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Zweites Kapitel.

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Die vollen, ernsten Glockenklänge vom Turm der Stephanskirche kündeten die siebente Abendstunde an. Einige Minuten später traten aus einem. Hause der Kärntnerstraße etliche junge Mädchen. Sie alle hatten es sehr eilig. Es waren Schneiderinnen, die im »Salon Irene« täglich acht Stunden lang hübsche Toiletten für – andere machten und froh waren, wenn die abendliche Freiheit anbrach. Daher ihre Eile. Sofort waren sie im Gedränge verschwunden.

Eine der jungen Arbeiterinnen, die etwas später das Haus verließ, eine hübsche, bescheiden und doch sehr nett gekleidete Brünette, war vor dem Tore stehen geblieben. Nach rechts und nach links schaute sie sich um, aber der, der sie fast allabendlich hier erwartete, war heute noch nicht da.

Anna Lindner trat wieder in den Hausflur zurück und wartete. Sie mußte über sich selbst lächeln, über die Ungeduld, mit der sie heute ihren Arbeitsgenossinnen nachgeeilt war, was sie sonst doch nie tat, denn ihr Verlobter konnte ja im besten Falle erst zehn Minuten nach sieben Uhr zur Stelle sein. So lange brauchte er mindestens, um von seiner Buchhandlung bis zu ihrem Geschäftshause zu kommen.

Aber zuweilen verspätete er sich auch. Dann wartete sie, wie jetzt, im Hausflur auf ihn, denn in der gerade um diese Zeit sehr belebten Straße könnte sie ihn verfehlen, wenn sie ihm entgegengehen würde.

Eine Viertelstunde verging. Das Mädchen wurde ungeduldig. Gerade heute hätte Otto pünktlich sein sollen. Sie wollten doch in der Rotenturmstraße bei einem Ausverkauf einige Wäschestücke für ihre künftige Wirtschaft kaufen. Wenn Otto nun nicht bald kam, wurde jenes Geschäft geschlossen.

Er kam nicht.

Als es schon nahezu halb acht Uhr war, ging Anna ein bißchen geärgert und ein bißchen beunruhigt nach Hause. Gerade auf den heutigen Abend hatte sie sich so gefreut.

Zu ihrer ziemlich am äußeren Ende des fünften Stadtbezirks gelegenen Wohnung brauchte sie fast drei Viertelstunden. Sie legte diesen Weg früh und abends zu Fuße zurück, was bei ihrem sitzenden Berufe geradezu eine Notwendigkeit für sie war. Ihr Mittagessen nahm sie in einem bescheidenen Gasthause ein, das in der Nähe ihres Geschäfts lag. So ersparte sie mittags den weiten Heimweg und gewann eine Arbeitsstunde mehr, für die sie selbstverständlich besonders entlohnt wurde.

Es war alles sehr genau eingeteilt im Leben dieser kleinen Schneiderin, in diesem so einförmigen und so bescheidenen Leben, darin es so viele Plage und so viele Entbehrungen gab. Freilich auch viele Freuden, denn Anna Lindner war eine große Lebenskünstlerin. Sie verstand es, sich Freude zu machen. Jeder schöne Tag war ihr schon eine solche, und mußte sie durch Regen und Sturm, dann freute sie sich schon im voraus auf ihr warmes Plätzchen im Geschäft oder im Heim ihrer alten Tante, bei der sie, die Waise, schon mehrere Jahre lebte.

Auch über die feinen Toiletten, bei deren Anfertigung sie mit tätig war, freute sie sich; sie hatte eben ein Interesse an allem Schönen, das an sie herantrat.

Und wie glücklich wurde sie durch ihre Liebe, durch dieses herzliche, innige Verhältnis zu ihrem Verlobten gemacht! Sie kannte ihn schon ein ganzes Jahr. Seit dem Sommer war sie seine verlobte Braut und schwamm schier im Glück.

Freilich ein Schatten lag doch darauf. Tante Therese war nicht ganz einverstanden mit dieser Brautschaft. Otto Falk hatte ja noch keine sichere Anstellung. Sonst hatte sie nichts gegen ihn einzuwenden.

Und Anna selbst? Nun, die hatte überhaupt nichts gegen ihn einzuwenden, die liebte ihn eben und war bereit, bis an ihr seliges Ende ihre Nadel zu gebrauchen, wenn sie nur Ottos Frau werden konnte.

Gerade heute sehnte sie sich so sehr nach ihm und mußte nun den weiten Weg allein machen. Die Augen wollten ihr naß werden.

Aber sie bezwang sich. »Er hat halt eine Abhaltung gehabt,« dachte sie bei sich und schritt tapfer aus.

An diesem Augenblick tauchte aus der dahinhastenden Menge der Leute Otto vor ihr auf, bemerkte sie aber noch nicht.

An ihr stieg ein Schrecken auf. Wie blaß er war! An düsteres Sinnen verloren starrte er vor sich hin und sah das Nächste nicht, denn soeben stieß er wie ein Blinder an einen der Vorübergehenden an.

Ein ärgerlicher Ausruf des Mannes brachte ihn zu sich. Er fuhr sich über die Augen und murmelte mechanisch eine Entschuldigung.

Das waren die Vorgänge weniger Sekunden. Dann stand Anna dicht vor ihrem Verlobten und sagte, ihre Hand auf seinen Arm legend, besorgt: »Aber Otto! Was ist dir nur, und woher kommst du jetzt erst? Ich hab' nimmer gemeint, daß ich dich heut noch sehen würde.«

Sonst sah er so glücklich aus, wenn er ihrer ansichtig wurde. Heute seufzte er, drückte ihre Hand lange und fest, zog ihren Arm in den seinen und machte kehrt.

»Grüß dich Gott!« sagte er wie sonst, aber seine Stimme hatte keinen Klang, sein Auge keinen Glanz.

An Annas Herzen wuchs die Sorge. »Du kommst spät,« sagte sie gepreßt.

Er nickte und erwiderte: »Ich hab' schon gefürchtet, ich verfehle dich.«

»Was er nur hat?« dachte sie. Laut fragte sie: »Woher kommst du denn?«

Sie erhielt nicht sogleich eine Antwort darauf. Endlich sagte er: »Einen Geschäftsgang hab' ich gehabt.«

»Und nicht gut ist dir,« bemerkte sie, verstohlen sein Gesicht betrachtend, das ihr heute merkwürdig verändert, so spitz, so verfallen vorkam.

»Stimmt. Es ist mir ziemlich übel,« gab er zu. »Schon seit Mittag befinde ich mich körperlich recht unwohl. Du mußt es mir ja ansehen.«

Das Wort »körperlich« hatte er besonders betont. Seiner Begleiterin war das aufgefallen. Eine eigentümliche Scheu hielt sie aber davon ab, weitere Fragen zu stellen. Sie sagte nur: »Es wird dir gut tun, wenn du bei uns zu Hause eine Tasse heißen Tee trinkst. Es schüttelt dich ja förmlich.«

Ganz bestimmt hatte er Fieber. Auch übelgelaunt war er. »Es wäre mir lieber, wenn wir in ein Kaffeehaus gingen,« meinte er kurz und heftig, um gleich danach hinzuzusetzen: »Weißt du, ich bin heute sehr reizbar. Man hat schon solche Tage, da bin ich lieber mit dir allein. Geh, komm hier herein. Da ist's gemütlich.«

»Gemütlich!« dachte Anna, hinter ihm in das Kaffeehaus tretend. »Heute wird es kaum gemütlich werden!«

Ein paar Minuten später saßen sie in einer Ecke, und jedes hatte eine Tasse Tee vor sich.

Otto stürzte die heiße Flüssigkeit gierig hinunter, Anna trank in kleinen Schlucken, denn sie wurde immer besorgter, seit sie sein Gesicht in heller Beleuchtung sah. Es sah aus, wie das Gesicht eines Menschen aussehen kann, der erst kürzlich etwas Aufregendes erlebt hat, etwas, dessen er noch nicht Herr geworden ist.

Jetzt setzte er die geleerte Schale klirrend vor sich hin. Er konnte sie offenbar in den zitternden Händen nicht halten.

»Jetzt sprich, Otto! Was ist geschehen? So wie heute hab' ich dich noch nicht gesehen.«

Da neigte er sich ihr entgegen, streckte ihr die Hand hin, und sein Gesicht glättete sich, seine Augen verloren die Düsterkeit. »Die Hauptsache ist, daß du mich immer gern hast,« sagte er, und sein hübscher Mund zuckte.

Jetzt fiel alle Angst von ihr ab. Sie lächelte und flüsterte zärtlich: »Aber Otto, wie kannst du denn daran zweifeln? Selbstverständlich hab' ich dich immer gern. Ich wüßt' gar nicht, wie ich es anfangen sollt', dich nicht gern zu haben. Denk' ich doch schier den ganzen Tag nur an dich und an die Zeit, in der wir immer beisammen sein werden. Und wenn die Tant' Resi unsere Hochzeit auch hinausgeschoben hat, einmal werden wir einander ja doch heiraten, und bis dahin mußt halt du auch Geduld haben.«

»Freilich, bis dahin muß ich auch Geduld haben,« entgegnete er bitter, »denn sie hat das Geld und kann Bedingungen machen, die sich so ein armer Teufel, wie ich einer bin, eben gefallen lassen muß.«

»Otto!«

»Ja, ja, ich bin schon wieder ruhig. Erlaube mir nur, es lächerlich zu finden, daß so eine alte Frau, die es längst scheu vergessen hat, was Liebe ist, wegen der viertausend Kronen, die sie dir versprochen hat – du hast sie allerdings noch mit keinem Auge gesehen, diese versprochenen viertausend Kronen –, daß also so eine alte Frau es sich herausnimmt, zu bestimmen, wann zwei Leute, die sich gern haben, miteinander glücklich sein dürfen.«

»Aber hat sie denn nicht recht, bei deinem kleinen Einkommen und meinem noch viel kleineren Verdienst, um unsere Zukunft besorgt Zu sein? Sie meint es ja nur gut mit uns.«

»Gut meint sie es? Und mit uns? Nein, Anna, mit mir meint sie es ganz gewiß nicht gut. Glaubst du, ich spüre all die kleinen und großen Bosheiten nicht, mit denen sie dich und mich zum Auseinandergehen bringen will? Sie hat mir's ja doch mehr als einmal angedeutet, daß ich dich noch einmal unglücklich machen werde. Nun, sie hat vielleicht recht!«

»Otto! – Aber nein, heute bist du nicht für deine Reden verantwortlich. Du bist ganz einfach krank. Deine Hand ist ja eiskalt, und schon deine ganze Laune sagt, daß dir etwas fehlt. Es ist halt ein verlorener Abend. Nicht der erste ist es, und es wird nicht der letzte sein, den du uns durch solch eine Stimmung verdirbst. Ach, wie hab' ich mich gerade auf den heutigen Abend gefreut! Meine ganzen Ersparnisse hab' ich mitgenommen – siebenundvierzig Kronen. Ein Dutzend Handtücher habe ich mir kaufen wollen, solche mit Einfassung, weißt du? Und zwei Tischtücher und ein Dutzend Servietten. Dazu hätte es gerade gelangt. Ich hab' mir alles schon ausgerechnet, wie ich heut mittag auf einen Sprung in der Rotenturinstraße gewesen bin. Ich hätt' ja da gleich alles kaufen können, aber ich hab' mir's so schön vorgestellt, daß du dabei sein sollst. Na, da kann man halt nichts machen. Werden wir also die Freud' ein andermal haben.«

Wenn sie auf ihr Geplauder eine Antwort erwartet hatte, dann hatte sie sich geirrt. Ihr Verlobter war wieder in finsteres Nachdenken versunken und fuhr erst aus seinem Sinnen empor, als sie aufhörte zu sprechen.

»Ja, ja, freilich gehen wir später einmal miteinander einkaufen,« erwiderte er zerstreut und stürzte ein Glas Wasser hinunter.

In Annas Augen stiegen Tränen auf. Allein sie war ein tapferes Mädchen und faßte sich gewaltsam. In der Überzeugung, daß heute nichts mehr zu ändern sei, forderte sie Otto auf, die Zeche zu bezahlen und mit ihr wenigstens bis zu ihrem Hause zu gehen.

Er war dazu bereit. Nach wenigen Minuten gingen sie wieder die nebligen Straßen weiter.

Otto zog Annas Arm an sich und sagte allerlei Liebes und Zärtliches. Ja, er forderte sie sogar auf, noch einen Umweg mit ihm zu machen, und so kam sie fast eine Stunde später als sonst vor dem Hause an, in dem sie mit ihrer Tante wohnte.

Da nahm Otto Falk rasch Abschied, und Anna betrat den nur spärlich erleuchteten Flur.

»Warum er es nur jetzt plötzlich so eilig gehabt hat?« dachte das Mädchen »Er hat wirklich Launen. Damit wenigstens hat die Tante recht.«

»Grüß Gott, Fräul'n Anna!«

Die kleine, rundliche Hausmeisterin hatte es gesagt. Sie war aus dem kurzen Gang aufgetaucht, in den die Treppe mündete.

»Guten Abend, Frau Grübl! Na, wie geht's denn Ihrem Tonerl? Hustet sie immer noch so stark?«

»Dank der Nachfragt! Besser geht's ihr. Der Tee, den uns die Frau Schubert angeraten hat, ist halt doch gut.«

»Ei freilich. Die Tant' ist ja ein halber Doktor!« lachte Anna.

»Und eine ganze Einsiedlerin. Ich hielt's nicht aus, von früh bis abends so ganz allein zu sein. Aber freilich, wir einfachen Leut' sind ihr halt nicht gut genug.«

Das kam einigermaßen bissig heraus.

Anna hob unwillkürlich den Kopf und entgegnete kühl: »Da irren Sie sich. Die Frauen hier im Hause sind der Tante keineswegs zu einfach. Sie ist nur gern für sich. Gute Nacht, Frau Grübl!«

Die kleine, dicke Frau schaute ihr mit einem lauernden Blick nach. »Was hat sie nur damit sagen wollen?« murmelte sie. »Und wie hochmütig sie plötzlich dareingeschaut hat!«

Dann schickte sich Frau Grübl an, mit ihrer Laterne und dem Kohleneimer nach dem Keller zu gehen.

Anna war schon im Hof verschwunden. Die Dunkelheit, die allabendlich hier herrschte, falls nicht das klare Mondlicht dem einzigen armseligen Laternlein bei seinem Geschäfte half, war heute noch vertieft durch den dichten Nebel, der schon seit Stunden über der Stadt lag.

Anna sah nach ihrer Wohnung hin. »Warum hat sie nur heute kein Licht?« murmelte sie. »Oder hat sie die Laden schon geschlossen? Das tut sie doch sonst erst vor dem Schlafengehen.«

Vor der Tür der ebenerdigen Wohnung blieb sie stehen und schob den Schlüssel in das Schloß, das sie bei ihrem Gehen und Kommen stets selber zu sperren und zu öffnen pflegte.

Aber heute konnte sie letzteres nicht tun, denn es steckte von innen der Schlüssel. Die Tante hatte also vergessen, ihn abzuziehen.

Anna ging wieder hinaus auf den Hof zum nächsten der Zimmerfenster und pochte daran. Dabei gewahrte sie den zarten Schein des Lämpchens, das ihre Tante allezeit vor einem Marienbild brennen ließ.

Die hölzernen Fensterladen waren also nicht geschlossen, sonst hätte man das Licht, das in dem roten Glaslämpchen brannte, nicht sehen können.

Anna lauschte. Nichts regte sich.

Wieder pochte sie an das Fenster. »Ich hätte nicht so spät kommen sollen,« dachte sie. »Über dem langen Warten wird sie eingeschlafen sein.«

Mit diesem Selbstvorwurf ging Anna wieder zur Tür, sicher erwartend, daß ihr zweites, sehr starkes Pochen die alte Frau geweckt haben müsse. Aber noch immer rührte sich nichts.

Jetzt legte die schon ungeduldig Wartende, ohne sich dabei etwas Besonderes zu denken, die Hand auf die Klinke.

»Ah!« rief sie unwillkürlich aus, denn die Klinke hatte dem Druck nachgegeben, und die Tür wich zurück.

Anna trat zuerst in die Küche, fand sofort die Zündholzschachtel, die Zugleich mit einem Leuchter stets auf dem Speiseschrank stand, und zündete die Kerze an.

»Grüß Gott, Tanterl!« rief sie durch die offenstehende Tür in das Zimmer hinein.

Keine Antwort.

Jetzt wurde ihr nun doch bang zumute. Sie war schon im Begriffe gewesen, die Tür, die in den Hof hinausführte, wieder zu schließen, aber sie ließ es jetzt sein.

Zuerst zögernd, dann seltsam hastig machte sie, den Leuchter in der Hand, die wenigen Schritte zum Zimmer hin und leuchtete hinein.

Fin nächsten Augenblick gellte ein wilder Schrei durch die nächtliche Stille. Anna, wirr vor Entsetzen, taumelte bis an die Wand der schmalen Küche zurück.

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