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Der lichtgrüne Roggen schießt fast sichtbar in die Höhe, und Lerchen trillieren rastlos darüber. Zeitiger als in anderen Jahren entschließen sich die vielen Kirschbäume ihre bräunlichen Knöspchen zu öffnen, und manche Zweige sehen schon in ihrer jungen Blütenpracht aus, als läge darauf Schnee. Auch über den freundlichen Friedhof Seedlands breitet der Lenz sein Gewand. Viel neue gelbgrüne Triebe des üppig wuchernden Efeus schlingen sich dort um all die Urnen, Steinplatten, gebrochenen Kreuze und Säulen, auf denen immer die gleichen Worte der Trauer, der Klage oder des Trostes stehen. Um die Gräber Willy Wedekamps, des Oberförsters und Professor Halligers blühen Veilchen in Menge. Den geschmackvollen, einfachen Stein, der des Heiligen Grab deckt, umschlingt ein überreiches Gewirre und Geranke lichtblauer Vinca, die der Verstorbene so sehr geliebt. Seine Witwe hat gelernt, ruhigen Herzens diese Stätte zu besuchen, sie eben so ruhig zu verlassen und nicht mehr völlig verzweifelten Stimmungen zu verfallen. Wenn ihr auch der Tote unter diesem Hügel nicht Klarheit sendet und ihr auch sein Bild eine Zeitlang verzerrt war, – so hat sie doch seine Seele wieder gefunden. Diese spricht zu ihr so laut aus allen Erinnerungen. Mit der ihr in bewundernswertem Maß eigenen Stärke bemüht sie sich, allem fruchtlosen Grübeln zu entsagen. Ihre Nerven haben sich auch schon sichtlich in den Tagen ihres Hierseins beruhigt, und die friedliche, ländliche Stille umschmeichelt sie wie mit milder Hand; allein dennoch weiß Buchlehner, daß sie auch hier wie überall lebt gleich einem Menschen, der entweder eines unaufhörlichen Narkotikums bedarf oder steter Anregung, um ein sachte schleichendes und auch schmerzhaftes Leiden zu vergessen. Er hat, bevor er ihr seinen Vorschlag gemacht, wohl erwogen, daß gegen den Seedlander Aufenthalt manches spricht. Mehr als in München, mehr als irgend wo sonst würde sie ja hier an den Toten und das Vergangene erinnert. In doppelt lebendiger Stärke mußte da, wo Halliger gelebt und gestorben, vor ihr stehen, was er ihr über das Grab hinaus vernichtet: ihr berechtigtes Verlangen nach einem neuen und anderen Glück! Stärker als irgend sonst würde sie gerade in Seedland fühlen, wie wenig diese Denk- und Handlungsweise zu ihm paßt, wie sie ihm so ganz unähnlich scheint. Fürs erste würde das tragische Rätsel, das zu ergrübeln sie stets versuchen würde, nur noch tiefer verhüllt werden. Die Rückkehr auf das Gut ähnelte einem scharfen Schnitt, und die Gewohnheit konnte dann dort die Wunde heilen helfen. Solange es in ihrem Besitz ist, würde sie ja doch immer wieder dorthin zurückkehren, und nur die Zeit allein könnte den tausend Erinnerungen ihre Stachel rauben. Buchlehner meinte, daß Gertrud in den Räumen, in welchen der Verstorbene gewirkt und nur für die Seinen gelebt, sich wohl noch am ehesten zu einer Resignation aufzuschwingen vermögen werde, zugleich zu dem Gedanken, daß der Gute und Edle, der von je nur das Beste gewollt und erstrebt habe, aus irgend einem tiefliegenden Grund mit seinem ausgesprochenen Wunsch doch vielleicht das einzig Wahre getroffen, wenn auch jener Grund unerforscht bleiben würde. Langsam erwüchse es in ihr zur Überzeugung und würde ihr endlich zum Sieg verhelfen über alles dumpfe, zwecklose Grübeln. Onkel Toni kennt ja sein Traudl nicht umsonst so lange und gut. Ihre Mutterschaft auch, in Zukunft auch ihre Kameradschaft mit ihren Kindern, müßte ihr nun noch leichter weiter helfen.
Während Gertrud Halliger all die Wohl vertrauten Garten-, Feld- und Waldwege beschreitet, auf welchen vor ihr einst vier kleine Füßchen getrippelt, ruft sie sich jene Jahre zurück. Tausende von Leiden und Freuden, – so viele heimliche dabei – ihr Ringen und Streben, den Kindern im idealsten Sinne Mutter zu sein! Hatte sie es denn nun erreicht? Ihre Älteste, – Lise! Frau Halliger atmet erleichtert auf! Es scheint ja nun, als ob sie doch endlich ernten dürfe, was sie einstens in dieses spröde, verschlossene, kalte Herz gesät, was sie dann zum Keimen und Blühen brachte und nimmer aufgehört hatte, sorgend und pflegend zu umhegen. So empfindet sie nun tief das Glück, das junge Mädchen sich näher als je zu wissen und an ihm und dem Bruder ein heiliges Besitztum zu haben; das soll ihr mit der Zeit helfen zu vergessen, was sie an Dombrowsky verlor, und ihr den Verzicht auf irgend ein persönliches Lebensrecht erleichtern. Und To! Der liebe, liebe Junge! Wäre es nicht Unverstand und Überspanntheit, von dem Knaben, der so echt und recht in den Flegeljahren, dessen Hauptstreben Selbständigkeit, eine gewisse, oft nur geheuchelte Härte und Kühle ist, zu verlangen, daß er noch das kindisch bedürftige Gehaben zeigen soll von einstens? Sie steht ja doch, daß er den alten Kern noch hat und daß die Kadettenuniform das frühere gute und reine Herz deckt. Wenn er seine Mutter vorsichtig und flüchtig küßt oder unter einer fast übertrieben kavaliermäßigen Verbeugung mit den Lippen ihre Finger nur streift, wenn er kommissig grob auffährt, irgend einmal den Erwachsenen ein wenig affektiert markieren will, so nimmt sie das alles nicht tragisch: ebensowenig die kleinen gelegentlich von ihr gemachten Funde, die aus Nagelfeilen und Polierzubehör, einem Monokel, einigen zerknutschten Zigaretten, einem Bändchen Bierbaumscher Gedichte und endlich einer Haarlocke in einem unechten Gold-Medaillon bestehen. Sie fordert jetzt auch gar kein grenzenloses Vertrauen; aber sie hört dennoch nicht auf, es zu erstreben, und fühlt mit klarer Deutlichkeit, daß ihr großer Junge eines Tages kommen und gestehen würde, daß sie ihm eben doch die Mutter der Mütter bedeute. Das erste Wiedersehen nach damals, vor dem sie sich eigentlich recht gefürchtet hatte, war glatt und gut verlaufen. Der gertenschlanke Knabe, schon wieder einen Schuß höher, etwas weniger kindlich auch, empfand kaum mehr das Vergangene. Zu viel hatte er indessen selbst erlebt! Ach, eine ganz unglaubliche Menge Wichtiges! Freilich nur solche Dinge, die ihm später jenes melancholische Lächeln ablocken werden, mit dem wir auf all diese winzigen, oft so verschlungenen, aber leuchtenden Pfade unserer Kinderzeit zurückzublicken pflegen. To war bei der ersten Begrüßung und in den ersten Stunden des Zusammenseins ein wenig verlegen und unbeholfener als es seiner so gewandten Art sonst zu eigen ist, gewesen; dann aber hatte er mit Gertruds Hilfe rasch den rechten Ton gefunden und genießt nun das Zusammensein mit Mutter, Onkel Toni und einem geladenen Freund in dem geliebten Seedland ungemein.
Ganz überrascht ist Frau Halliger, wie oft und warm, ja geradezu sehnsüchtig, Lise schreibt. Durch jede ihrer trefflich stilisierten Zeilen, in welchen sie eine flotte Schilderung ihrer Reise gibt, zittert zunehmend ein tiefes Heimweh. Nach und nach verschwinden auf diesen Blättern alle Beschreibungen, sie werden zu reinen Ausflüssen ihres Fühlens und Denkens und beängstigen endlich fast die Mutter durch einen stark ausgeprägten, schwermütigen Zug. Immer wieder aber durchfliegt sie die Briefe ihres Kindes mit heißen Empfindungen. Eine Stelle in einem der Briefe lautet: »Ja, wäre ich doch bei Dir, – an Deiner Seite! Mir ist das Herz so voll von so vielem. Onkel und Tante sind sehr gut zu mir, und ich bin ihnen auch herzlich dankbar; aber sie sind mir doch ferner als ich je geglaubt, und mein wirkliches Fühlen und Denken – wenn ich es heraus kehrte und offen zeigte – wäre ihnen fremd!«
Wenn ich es herauskehrte, offen zeigte, – das ist Lise! Aber die Mutter faßt das nicht auf. Sie empfindet nur glücklich, was ihr Kind ihr durch die übrigen Worte zuruft. Der kleinen Schwärmerei ihrer Tochter für Pastor Mesting gedenkt sie gar nicht.
Fast ist es, als erblühe Gertrud nun wie eine Schattenblume, die endlich von einigen Sonnenstrahlen erreicht ist und diesen mit aller Kraft entgegenstrebt. Eine Art Oster- und Auferstehungsstimmung will über sie kommen, wie sie am Arm Buchlehners, hinter den zwei strammen Jungens her, die bald hier bald dort vom Weg abspringen, über die bunte Heide geht. Wenn To und sein Freund so fröhlich und guter Dinge sind oder gar tolle Streiche machen, so kann sie sogar wieder lachen.
Wirklich, denkt Onkel Toni, mein Traudl kann wieder lachen! Fast so hell wie früher! Dös machen halt die Brief von der Lisl, und – er sieht wie Gertrud ihren Arm um Tos Hals schlingt, und bemerkt, daß dieser sich auch vor dem Freund dessen durchaus nicht schämt, sondern sogar die Liebkosung erwidert, – halt überhaupts ihr Mutterglück! Herr Gott, wanns nur darin vollen Ersatz finden möcht!
Er wünschte, sie wäre älter, wirklich, – nicht etwa nur äußerlich. Alles ginge leichter, – viel, viel besser. Fast mit Bedauern sieht er sie so mädchenhaft neben dem großen, sie schon überragenden Sohn schreiten, sich in raschen, lebhaften Bewegungen bald nach einer Blume oder einem Insekt bücken, gewandt einen Torfgraben überspringen und endlich sogar erfolgreich mit beiden Knaben um die Wette laufen. Gleich darauf aber sitzt sie bei der alten, nun fast völlig gelähmten Bammersten im Briefträgerhäuschen und erzählt ihr bereitwilligst vom Hanserl, das gewiß in den großen Ferien nach Seedland käme, und von seiner armen Mutter Tod. Mit geschickten Händen bettet sie die Kranke, weiß ihr in aller Eile wohl zu tun und entfaltet ihre alte, liebe Art, um den mürrischen Mann zu trösten, der kaum mehr lange seines Amtes würde walten können. Da ist sie wieder: ›Unsere liebe Frau!‹ Ihr feines, wunderschönes Gesicht ist rosig überhaucht, und aus ihren Augen, bei denen vorhin noch beim Rennen mit den Knaben kleine funkelnde Lichtchen ehemaligen Mutwillens aufgeglommen, bricht nun der milde Schein eines großen Erbarmens.
»Ich will und muß gut sein, – glücklich machen! Ich habe ja keinen Beruf, Onkel Toni, und so sollen diese Versuche mir den Weg ebnen!«
Ein Paar weiße, flaumige Wolken bergen die Sonne, so daß nur mehr ein mattes, gelbliches Licht ohne Flimmern und Glitzern über dem Garten des Herrenhauses steht. Langsam folgen Buchlehner und Gertrud den längst stürmisch und hurtig vorausgeeilten Knaben. Da sehen sie sich plötzlich vor einem kleinen Wunder. Eine ganz junge Buche, die sie noch zart und niedrig gekannt wie eine Blume und die niemals vor Ende Mai gegrünt, steht übersät mit winzigen, lichtsprießenden Runzelblättchen, die noch zu beben scheinen in zager Werdeangst. Gertrud aber ist's, als erblühe ihr hier eine Verheißung, dicht an der Eingangspforte Seedlands, von der sie empfangen worden war als blutjunge Frau, die sich geöffnet hatte vor den schwarz gekleideten Männern, die den Sarg mit Rolands Leiche getragen, die verschlossen wurde hinter der erschauernden Witwe, als sie das Herrenhaus verlassen.
»Ja ja, Traudl! Schau, – aus lauter solche junge, grüne Zweigerln g'flochten müßt unser Wort zu deinem jetzigen Empfang hier über dem Tor stehen: ›Tetragamatan!‹ Aber i mein, es steht wirklich da drüben, und hörst du auch die Glocken so wie ich?«
»Ja, Onkel Toni, ja!«
Sie küßt den alten Mann auf die Stirn. –
Ein heiteres Mahl, bei dem auch das Osterlamm, von der Wirtschafterin knusprig gebraten, nicht fehlt, vereint sie.
»Weißt du, Onkel Toni,« meint bei Kaffee und Zigaretten, während die Knaben längst wieder weiß Gott wohin verschwunden sind, Gertrud, »ich möchte gar zu gerne Ottilie Burkstaller jetzt hier bei uns haben. Sie ist so wie so gerade in Berlin. Ich habe zwar gar keine Ahnung von ihrer dortigen Adresse, aber über München wird und muß sie ja zu erreichen sein.«
»Aber g'wiß, – natürli, Wenns di freut!«
Im innersten Herzen wäre freilich dem Professor dieses Idyll ungestört weit lieber gewesen.
»I hab' auch g'hört von der Gärtnerin, daß der Prediger, der den Mesting hier vertreten hat, bereits wieder ab'dampft ist und der Pastor glei nach die Festtag' wieder z'rückkommt.«
Damit verrät Buchlehner eine gewisse Ideenassoziation und zwinkert auch Gertrud schelmisch zu.
»No, was is denn? Is die Bomben schon platzt dir gegenüber, oder soll das, – das mit der Burkstaller etwa jetzt ein Verhinderungsexperiment deinerseits vorstellen?«
Sie lacht herzlich.
»So etwas Ähnliches vielleicht!« Aber ernst setzt sie gleich hinzu: »Nein, die Vorsehung spiele ich nicht und noch weniger die Heiratsstifterin. Aber deshalb bin ich doch durchdrungen davon, daß die beiden ausgezeichnet für einander taugen.«
Professor Buchlehner blickt sie ganz entsetzt an.
»Ja, aber i bitt di! Die zwei? Und wo er doch dich, – geh, mach keine G'schichten! I hab ja alles g'merkt, – dös is ja rein zum Lachen. Außerdem weißt, abg'sehen davon, – wenn i auch persönlich die Burkstaller sehr gut versteh und gern mag, so kann eins halt doch sehr verschiedener Meinung mit mir, – mit dir auch, – sein. I meinet grad der Mesting, – überhaupt so ein Pfarrer, – nein du!«
Gertrud aber wiegt ihren zierlichen, abgestreiften Schuh auf der Spitze ihres kleinen Fußes und biegt den lockigen Kopf mit dem flimmernden Haar, in dem die Sonne mit Hilfe der roten Veranda-Vorhänge seltsam malerische Effekte erzeugt, weit nach hinten über. Sie sagt zwar nichts, lächelt aber sehr listig, wie Onkel Toni ihr vorwirft.
Die nach München geschickte Depesche hatte die Adressatin trotz des Umweges sehr rasch erreicht. Nun ist die Malerin bereits seit einigen Tagen eine liebe, jeden Winkel des Hauses sozusagen mit ihrem Temperament erfüllende Hausgenossin, mit deren Anwesenheit sich selbst Buchlehner völlig ausgesöhnt. Sie behauptet, es läge in der Seedlander Luft etwas, das wie Champagner auf sie wirke und in ihr einen unbändigen Schaffensdrang erwecke. Täglich wird nun Gertrud sowie To wenigstens für ein paar Stunden in das früher viel von Professor Buchlehner benutzte Atelier geschleppt, zur Sitzung, und was immer auch die Künstlerin unternimmt, scheint ihr jetzt zu gelingen. To aber macht seine Beobachtungen, die er dann seinem Freund heimlich und mit brennendem Interesse mitteilt. Ganz plötzlich scheine oft vor der Malerin die Welt, – auch ihre allernächste Umgebung, – zu versinken, und dann starre sie bleich mit zusammengekniffenen Lippen und schmerzlichem Gesichtsausdruck vor sich hin. Nicht selten verschwinde das Fräulein darauf in sein Zimmer, worin es sich einschließe. Die beiden Knaben, die Ottiliens Nachbarn sind, schwören auch darauf, diese des Nachts oft schluchzen und dumpf stöhnen zu hören. Das lebhafte Interesse der zwei wird aber bald durch die Erfindung einer großartigen Katzenfalle wieder fast völlig abgelenkt.
Ottilie Burkstaller wird nicht im geringsten verlegen, als Mesting der Gesellschaft eine offizielle und ganz getreue Schilderung ihrer gegenseitigen Berliner Begegnung macht. Professor Buchlehner legt gar keine weitere Teilnahme an den Tag, und auch Gertrud, die eben verzweifelte Anstrengungen macht, einen möglichst unsichtbaren Flicken auf Tos Hausrock zu nähen, sieht gleichfalls nur freundlich von ihrer Arbeit auf und meint: »Wirklich ein zu netter Zufall!«
Der Pastor ist ziemlich viel herüben im Herrenhaus und legt an sein in jüngster Zeit recht vernachlässigtes Werk, die Bibliothek Halligers vollkommen übersichtlich zu machen, die letzte Hand. Jedes hat seine Beschäftigung, so daß selbst eine Reihe von grauen, trostlosen Regentagen die allgemeine gute Stimmung nicht zu zerstören vermag.
Ottilie Burkstaller versucht alles, Frau Halliger wieder der breiteren Geselligkeit zurückzuerobern.
»Sie sollten wirklich in München sich von jetzt ab mehr an dem öffentlichen geistigen Leben beteiligen, gnädige Frau,« rät sie.
»Ach, ach nein!« Schon bebt Gertrud wieder innerlich davor zurück, unter Menschen als Genießende, Empfangende, nicht nur als Helfende und Gebende sich bewegen zu sollen.
»Ich will zu Haus ganz in meiner Ruhe bleiben.«
»Die Absicht werden wir dir halt schon in Zukunft energisch austreiben müssen, liebs Traudl! So geht das jetzt nimmer weiter. Aber mach nur glei wieder ein liebs und lustigs G'sichtel!«
Mesting folgt Buchlehners Blicken und schaut auch ernst zu Gertrud hinüber. Klar spiegeln sie seinen Wunsch, sich mit ihr aussprechen zu können. Ottilie, die das wohl bemerkt, steht unruhig auf und, um zu verhindern, daß der Kreis sich trenne und der Pastor vielleicht allein bei Frau Halliger bleibe, führt sie das Gespräch noch weiter fort.
»In Berlin hätte ich, wenn es mein Wunsch gewesen wäre, sehr leicht mit Ihrem Bruder, gnädige Frau, dem Herrn Bauamtmann, in der großen Kunstausstellung zusammentreffen können. Im Restaurant ging er dicht vor mir her. So bin ich nun um die Gelegenheit gekommen, Ihnen Grüße von ihm auszurichten. Er hat wohl gar keine Ahnung, daß Sie Berlin gerade so nahe sind? Nehmen Sie es mir nur nicht übel, daß ich ihn schnitt; allein, verzeihen Sie, – die Art, welche der Herr Bauamtmann in Kunstausstellungen entwickelt, ist mir geradezu unausstehlich. Gott sei geklagt, ich habe darin Erfahrung. Stets posaunt er sein Urteil mit diktatorischer Bestimmtheit in die Welt hinaus und sucht es jedem aufzudringen. Hat man eine andere Meinung wie er, so wird er einfach grob.«
Frau Halliger, die ganz derselben Meinung ist wie die Künstlerin, muß wirklich lachen über deren unverfrorene Aufrichtigkeit, sagt aber bloß: »Sie haben recht, Ottilie, ich kann es wirklich nicht leugnen.«
Buchlehner bemüht sich vergeblich, seine etwas defekte Zigarre wieder in Brand zu setzen und verkündet dabei zwischen den Zähnen hindurch:
»Ich hab's schon oft g'sagt, – unter denen viele Verbote, wie das Hunde- und Stockmitbringen und solchene Sachen, die 's alleweil anschreiben, sollt sich halt vor allem in Ausstellungen das Gebot befinden: Maul halten!«
Ottilie bejubelt geradezu diesen Ausspruch, die übrigen schließen sich, jedes nach seiner Art, lebhaft an. Dann sagt Gertrud, die ihre Arbeit in den Schoß gelegt hat:
»Ich meine, ein wirklich feiner Kunstkenner wird immer nur mit schweigender Bewunderung ein gutes Werk beschauen. Vielleicht wird er, darnach gefragt, die einzelnen Vorzüge prüfen und sie wohl gerade dadurch in das rechte Licht stellen, daß er das weniger Vollkommene andeutet, aber niemals so laut darüber reden, daß Fremde es hören müssen. Ist doch Tadel mit Geschmack geäußert und begründet, gar oft schmeichelhafter als der Ausdruck des Staunens, dem sich ohne Verantwortung und ohne wahres Verständnis die flache, große Masse hingibt.«
Die Malerin stellt sich da plötzlich vor Mesting, macht ihm eine tiefe Verbeugung und erklärt mit einer nach ihm zielenden Handbewegung:
»Der Herr Pastor wird mir gestatten, in ihm der verehrten Korona einen absolut vollkommenen Repräsentanten dieser soeben von der gnädigen Frau zitierten, seltenen Menschen-Species vorzustellen. Dieser Herr hier ist wirklich der echte Führer bei Besichtigung von Kunstschätzen. Ich muß es ja wohl wissen, – ich hatte ja erst kürzlich die Ehre, diese Tatsache so recht feststellen zu können.«
Mesting wehrt mit lebhafter Handbewegung, aber stumm bleibend ab.
»I gratulier!«
Professor Buchlehner sagt es lakonisch und trocken, dreht sich dabei zum Fenster und verbirgt dadurch sein Schmunzeln.
»Kannst du auch wirklich in diesem Fall,« ruft ihm Gertrud zu. »Mit dir aber, lieber Onkel Toni, habe ich indessen auch schon verschiedentlich genossen, was es bedeutet, einen echten Führer, wie er sein soll, zur Seite zu haben. Mußte ich auf deine Gesellschaft verzichten, so bin ich immer am liebsten allein und zu den ruhigsten Zeiten in die Ausstellungen gegangen. Sie haben Berlin wohl überhaupt recht schätzen gelernt und auch gehörig intus bekommen?« wendet sie sich an die Künstlerin.
»O, ich war so glücklich! So ungefähr wie jetzt bei Ihnen und wie – wie ich glaube, noch niemals zuvor gewesen zu sein!«
»Oho!« ruft Onkel Toni gutmütig malitiös herüber.
»Beschwören Sie lieber das Wetter, Sie, – Sie Stimme aus dem Hintergrund!«
»Tu ich ja schon! Wird schon besser! 's hat wirklich so was Aufklärendes, das Wetter!«
Allein schon durch des Pastors absolutes Schweigen Wird die Malerin ganz zappelig, springt wieder von ihrem Stuhl auf und macht sich mit hochgehobenen Armen an dem einen Fenstervorhang zu schaffen, der sich dicht an der Oberlichtscheibe verwickelt hat. Jetzt blickt Mesting längst nicht mehr Frau Halliger an. Jeder Bewegung der prächtigen Gestalt Ottiliens folgt er mit wahrer Spannung, ohne Miene zu machen dem Mädchen etwa zu helfen.
Gertrud legt die fertige Arbeit zusammen, streift mit einem Blick die beiden, geht dann zu Buchlehner hin und fordert ihn auf, mit ihr die Regenpause zu einem kurzen Gang durch den Garten zu benutzen.
»Später will ich mich dann in der Bibliothek genauer über das Resultat aller Bemühungen Pastor Mestings zu orientieren suchen. Auf Wiedersehen!«
Freundlich nickend geht sie.
Die jähen Stimmungswechsel, die Gertrud überfallen, sind wirklich nicht zu bekämpfen. Kaum hat sie sich emporgerafft, drückt sie irgend ein Anblick, eine neugeborene Erinnerung abermals tief darnieder. Beim Vorüberstreifen an der Kammer, in der Kathl so lange Jahre geschlafen, tut ihr das Herz immer gleich wieder so viel weher. So scheut sie sich jetzt auch fast, in das friedliche Dämmergrün der Bibliothek hinabzugehen. Nachdem sie sich von Buchlehner im Garten getrennt und eine Handvoll Veilchen in ihr Boudoir heraufgebracht hatte, mußte sie nun doch tun, was sie vorher Mesting gesagt hatte.
Ein Fensterflügel des großen Raumes steht weit offen, und die eindringende Regenluft mischt sich äußerst wohltuend mit der trockenen des Zimmers, der ein typischer Geruch nach Büchern und Papier anhaftet. Trotz aller Arbeit, die der Pastor hier eingeleitet, ist es dennoch nicht ungemütlich oder unordentlich. Gertrud hatte sich bald überzeugt, daß Mesting seine Arbeit wohl nach ihren Wünschen getan haben mußte. Einen Augenblick schöpft sie dann Luft am offenen Fenster.
Auf dem noch völlig kahlen Birnbaum davor singt eine Amsel laut und unverdrossen, und der kleine, bewegliche Vogelkörper hebt sich auf dem zierlichen Zweig scharf von dem Stückchen Hellen Himmels dahinter ab.
Dann läßt sich Frau Halliger wieder in den Stuhl fallen und träumt vor sich hin. Da, gerade da wird ihr die Gestalt des Verstorbenen wieder so lebendig; und mit ihr all das, was sie an seiner Seite hier erlebt. Es wächst vor ihren Augen das Gewesene, das Gewordene, das – Werdende! Ein Grauen befällt sie. Einsam! Der Einsamkeit entgegengehen, mit Wunden im Herzen. Wie etwas weit Überschätztes will ihr in dieser Stimmung ihre Mutterschaft erscheinen. »Sie werden gehen – dann! – Und ich werde – einsam sein!« Tränen rinnen ihr aus den Augen; aber sie rafft sich auf, Weichheit wie Bitterkeit zu bezwingen. Sie tritt zu dem offenen Fenster, vor dem es säuselt und wispert, als erzählten sich die safttreibenden Bäume flüsternd von Sprossen, Grünen und goldner Sonne.
Auf dem weißlackierten Bretterbord hebt sich etwas Dunkles ab, das sich schwach bewegt. Gertrud greift nach den Streichhölzern nebenan und entzündet eine Kerze, um besser sehen zu können. In deren Schein gewahrt sie eines der Milliarden von Mysterien, wie sie Allmutter Natur vor uns ausbreitet. Mühevoll, ganz langsam und zag, als fühle er selbst, daß er zu früh daran sei, arbeitet sich ein weißer Falter aus seiner Puppe, in der er wohl aufs Fensterbrett gefallen sein mochte. Nun ist er frei! Rührige Füßchen tasten, zucken und zappeln, sich fest an das Holz zu klammern; seine Flügel kleben, als wären sie feucht, am Körper und arbeiten mächtig in unaufhörlichem Zittern. Dem Kerzenschein sich nähernd, krabbelt das Wesen ein Stückchen weiter, dann spreizt es die Flügel völlig aus und sitzt ganz ruhig, wie zum letzten Sammeln aller Kräfte.
Laulich fühlt Gertrud um ihre heißen Wangen die Abendlust wehen. Sie wendet sich von dem Tierchen ab und geht, im Innern aufgewiegelt und gepeitscht, erregt im Zimmer auf und ab. Wie sie wieder zum Fenster kommt, klammert sich der Falter an das Glas, tastet daran mit seinen schwarzen, zierlichen Füßchen, breitet noch einmal die schimmernden Flügel, die gleich wieder matt herabhängen, aus und fällt dann tot zu Boden. Neben seinem zarten Leib senden Freiheit und Lenz ihre Grüße herein, die ihn nicht mehr erreichen.
Ein kalter Hauch nahender Nacht dringt in das Zimmer. Fröstelnd schließt Gertrud das Fenster; den toten Sommervogel aber birgt sie in der warmen Höhlung der Hand, als könne sie ihn dadurch zu neuem Leben erwecken. Wie vorher sitzt sie in dem weiten Stuhl, das Haupt gebeugt. In ihrem Schoß liegt der Schmetterling. Über den zarten Silberstaub seiner kaum entfalteten Schwingen streifen die Spitzen der schlanken Finger. Das stille Weib nickt dem Tierchen zu:
»So wie du, – so wie du! Nach langem Kampf ans Licht! Aber es war nur das täuschende einer Kerze, nicht das echte der Sonne. Ein kurzes Aufschwingen, – dann – der Tod! Das Schicksal meiner Liebe!«
Sie ergreift den toten Sommervogel, streift ihn leise mit ihren Lippen und schleudert ihn, bevor sie die Bibliothek verläßt, durch das geöffnete Fenster hinaus ins Dunkel. – –
Ganz still ist's in dem behaglichen Wohnzimmer geworden, nachdem Buchlehner und Gertrud gegangen. Von der Traufe und den drei vor dem Fenster stehenden, grünenden Birken mit ihren weißfleckigen, schlanken Stämmen, fallen von Zeit zu Zeit dicke Tropfen auf den schmalen Pflasterweg vor der Hauswand. Ein monotones, gemütliches Geräusch. In diese Ruhe mischt sich endlich etwas Beklemmendes; wenigstens für das Mädchen, das immer wieder aufs neue Mestings Blicken begegnet, die forschend auf ihr ruhen. Aber er hat ja überhaupt eine solche Art! Doch ihre Unruhe wächst.
»Wollen wir nicht auch hinaus. – Der Regen –«
Der Pastor hört gar nicht, was sie sagt, und fragt nun seinerseits:
»Warum glauben Sie eigentlich, jetzt hier und auch in Berlin, glücklicher als Sie jemals gewesen, zu sein?«
Horst von Mesting ist gar nicht frei von Eitelkeit, und er fühlt ganz gut den Eindruck, den er auf die Künstlerin gemacht; aber es ist auch noch anderes dabei. Von ihr weht ein Hauch zu ihm, der – – vor seinen dunklen Augen wogt ein buntes Getriebe, hinter Rauch und Staub! Er hört Stimmengewirr, – Musik, – von irgendwo Schellengerassel. –
»O, ich, – warum? Habe ich das denn etwa gesagt? Ich weiß nichts davon. Das Wetter ist eben –«
»Ich möchte wohl mehr wissen von Ihrem Leben, Fräulein Ottilie, und dem, was sie sich daraus als größtes Glück erobert. Das kann nicht allzuviel gewesen sein, wenn Ihnen diese jetzigen Tage ein so Unendliches bedeuten, obwohl ich sie nicht minder als schön empfinde!«
Sie erblaßt; es ist, als würde sie schmaler und kleiner. Tiefer in die Fensternische gedrückt, birgt sie sich halb hinter dem Vorhang. So spricht sie; aber es klingt unfrei und gedrückt, was sie sagt.
»Pah! Mein Leben! Was liegt daran! Ganz unbedeutend, ohne Interesse, wahrscheinlich ein Dutzendleben!«
Er steht hart neben ihr. Mit absoluter Sicherheit fühlt er, daß sie Dinge sagt, die nicht nur der Wahrheit nicht entsprechen, sondern an die sie selbst gar nicht glaubt.
»Sie aber müssen doch verstanden haben, – es noch verstehen, – dem Leben Gutes und Schönes abzuringen, – also: das Glück!«
Eine eiskalte Hand, die nervös nach irgend einer Stütze sucht, streift die seinige, während draußen die ersten Boten graubläulicher Dämmerung herangeflattert kommen. Leise fragt das Mädchen zurück:
»Was ist denn Glück?«
Mesting entgegnet tiefernst:
»Die Fähigkeit zu richtiger Bewertung von Besitz und Verlust, – von Bejahen und Verneinen, von Beschenkt- und Beraubtwerden und endlich – zu ruhiger Resignation.«
Ihre Gestalt bebt, wie sie jetzt vor ihm steht. Eine rätselhafte Erregung, die sie sich selbst nicht zu deuten wüßte, eine Angst auch, überkommt sie unter seinen scharfen Blicken, die sie durch das Dämmergrau hindurch mehr zu fühlen als zu sehen meint; der Hals ist ihr wie zugeschnürt. Gewaltsam bekämpft sie die törichten Anwandlungen. Zufällig kommt ihr ein Spruch wieder in den Sinn, den sie einmal in das Gedenkbuch einer ihr befreundeten Familie geschrieben hatte. Mit rauher Stimme stößt sie ihn, ohne Überlegung, fast mehr um überhaupt etwas zu sagen, rasch hervor:
»Zum wahren Glück gehört immer Mut; nur der Feige, dem er fehlt, kann ganz elend werden!«
Da! O, was hatte sie getan? Könnte sie doch das Gesagte zurücknehmen! Blitzartig steht vor ihr wieder eine Szene, deren sie vorher nicht mehr gedacht hatte. Ob er sich wohl erinnern wird, wann und wo sie diese Worte schon einmal zitiert hat? Sicher, sicher! – Zu spät! Sie sind schon ausgeklungen, sind verhallt, gewiß von ihm genau verstanden und erfaßt worden. Sie weiß, fühlt es,– zu spät!
Aufziehendes, schwarzes Gewölle verschüttet das letzte Restchen wirklichen Tageslichtes. Tiefer flüchtet Ottilie sich in die jetzt ganz dunkle Ecke; am liebsten möchte sie als Maus im nächstbesten Winkel verschwinden können. Ihrem Gesicht ist ganz nahe ein anderes. Eines Mundes Hauch mischt sich heiß dem ihrigen und fest umspannt eine Hand ihren Oberarm. Sie empfindet mit süßseligem Grauen die Nähe eines Zweiten, möchte ewig hier ausharren und doch zugleich wegstürzen in wilder Flucht. Mestings Stimme klingt dann mühsam beherrscht. In erkünstelter Ruhe, während trotz allem ein Klang unterdrückter zärtlicher Leidenschaft, den das Mädchen jetzt fast schmerzlich empfindet, sich darein mischt, sagt er: »Also doch, – also doch!« Dann aber ruft er fast jauchzend:
»Trovata, also dennoch Trovata!«