglänzenden Haares, die sanfte Kontur ihrer Wange im Nu genossen hatten, sahen nur ihre runden Augenlider und die langen, stolzen Wimpern, das Auge selbst blieb ihnen verborgen. Wenn aber ein besonders Interessierter sich später aus der Reihe vorbeugte, oder wenn ein Elektrisierter in der Vorderreihe sich unerwartet umdrehte und plötzlich sah, wie sie schielte, mit zwei radikal sich kreuzenden Blicken, dann kehrte er mit einem schnellen Ruck in die frühere Haltung zurück. Edith wartete: »Wird er sich noch einmal umdrehen?« Nein, sie taten es nicht, diese frechen, zudringlichen Bewunderer von vorher, und Edith wußte, warum sie es nicht mehr taten. Da war ihr der Abend verdorben.
In der Pause sagte dann Edith mißlaunig zu Georges: »Heute spielen sie aber sehr mäßig.«
Ein Herr aus der Loge im ersten Stock verbeugte sich sehr höflich zu ihnen hinab.
»Weißt du, wer das ist?« sagte Georges, durch die Artigkeit des Grüßenden geschmeichelt. »Du wirst es nicht erraten. Es ist mein zweiter Chef, Herr Kuhn.«
»Jedenfalls ein gut erzogener Mensch. Sitzt er so allein in einer Loge?«
»Er wird nur den Sitz bezahlt haben,« erwiderte Georges trocken, »wollen wir ein wenig ins Foyer gehen?«
Nein, Edith wollte nicht ins Gedränge. Sie schielte einen ganz schnellen Blick in die Loge hinauf und bemerkte, daß sie schon leer war.
»Sollen wir uns nicht ein wenig die Leute ansehen?« fragte Georges.
»Nein.«
In diesem Augenblick kam Herr Kuhn eilig durch den Mittelgang. Er begrüßte Georges sehr herzlich und sagte dann mit vollendetem Weltmannsgebaren: »Kann ich den Vorzug genießen, Ihrer Frau Gemahlin vorgestellt zu werden?«
»Natürlich,« antwortete Georges errötend und doch beflissen wie damals, als er noch auf den Wink des Chefs Seidenkollis schleppen mußte, »mit größtem Vergnügen. Edith, hier ist Herr Kuhn, von dem ich dir schon so viel erzählt habe.«
Edith sah lächelnd zu ihm hinüber: »Allein in einer Loge?« sagte sie schalkhaft.
Er wollte sogleich antworten: »Wenn gnädige Frau lieber aus der Loge die Vorgänge verfolgen wollen ...« Aber in diesem Augenblick traf ihn der gekreuzte Blick ihrer Augen, und Herr Kuhn, der auf alles, nur nicht auf schielende Augen gefaßt war, verschluckte unwillkürlich seine liebenswürdige Aufforderung. Oh, Edith fühlte die Pause sehr deutlich. Immer wieder, wenn sie die Lider aufschlug, erschraken die Männer und konnten es nicht verbergen.
»Das Stück ist nichts Besonderes«, sagte sie betrübt.
Herr Kuhn strich sein Spitzbärtchen: »Ich finde es ganz lustig.« Dabei mußte er in seine Loge hinaufsehen, jedenfalls wollte er Ediths Blick nicht noch einmal begegnen. Aber bald war er wieder der Gentleman, der er war, und fragte die Dame: »Wo speisen die Herrschaften nach dem Theater?«
Edith erwiderte kurz: »Zu Hause.« Es klingelte. Herr Kuhn empfahl sich. Auf dem Nachhauseweg war Edith wortkarg.
»Eigentlich hätten wir auch in ein Restaurant gehen können.«
»Ja, du warst etwas schroff gegen ihn.«
»Findest du?«
»Es war nicht politisch,« sagte Georges, »schließlich bin ich von ihm abhängig. Was hast du gegen ihn gehabt?«
»Nichts,« sagte sie, »er macht einen arroganten Eindruck.«
Edith blieb den Abend über verstimmt. Nun ja, jetzt war sie wieder drei Wochen lang allein. Und was sollte sie tun die ganze Zeit? Jeden Abend zu den Schwiegereltern gehen? Da sitzt sie lieber zu Haus und näht und liest. Aber einmal in der Woche, das sagt sie Georges ganz offen, einmal wird sie sicher anderswo sein, nämlich am Donnerstag abend, da ist sie bei den wissenschaftlichen Vorträgen Doktor Thurnwalds im Reformverein.
Haases wohnten in einem vornehmen Hause mit Teppichen auf der Treppe, Spiegel in den Zwischenstöcken und einer großen Palme neben dem Lift.
Wenn Edith um drei Viertel neun das Haus verließ, begegnete ihr gewöhnlich der junge Herr Lewinski, der Sohn des Hausbesitzers. Hörte er, daß im vierten Stock eine Gangtür zugeschlagen wurde, so pflegte er sich in der ersten Etage so lange die Zigarette anzuzünden, daß er, den Gang langsam abgehend, gerade zur Treppenwendung kam, wenn Frau Haase dort ankam. Er grüßte jeden Tag sehr artig, wagte allmählich Bemerkungen über das Wetter oder die Revolution und hatte nach und nach einen fast vertraulich-heiteren Ton gefunden. Kam sie zufällig einmal vor ihm ins Haus, so spürte sie seinen Blick auf ihren dünnen Strümpfen. Kam er ihr entgegen, so sah er ihr ohne Scheu ins Gesicht, denn er wußte ja, daß sie schielte. Er war der Gendarm des Hauses, wußte, wann die Parteien gingen, wann sie kamen. An dem Vormittag nach dem Theaterbesuch traf er Georges auf der Treppe:
»Herr Haase, eine angenehme Nachricht. Unser Kegelklub tritt wieder zusammen, das erstemal seit Kriegsschluß. Darf ich Sie und Ihre Frau Gemahlin einladen?«
»Sehr freundlich, Herr Lewinski, aber ich gehe heute abend auf Reisen.«
»Wohin geht's, wenn ich fragen darf?«
»Pforzheim, Stuttgart, Heidelberg, Mainz. Müssen mal nachsehen, wie viele von unseren alten Kunden noch leben.«
Beiläufig, sichtlich uninteressiert, wirft der junge Lewinski die Frage hin: »Fährt die gnädige Frau mit?«
Haases Gesicht wird beschattet. Was hat der Kerl herumzufragen. »Das steht noch nicht fest.«
Abends, als Frau Edith, die den Gatten zum Bahnhof gebracht hatte, heimkam, stieß sie im halbdunkeln Flur auf den jungen Lewinski. Sofort knipste er das Licht an. Während sie im Lift fuhren, fragte der junge Mann: »Was tun Sie nun den ganzen Tag allein?«
»Das sage ich Ihnen ein andermal. Hier müssen Sie nun aussteigen.«
»Ich begleite Sie zum vierten Stock. Aber Sie müssen mir erzählen, was eine reizende junge Frau drei Wochen allein tut.«
»Oh,« log sie, »ich weiß gar nicht, was ich zuerst tun soll. Die Schwiegereltern, der Reformverein, dann die Familie des Chefs meines Mannes und Frau Doktor Thurnwald und Theater und meine Kleider und Bücher.«
Jetzt waren sie oben. Der junge Lewinski sagte ein bißchen meckernd vor Verlegenheit: »Ich würde mich sehr gern zur Verfügung gestellt haben.«
»Sehr liebenswürdig, danke.« Sie war vor ihrer Tür. In diesem Winkel war es fast finster. Während sie aufschließt, tritt der junge Lewinski mit einem kräftigen Schritt in den schmalen Türspalt: »Darf ich einen Moment zu Ihnen hineinkommen?«
Sie antwortete etwas erschrocken: »Was haben Sie denn?«
Da packte er sie mit seiner großen, rohen Hand am Gelenk und sagte schwer atmend: »Ich finde dich ... Sie gefallen mir so gut!«
Sie riß sich los, drängte ihn mit unerwarteter Energie beiseite, sperrte schnell zu, und er hörte noch ihr aufgeregtes Trippeln hinter der Tür.
Auf und ab gehend, sagte sie aufgeregt und laut: »Was für eine Art! Wen glauben Sie denn vor sich zu haben?«
Draußen keuchte er, noch immer wie betrunken: »Haben muß ich dich doch!«
Er stand einige Minuten draußen, hörte, wie sie erst in die Küche, dann in den Salon ging, bemerkte den Lichtschein in ihrem Speisezimmer, horchte, vernahm Tellerklirren, wartete gespannt, ob er nicht etwa noch einen zweiten Schatten wahrnahm. Da alles still blieb, schlich er auf den Zehenspitzen in den ersten Stock hinunter.
Indes saß sie allein im Speisezimmer und horchte und zitterte.
Im ersten Stock sagte der junge Lewinski zu sich selbst: »Ich Esel, warum bin ich schon am ersten Abend gekommen?« Er blieb drei Tage unsichtbar. Am vierten grüßte er des Morgens, um drei Viertel neun, wie gewöhnlich, sehr artig, und sie antwortete mit einem fast unmerklichen Kopfnicken. Schließlich war er der Sohn des Hausherrn.
Die Diskussion im Reformverein war zu Ende, die meisten Mitglieder waren schon aus dem Saal, Doktor Thurnwald packte gerade seine Notizen und Broschüren auf dem Referententisch zusammen. Da entschloß sich Frau Edith, aus der fünften Bankreihe nach vorn zu kommen: »Gehen wir denselben Weg, Herr Doktor?«
Thurnwald sah auf, wurde wieder erschreckt durch den schielenden Blick, der über ihn hinwegzuschauen schien, erholte sich schnell an ihrem glatt anliegenden grünseidenen Reformkleid und antwortete humoristisch: »Na gut, in Gottes Namen, traben wir solid nach Hause.«
Aber an der ersten Straßenecke machte er schon den Vorschlag, für eine Viertelstunde in die Weinstube des Hotels Imperial zu gehen, in eine ganz stille Ecke, in der man gemütlich plaudern konnte. Sie ließ sich nicht lange bitten: »Ich bin ohnehin so pessimistisch.«
»Guter Gott, pessimistisch? Direkt pessimistisch, sagen Sie, Frau Haase?« Er setzte seine Brille ironisch auf.
»Ach, ich bin so unnütz in der Welt, ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht in aller Heimlichkeit, während Georges fort ist, einen Beruf erlernen soll. Aber er müßte ein bißchen spannend sein, Apothekerin, wenn ich mit den Giften hantieren darf, oder Bakteriologin, wenn ich Pestkulturen beobachten soll, oder so was, das einen aufregt.«
Thurnwald saß ganz zurückgelehnt in der braun gepolsterten Ecke und sah sie sehr aufmerksam und gelassen an: »Brauchen Sie so was?«
»Was fragen Sie denn? Leben Sie so den ganzen Tag allein in einer Wohnung! Abends krachen und knacken die Möbel und der Fußboden, daß man hinauslaufen und sich jemand holen möchte zum Schutz gegen diese Geister.«
Thurnwald fügte gleichmütig ein: »Den jungen Lewinski?«
»Ach, lassen Sie die tückischen Bemerkungen. Mir ist gar nicht danach ... Soll ich Polizeiassistentin werden? Das hat mir heute Frau Böhm geraten. Wär' das was für mich? Aber ich fürchte, da hab' ich mit so viel schmutzigen Leuten zu tun und mit Gefängnissen und Ausschlägen ...«
Er hob ihre Hand: »Schade um Ihren Teint. Das lassen Sie doch den Häßlicheren ... Ich wüßte eine Arbeit für Sie. Im Ernst.«
»Nun?«
»Werden Sie meine Sekretärin.«
Sie sah ihn an. Das heißt, er meinte, sie sähe jetzt in die andere Ecke. Man konnte nie wissen, wann sie einen ansah.
»Aber unter einer Bedingung. Sie dürfen nicht, wie heute, Kleider mit Ärmeln von grüner Gaze tragen. Diese Ärmel können einen nämlich verrückt machen. Man sieht Ihre glatten, runden Arme unter einem dünnen Vorhang, und gerade der Vorhang reizt. Nein, Sie müssen entweder undurchsichtige Ärmel tragen oder den Vorhang fallen lassen!«
Seine Stimme war doch recht unsicher, deshalb sah sie ihn wieder an. Aber diesmal hatte er ihren geraden, gesunden Blick erwartet, er wurde rasend, als sie ihn anschielte. Man hatte ja keine Ahnung, was eigentlich in ihr vorging, wenn sie diese gekreuzten Blicke Gott weiß wohin richtete.
»Edith, noch ein offenes Wort?«
Sie senkte den Kopf, denn jetzt hoffte sie, müsse das längst erwartete Wort kommen. Sie sagte ganz leise: »Bitte?«
»Ein ganz ehrliches Wort?«
»Bitte!«
»Lassen Sie sich operieren. Ein ganz kleiner Schnitt, der Ihnen gar nicht wehtun wird, und Ihre Augen werden geradeaus schauen wie die aller anderen Menschen. Ein Mensch wie Sie darf nicht schielen.«
Sie hatte etwas ganz, ganz anderes erwartet. Sie senkte den Kopf, aber er sah ganz deutlich, wie die Tränen aus den Augen in ihre schönen langen Wimpern tropften.
Da überschüttete Doktor Thurnwald, der sonst so Gelassene, sich mit Selbstanklagen und erklärte, er habe es ja gar nicht so furchtbar ernst gemeint, und wenn sie ihm nur ein ganz klein bißchen gut sei, müsse sie jetzt zur Aufheiterung ein Glas Sekt, mindestens eins, trinken ...
Es wurde sehr spät in der abgelegenen, dämmerigen Weinstube des Hotel Imperial. Um halb zwei Uhr bewog Thurnwald Frau Edith, einen kleinen Mokka bei ihm zu trinken.
Aber am nächsten Vormittag schrieb sie an Georges: »Lieber Freund, ich habe eine Überraschung für Dich ausgedacht, die Dir viel Freude machen wird. Es ist etwas, woran Du noch nie gedacht hast in Deiner Güte, aber es wird Dich sehr glücklich machen!!! Wenn Du zurück bist, wird es gerade fertig sein. Während Du Deine schwere Arbeit besorgst, in den scheußlichen Hotelzimmern wohnst, in eisigen Waggons fährst, schlechtes Wirtshausessen zu Dir nimmst, will ich auch etwas leisten, etwas, das Dir beweisen soll, daß ich Dir Freude machen will. Du wirst sehr froh darüber sein! Deine ewig treue Edith.«
Als der Professor drei Tage nach der gelungenen Operation in das kleine weiße Krankenzimmerchen trat, richtete sich Frau Edith, die in eine weiße Husch-Husch-Matinee gehüllt war, auf und reichte ihm mit einer erlösten, ganz freien Bewegung die Hand mit ihrem nackten Arm. Rosiger hatte ihr Gesicht, weißer ihr Hals nie geglänzt. Auf der gelben Decke lag ein Handspiegel. Man konnte sie ohne Irritation ansehen.
»Sapperlot!« sagte der kleine alte Professor, »vielleicht haben wir Sie gar zu schön gemacht.«
Der alte Mann setzte sich zu ihr ans Bett und nahm ihren sanft anschwellenden Unterarm in seine alte, faltige Ärztehand: »Wissen Sie, daß Sie gar nicht wiederzuerkennen sind? Jetzt erst kokettiert man gern mit Ihnen.«
Sie lachte über die kleine Verliebtheit des alten Herrn, schob ihren glatten Arm zärtlich durch seine Hand und sagte mit einem Kinderton: »Kokettieren Sie nur so viel Sie wollen, das tut mir wohl.«
Um elf Uhr sollte Doktor Thurnwald kommen, der sie noch nicht hatte sehen dürfen. Das hatte sie sich ausbedungen: ohne Verband, ohne Augenbinde, erst als ganz Genesene sollte er sie sehen dürfen. Jetzt war es ein Viertel vor zwölf, und Thurnwald war noch nicht da. Sie saß seit halb neun Uhr fix und fertig im Bette, hatte sich immer wieder in den Handspiegel vertieft und sich in die Augen geschaut. Oh, jetzt konnte man sich in seine Augen viertelstundenlang vertiefen! In der Vormittagssonne wurde es ihr klar, daß ihre Augen goldgelb waren, mit einem matten, grünlichen Schimmer und einigen winzigen roten Pünktchen mitten im Goldgelb. Endlich um halb eins kam Thurnwald. Sie hatte sich umgedreht, den Kopf ins Kissen versteckt. Er wußte nicht, ob sie weinte, aber er nahm es an.
»Kindchen,« sagte er in dem überlegenen Ton, den er von Anfang an im Reformverein ihr gegenüber angeschlagen hatte, »liebes Kindchen, du darfst nicht übersehen, daß ich eine Praxis habe. Es ging eben nicht früher.« Sie rührte sich nicht.
»Der Professor erzählte mir, alles ist wohlgelungen. Also sei nicht kindisch, Edith, und richte dich auf.«
Sie richtete sich hoch und sah ihn an. Aber da verging ihm alle Überlegenheit, und der Lehrerton verlor sich, und er rief ihr zu: »Edith, du bist ja jetzt ... vollendet schön, Edith. Du bist ja ... vollkommen, Edith, es ist ja ... unvergleichlich!« Plötzlich war seine ganze Redegewandtheit weg, er stammelte, sah sie an, stieß bewundernde Laute aus und war plötzlich wieder ein großer, blonder Junge, besonders als er sich über ihre Hand beugte und sie nur den vollen Haarwuschel seines Hauptes auf der Decke liegen sah.
Jetzt wurde sie wieder fröhlich: »Wart' mal, bis die Sonne wiederkommt! Da bin ich erst hübsch.«
Thurnwald drehte sich um, als versicherte er sich, ob ihn niemand höre, und sagte dann halblaut: »Wann trinkst du wieder eine Schale Mokka bei mir?«
Aber das fand sie taktlos und wurde verdrossen und gereizt: »Laß doch das!« Er erwiderte etwas erstaunt: »Ich wollte dich nicht an etwas Unangenehmes erinnern.«
»Aber du wolltest erinnern!«
Thurnwald sah sie überlegend an und sagte, während er sich mit seinen langen Fingern das Kinn rieb: »Sollte sich auch innerlich etwas an dir verändert haben?«
Da mußte sie hellauf lachen: »Das hast du so gesagt, als wenn du darüber einen Vortrag halten wolltest.«
Auch dieses Lachen hatte er vorher von ihr nicht gehört, früher lachte sie etwas zurückhaltender.
»Ja,« sagte er nachdenklich, »wenn man die Nasenspitze eines Menschen verändert, verändert man eben nicht nur die Nasenspitze.«
Edith ließ es sich nicht nehmen, sie ging zu Fuß vom Sanatorium nach Hause. Die Sonne glitzerte in allen Fensterscheiben der Straße, ein metallisch verklärtes Blau leuchtete über der strahlenden Straße, warme, blinkende Glasperlen tropften von den Dächern. Sie trug einen langen grauen Mantel, ein braunes Reisetäschchen und – keinen Schleier. Wenn die Herren sonst hinter ihr her gingen, beschleunigten sie ihren Schritt. Aber dann kam gewöhnlich der Augenblick, wo sie sich wieder zurückrissen. Edith spürte die Schritte hinter sich, aber jetzt hatte sie keine Angst vor dem Moment, in dem ihr der vorkommende Herr ins Gesicht sah, im Gegenteil, sie wartete darauf mit einem ganz ruhigen, freien, vertrauensvollen Blick. Selbst die Handlungsgehilfen empfanden die Würde dieses Blickes und bremsten und trabten, magisch angezogen, in anständiger Distanz hinter ihr.
Als Edith ins Haus trat, kam ihr, gerade vor der Palme, der junge Lewinski entgegen. Sie sah ihn an mit geraden, freien Blicken. Er prallte zurück: »Gnädige Frau!« Auch er stammelte.
Zehn Minuten später brachte ein Bote einen ungeheuren Fliederstrauß in die Wohnung; verborgen in dem Gewächs der üppigen Blüten steckte ein Brief des jungen Lewinski. Er brachte nicht nur seine Glückwünsche dar, er fand nicht nur kindische Worte der Huldigung, er beschwor sie auch, alles Vergangene zu vergessen und seinen Gruß, vielleicht später auch einmal sein Wort zu dulden »als die Kundgebung des von ihrer Schönheit hingerissenen, in aufrichtiger Verehrung ganz ergebenst zugetanen Richard Lewinski«. Sie lächelte, als sie den überschwenglichen Brief las, sog den süßlichen Duft ein und sagte sich, mit der Hand über die Blüten streichend: »Es sind die ersten Blumen, die man mir schickt, Georges ausgenommen.« Ja, Georges, jetzt erst, in ihrer braunen, etwas muffigen Wohnung, fiel er ihr wieder ein. Wann kommt er zurück? Morgen? Schon? Sie stand vor dem Spiegel und suchte sich in ihren jetzt erst geschenkten Augen und lächelte sich an. Ja, sie hatte es deutlich gedacht: Schon morgen? Wenn sie sich jetzt Aug' in Aug' gegenüberstand, wollte sie sich nichts vorschwindeln. Sie hätte gern noch ein bißchen ungestört die freundlicher gewordene Welt ansehen wollen, ehe Georges zurückkam. Das Leben war anders geworden, seit sie mit geraden Blicken dreinsah. Der Professor kam ihr nach der Operation anders als vorher entgegen. Thurnwald war früher nie wie ein dummer blonder Junge über ihrer Hand gebeugt gelegen, und der junge Lewinski benahm sich auch, wahrhaftig, anders als vorher. Sie hatte Lust, sofort wieder auf die Straße unter die Leute zu gehen; alle waren jetzt netter, aufmerksamer, respektvoller geworden. Die Herren auf der überfüllten Straßenbahn beeilten sich, ihr Platz zu machen, die Damen sahen sie mit langen, prüfenden Blicken an, und vor allen brauchte sie jetzt nicht die Augen niederzuschlagen, sondern konnte mit verweilenden Blicken antworten! Nein, sie hielt es nicht aus in dieser langweiligen, braunen Wohnung.
Nachmittags klingelte sie bei Kuhn & Lederer an, man möge ihr sagen, wann ihr Gatte zurückkomme. Herr Kuhn war selbst am Apparat. Vor allem wollte er gratulieren, er habe schon gehört, wie ausgezeichnet die Operation gelungen sei. Woher denn? Ja, man hat seine Agenten, und übrigens habe der alte Herr Lewinski ihr Aussehen ganz begeistert geschildert. Ob er nachmittags seinen verspäteten Krankenbesuch machen dürfe?
Alfred Kuhn, Chef der Firma Kuhn & Lederer, dreiundzwanzig Filialen in Deutschland, siebzehn im Ausland, steckte die hellgelben Handschuhe in den grauen Überzieher, entfernte das Seidenpapier von den Rosen in der Hand, als er läutete. Im Vorzimmer war es leider halbdunkel, und er konnte Frau Edith, die ihm selbst öffnete, noch nicht recht sehen. Im Salon waren die Vorhänge zurückgezogen, und da sah er sie in ihrer rosigen Schönheit mit »ihren lachenden Augen«. Der Frühling gab ihm den Mut, zuweilen derlei dichterische Worte zu gebrauchen, »übrigens habe ich in früheren Jahren manche poetische Wallung gehabt,« sagte er heiter, sein Spitzbärtchen liebkosend, »und diese Veränderung, allerschönste gnädige Frau, die könnte einen allerdings wieder zum Poeten machen.«
Er sah sich in der braunen Wohnung um.
»Sie sollten nicht altdeutsch möbliert sein, eine Frau wie Sie gehört in eine helle Biedermeierwohnung.« Er ging ganz ungeniert durch die dämmerigen Zimmer, bis sie ihm Halt zurief, denn jetzt stand er vor dem Schlafzimmer. »Gemeinsam?« fragte er so nebenher. Sie wußte nicht ganz genau, was er meinte, natürlich schlief sie neben ihrem Manne, so sagte sie schnell: »Sie fragen viel, Herr Kuhn.«
Er setzte sich auf das unbequeme dreieckige Stühlchen vor ihrem Schreibtisch und phantasierte: »Für Sie ein Schlafzimmer erfinden, ganz in Weiß und Gelb. Voll Sonne. Atlasdecken. Eisbärfelle. An der Wand vier echte Reznicek. Und dazu ein Badezimmer in grünen Kacheln und mit vier Stufen hinunter.«
»Sie sind ja ganz poetisch.«
Da erwiderte Herr Kuhn, das Spitzbärtchen diplomatisch drehend: »O nein, das könnte herrlichste Wirklichkeit werden.«
Plötzlich ergriff er die Photographie von Georges, die auf dem Schreibtisch stand: »Nun, er hat Grund, sich zu freuen, der glückliche Besitzer ... Pardon! ... aber eigentlich müßte er sich jetzt revanchieren. Er müßte sich jetzt die Ohren ein bißchen operieren lassen, um Ihrer würdig zu sein.« Das fand sie zu drollig, aber eigentlich ganz richtig.
»Übrigens dürfte Ihr Herr Gemahl morgen noch nicht zurückkommen,« sagte Herr Kuhn langsam, »wir haben ihn bitten müssen, seine Tour etwas auszudehnen, er muß noch nach Chemnitz. Sind Sie sehr böse?«
Sie erwiderte ernst (und war mit sich selbst zufrieden): »Wenn es das Geschäft erfordert.« Um den verlorenen Empfangsabend auszufüllen, schlug ihr Herr Kuhn vor, morgen abend in seiner Loge zu sein.
Georges Haase hatte das Telegramm, das ihn nach Chemnitz befahl, einfach zerrissen und in die Ecke geworfen. Er kam um sechs Uhr an und war um sechs Uhr dreiunddreißig Minuten in seiner Wohnung, obwohl er noch auf dem Wege zwei Theaterkarten gekauft hatte, weil er wußte, daß ihr das die größte Freude war. Er hastete durch Vorzimmer, rief Ediths Namen in jedem Raum, rannte durch alle Zimmer, bemerkte im Schlafzimmer den ungeheuren Fliederstrauß, im Salon die Rosen, neben dem Schreibtisch einen Korb mit Tulpen. Die Türen der Schränke waren aufgerissen, der Toilettentisch ein Drunter und Drüber, ein Häufchen Hauskleid lag zusammengeschrumpft auf der Erde, die Knöpfelschuhe krochen beinahe unters Bett, die hölzerne Hutschachtel gähnte ihn entzweit und leer an. Georges stutzte bei den Tulpen, den Rosen, dem Flieder. Auf dem Schreibtisch fand er seine Photographie, das Gesicht lag auf der Mappe, das Gestell griff in die Luft. Er öffnete die oberste Schreibtischlade. Der Operngucker war nicht da, also war sie im Theater. Mit höchster Eile kleidete er sich um, zum Rasieren nahm er sich keine Zeit, die schmierigen Schnürstiefel wollte er abtun, aber die Senkel hatten sich boshaft in die Ösen versteckt, da wickelte er die Schuhbänder über die Stiefel, steckte den Wulst der Schnüre unter das Leder und blieb in den Reiseschuhen. Eine Krawatte war im Hui über den Kragen gelegt, das Luder schlüpfte freilich hinten immer wieder in die Höhe. Aber es war wahrhaftig nicht die Zeit zu solchen Kleinigkeiten. Als er mit noch offenem Paletot hinausstürzte, trat ihm Doktor Thurnwald entgegen. Haase faßte ihn am Ärmel und rief ihm, während er ihn mitzog, zu: »Sie können mit mir ins Theater gehen. Meine Frau ist schon dort.« Auf der Straße stopfte er Thurnwald in ein Auto, das er mit einem fürchterlichen Kommando hergezwungen hatte. Jetzt erst konnte er versuchen, seine Krawatte in Ordnung zu bringen, auch die Schnürsenkel hatten sich gelöst und mußten gebändigt werden. Er wußte, wie Edith diese Unordentlichkeiten haßte.
Thurnwald sagte einige Male: »Sie werden im Theater eine Überraschung erleben!«
»Was denn?« fragte er gequält.
Dieser Wichtigmacher, dachte Georges, ich frage nicht weiter. Aber er dachte an Flieder, Rosen, Tulpen, und das Herz klopfte ihm bis zum Halse.
»Wir müssen sofort hinein – ja, auch während des Aktes«, schrie er und drückte der Sitzanweiserin einen Geldschein in die Hand.
Der Zuschauerraum war ganz finster. Die Vorwärtstappenden wurden mit Murren empfangen. Als vier Leute in der sechsten Reihe aufstehen mußten, entstand eine kleine Rebellion. Ein Boshafter stellte sein Bein so, daß Georges stolperte. Aber er kam zu seinem Sitz. Da saß er nun im Dunkel und lugte nach rechts und links aus, nach den Parkettreihen vorn und, sich vorsichtig umwendend, denn die gestörten Zuschauer zischten ihn an, suchte er die hinteren Reihen ab. Er hörte nicht die Sänger, nicht das Orchester, ihn beirrten die Proteste der Nachbarn, die Empörungsrufe der hinter ihm Sitzenden nicht, er drehte den Kopf nach links und rechts, er versuchte die Finsternis der Logen und Galerien zu durchschauen, vergebens.
Thurnwald flüsterte ihm zu: »Sie werden hinausgeworfen werden.« Da gab er es auf, er senkte den Kopf, und die Schwärze und Dunkelheit taten ihm jetzt wohl. Schon in diesem Augenblick hatte er das bestimmte Gefühl, alles ist verloren. Er dachte nur an Flieder, Rosen, Tulpen.
Endlich fiel der Vorhang. Es wurde Licht. Georges hörte, wie Thurnwald neben ihm sagte: »Nun ... wollen wir ... sie ... ganz systematisch ... suchen.« Thurnwald brauchte eine Viertelstunde zu diesem kleinen Satz, denn er drehte inzwischen den Kopf langsam von rechts nach links. Als er zu Georges zurückkam, erschrak er, denn Herr Haase saß da – mit vornübergebeugtem Kopf, die Stirn auf den vorderen Sessel gestützt.
»Fehlt Ihnen was?«
Nach einer Pause kam die Antwort: »Sie ist in der Loge bei Kuhn.«