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Zweiundvierzigstes Kapitel.

Die Herren Verleger hatten Horst von Mesting auf demnächstige ruhigere Zeiten vertröstet. Ganz, ganz sicher würde man dann sofort seine Arbeit prüfen. Nur eben jetzt gerade – –. Recht enttäuscht und verstimmt verabschiedet sich dann der Pastor schleunigst und ist ordentlich froh, wie die große, breite Straße wieder vor ihm liegt.

Er ruft die nächste Droschke an und fährt in allerschlechtester Laune direkt zu seinem Bruder, dem Kammerherrn, der ein elegantes Haus am Kurfürstendamm bewohnt und dessen Gast er ist. Erst nach und nach wird Mesting etwas milder gesinnt, wozu das ausgezeichnete Frühstück nicht wenig beiträgt. Gelegentlich der nachmittäglichen Siesta gleiten dann so viele Bilder an seinen inneren Augen vorüber, daß er seine bei dem Verleger erlebte Enttäuschung fast vergißt. Mit Gewalt hat er sich auf die Arbeiten zur Verwirklichung seiner Zukunftspläne gestürzt, sobald er sich erst klar zu sein glaubte, daß er Gertrud Halliger liebe. Was er dann in München beobachtete, auch das völlige Verschwundensein des Barons, das sehr nach ›Korb-bekommen-haben‹ aussah, hatte ihm damals den ihm nun selbst unbegreiflichen Mut gegeben, der geliebten Frau seine Hand anzutragen. Freilich hatte er selbst in seiner gehobensten und verliebtesten Stimmung niemals völlig taub sein können gegen eine Stimme, die ihm zurief: Ihr paßt ja gar nicht zusammen, sie ist nicht die Rechte für dich und du nicht der Rechte für sie! Und trotzdem meinte er, nicht mehr los kommen zu können von der herrlichen Frau, die für ihn immer und immer, sogar im allerfrühesten Witwenschmerz, etwas so unendlich Fascinierendes gehabt. Ja, selbst aus den wenigen Zeilen, welche die Ablehnung seines Antrages enthielten und ihn so sehr deprimiert hatten, strömte ihm ein Hauch ihrer ureigensten Persönlichkeit, deren Reiz sich im Grund niemand zu entziehen vermochte, entgegen. Einst, in einer tollen Zeit, – sie war beinahe die Klippe geworden, an der um Haaresbreite sein Leben zerschellt wäre, – hatte er so viele Frauen kennen, auch in gewisser Art lieben gelernt. Aber dreierlei Arten hatten darunter gefehlt. Vor allem die Gertrud Halligers. Seltsam, wie wenig sie sein – und er ist so ehrlich sich zu gestehen, daß er es besitze – heißes Blut aufzustacheln imstande ist. Sie mildert eher sein Verlangen, beschwichtigt eher die Glut, die in ihm zuzeiten auflebt.

Mesting fängt an, sich auf seinem Diwan unruhig hin und her zu wälzen. Der zweiten Frauenart muß er gedenken, die ihm fremd geblieben. Vor seinen halb schlaftrunkenen Augen taucht eine wunderschöne Gestalt, ein stolz getragener Kopf auf, mit feurigem rotem Haar. Allerlei witzige, aber auch gute und wertvolle Worte, voll Sinn und kräftigem Kern tönen wieder an sein Ohr. Einen Ausspruch des schönen Mysteriums, das Glück betreffend, hat er sogar genau behalten: ›Zum wahren Glück gehört immer Mut; nur der Feige, dem er fehlt, kann ganz elend werden!‹ Gleich darauf aber ein herzhaftes Lachen, irgend etwas besonders Drolliges, ein origineller Vergleich, – kurz, – er muß der Trovata gedenken. Wäre er damals nicht so sehr in den Banden Frau Gertruds verstrickt gewesen, so hätte dieses auffallende und so anziehende Faschingswunder ihn sicher nicht mehr losgelassen bis zum allerletzten Atemzug Prinz Karnevals. Wenn er auch zehnmal noch Pastor ist! Hoffentlich nicht mehr lange! Jetzt kommt ihm doch wieder sein zweckloser, unsympathischer Vormittagsbesuch beim Verleger in den Sinn und will ihn mit den schwärzesten Ahnungen betreffs seiner Erfolge erfüllen. Aber weg damit! Lieber an die Trovata denken, auch schon, um damit Frau Gertruds Bild zu verscheuchen. Ja, warum mußte nur die Interessante ein Faschingsmeteor gewesen sein, statt als nicht wieder zu schwer erreichbarer Stern weiterhin zu leuchten? Mesting hatte wirklich mit sich zu kämpfen gehabt, um sich von der schönen Erscheinung loszureißen. Wie gerne sie ihn zurückgehalten hätte, hatte er wohl gemerkt. Eine Mördergrube hatte die Geheimnisvolle ja durchaus nicht aus ihrem Herzen gemacht; und dennoch, – nimmermehr war das ein gewöhnliches Weib gewesen! Wenn auch ein ganzer Strom heißen Lebens, ja Begehrens, von ihr ausgegangen war, sodaß es ihm fast unbehaglich geworden, so hatte ihn dennoch die sichere Empfindung nie verlassen, eine Dame vor sich zu haben. Eine Dame, die keineswegs bereit sein konnte, dem Nächsten Besten in einer Laune, im Leichtsinn einer Stunde, ihren wertvollsten Schatz zu überantworten. Geist und Bildung besaß sie! Wie treffend und poetisch hatte sie auch ihr Pseudonym gewählt! Nur schade, daß die Gefundene so bald eine Verlorene geworden. Grausamer Doppelsinn! Wenn sie nun wirklich eine Verlorene geworden wäre? Warum ihm das nur so peinlich dünkt? Warum ist ihm die Vorstellung so schmerzlich, daß dieses lebendige Geheimnis – es konnte ja dennoch den sogenannten ersten Kreisen entstammen – erniedrigt sein könnte? Was ging und was geht ihn wohl die Trovata an?

Mesting zündet sich eine der Henry-Clays an, mit welchen ihn sein Bruder verschwenderisch versorgt hat, und läßt den eben anklopfenden Diener, der den Mokka bringt, eintreten. Der behagliche, vornehme Luxus dieses Hauses bereitet dem Pastor äußerst angenehme Gefühle. Mit einem gelinden Schauer gedenkt er aber dabei nur um so öfter des einfachen Pfarrhauses von Seedland, mit dem er trotz aller Bemühungen doch nicht seine reichen Bedürfnisse und Wünsche in Einklang bringen kann. Lautlos ist der Diener wieder aus dem Zimmer geglitten, und der junge Mann streckt sich abermals aus. Und dann, – – dieses dritte Frauen-Genre! Diese Münchener Malerin! Er ist ihr ja freilich nur wenige Male und immer sehr kurz bei Frau Halliger, einen Moment auf der Treppe und selten bei den alten Degenhardts begegnet. Trotzdem aber fand er, daß auch sie etwas habe, – etwas, das, – das – – er kann es sich nicht recht erklären. Weiß es der Kuckuck, – es muß wohl in der Münchener Luft liegen, daß ihm gleich drei der dortigen Frauen in solch hohem Grad Interesse einflößten. Fräulein Burkstallers Gestalt, ihre Bewegungen, – und auch, obwohl sie merkwürdig wenig in seiner Gegenwart redete und er niemals etwas von dem ihm an ihr gerühmten Unterhaltungstalent gemerkt hatte, die Stimme, – erinnerten ihn fast an die Trovata. Natürlich nur sehr entfernt; es kann auch reine Einbildung gewesen sein. Lächerlich genug! Jenes schöne, elegante Weib und diese immer so bescheiden gekleidete Malerin mit den groben, unschönen Zügen!

So lange träumt der Pastor, bis ihn wirklich der Schlummer überfällt. Wie der Schläfer erwacht, bemerkt er, daß er schon um die erste Hälfte des Nachmittags, den er zu einem Ausflug benutzen wollte, gekommen ist. Nun aber sofort hinaus ins Freie! Zum Jagdhaus Grunewald will er, um von dort einen Bummel durch die Kiefernwaldungen zu machen. Irgendwie zu verabschieden braucht er sich nicht, denn Bruder und Schwägerin sind nicht zu Hause.

Indem er noch einen Moment unter der Haustür stehen bleibt, freut er sich der Frühlingsluft. »Pardon, – Pardon!« – eine Dame stößt ihn beinahe an die Schulter. Sie war so vertieft in einen ohne Zweifel eine Adresse enthaltenden Zettel, daß sie blind und taub war für die Umgebung. Mit trefflich gespielter Überraschung und Verlegenheit erwidert Ottilie Burkstaller die gestammelte Begrüßung des Pastors. Maßloses Erstaunen sowie der Umstand, daß diese Begegnung so genau seinen Gedanken von vorhin entspricht, wollen wirklich seine chevalereske Gewandtheit beeinträchtigen. Sie weist ihm das Papier.

»Ich suche hier die ganze Zeit die Wohnung von Bekannten, – Nr. 102, – das muß doch hier sein?«

»Aber gnädiges Fräulein! Hier heißt es doch Kurfürstenstraße, und Sie befinden sich auf dem Kurfürstendamm. Immerhin ein kleiner Unterschied!«

»Ja, lachen Sie mich nur aus, Herr Pastor! Sie haben recht; aber ich war ja nie vorher in Berlin und bin, wie man bei uns in München sagt, wirklich ganz damisch geworden. Dieses Gehetze, Gewühl und Getriebe hier. Dagegen sind ja selbst die belebtesten Teile der guten Isarstadt noch stille Oasen!«

»Ja, ich stimme Ihnen bei. Aber wie mir, dem sogenannten Landkonfekt, erst dieser Hexensabbat vorkommen muß! Nun – und jetzt, – darf ich Sie vielleicht in Person bis zur rechten Straße geleiten? Sie liegt ja gar nicht weit von hier!«

Sehr erfreut nimmt sie seinen Vorschlag an, verschwindet dann auch pflichtschuldigst im Hause Nr. 102 der Kurfürstenstraße, ist aber auffallend rasch wieder zurück.

»Keine Seele daheim, – es sollte auch nur ein Formbesuch sein!«

Sie ist doch herzlich froh, daß er sich nicht um den Namen – der ihr bekannten Familie kümmert. Der Pastor sagt nur:

»Darf ich mir erlauben, mich zu erkundigen, was Sie vielleicht jetzt vorhaben? Und auch, ob Sie schon lange hier sind und warum? Oder ist das unbescheiden? Ich kann mich kaum von dieser hübschen Überraschung erholen!«

Er fühlt sich merkwürdig angeregt, und seine Laune ist wieder vollkommen hergestellt.

»Gar nichts habe ich vor, als daß ich gern ein wenig Luft und diese nicht etwa in Berlin selbst schnappen will. Ein bißchen nach dem Freien verlangt es mich!«

»Gerade so geht es mir auch! Dürfte ich Ihnen wohl einen Vorschlag machen, Fräulein Burkstaller? Wie wäre es, wenn wir uns einen Wagen nehmen, in den Grunewald fahren und dort so lange herumwandern, bis es dämmert. Dabei erzählen Sie mir wohl dann, ja?«

Ihre Augen funkeln ihn nur so an, und blendend weiß blinken die zwei Rechen unversehrter Zähne in dem großen, sehr roten Mund. Sie kommt ihm gar nicht mehr häßlich vor. Und diese Gestalt! Wie elastisch, wie stramm, – nein, erst jetzt, in dem eleganten Kleid – nie zuvor hatte er sie je so gut angezogen gesehen, und er hatte Blick für Damentoilette, – kommt ihm die Ähnlichkeit ihres Wuchses mit dem der Trovata so recht zum Bewußtsein. –

Dann ist's ein herrlicher Mittag! Freilich mußte Ottilie, die plötzlich blaß und elend geworden war, ihre Lebensgeister im Jagdhaus erst wieder auffrischen, was sie auch gründlichst besorgt.

»So endlos auf den Beinen, immerzu in Hetze und dabei genötigt, so sehr mit der Zeit zu rechnen, das nimmt wirklich mit, –« meint sie, und er, dem es selbst schon ähnlich gegangen, findet nichts Unnatürliches daran. In Wahrheit war Ottilie Burkstaller seit der von ihr ergründeten Frühstückszeit im Haus des Kammerherrn auf Wachtposten gewesen, den sie, scharf aufpassend, an drei Stunden nicht verlassen hatte. Dabei hatte sie sehr müde Beine nebst einem öden Magen bekommen.

Wie herrlich ist's dann zwischen den Kiefern! In zitternden Wellen rinnt die Sonne an den rötlichen Stämmen herab und über das frisch wachsende Gras hin, dessen noch gelbe, welke Stellen mit winzigen, grünsprossenden Kräutern durchsetzt sind. Parallele Strahlen goldenen Lichtes unterbrechen tiefdunkles Gewinkel mit allerlei Buschwerk, aus dem Amselruf, Gepiepse anderer Vögel und Geraschel allerlei kleinen Getiers dringt. Die nachmittägliche Wärme nimmt zu und hat heute schon fast etwas Sommerliches. Durch den satten Luftkreis, der erhitztes Holz und sonnenwarmen Staub umgibt, brechen sich feine ununterscheidbare Düfte Bahn. An einem sanft abfallenden Hügel, bewachsen mit moosigem, von Anemonen, ein paar Veilchen und einigen Erdrauchpflänzchen durchmischtem Gras, unterhalb des Gehdammes und von allen Seiten vor neugierigen Blicken geschützt, bleibt Ottilie Burkstaller stehen. Es ist fast, als wäre sie aufs neue von einem Schwächezustand, der eigentlich gar nicht zu ihrer Erscheinung passen will, befallen worden.

»Ach, – bitte, – lassen Sie uns doch ein wenig ausruhen. Ich bin so müde!«

Sie spricht keine Lüge. Kaum wollen ihre Beine sie mehr tragen; es ist aber eine süße Mattigkeit, der nachgeben zu können sie sich als namenloses Wonnegefühl denkt.

»Aber gerne, gnädiges Fräulein!«

Sofort liegt sie auch schon am Boden ausgestreckt, ohne viel Umstände und Entschuldigungen. Einen Schritt von ihr entfernt läßt er sich gleichfalls nieder, bleibt aber aufrecht sitzen, um dann unverwandt auf sie zu blicken. Von ihrem Gesicht sieht er kaum einen Streifen. Sie hat den Hut vom Kopf genommen und die Arme darüber gekreuzt. Halb liegt sie auf dem Leib, in einer Stellung, die jede Linie ihres Körpers zur Geltung bringt; aber nur scheinbar ruht sie wirklich und gut. In Wahrheit klopft ihr Herz in stürmischen Schlägen, und ein Schwindelanfall gebietet ihr die Augen ganz zu schließen. Über tief ernste Gedanken, die in ihr in Fülle aufsteigen, wirbeln phantastische, unklare Gefühle und wirre Vorstellungen hin. Ihr ist zumute, als hätte sie eine endlose Zeit laut geschrieen, bis ihr der letzte Ton im trockenen Hals und Gaumen erstorben war und jegliche Kraft sie verlassen hatte. Mit den Wogen der laulichten Luft, die herunter aus der Bläue, aus den Kieferkronen schwebt, empfindet sie auch Mestings auf sie fallende Blicke. Tiefer drückt sie ihr heißes Antlitz, – o, ihr häßliches, häßliches, – in die Ellbogenbiegung der Arme, deren prächtige Formen unter den ziemlich engen Blusenärmeln hervortreten. Ihre Glieder recken und strammen sich wie zu einer Abwehr, und sie möchte doch nur von einer einzigen, großen Liebkosung eingehüllt sein. Mit fürchterlicher Gewißheit empfindet sie dabei so, als steige ihre Seele, nackt, jeglicher Hülle bar, nun zu dem Mann empor, der so ruhig neben ihr sitzt, und als läge jeder ihrer Wünsche, jeder heimliche Traum, entblößt wie ihre Seele vor seinen weit offenen, klugen und – richtenden Augen. Oben auf dem Pfad gehen Leute vorüber, die schwatzen und lachen, und man versteht jedes Wort des gewöhnlichen Berliner Jargons. Das ernüchtert Ottilie merkwürdig. Ihr Denken bekommt dadurch eine andere Richtung. Doch noch immer wechselt sie die Stellung nicht.

Jawohl, nachgelaufen ist sie ihm! Ganz einfach nachgelaufen! Sie möchte bitter auflachen. Warum auch nicht? Wem bringt es Schaden, wem tut sie weh damit, als höchstens sich selbst, wenn sie dadurch eine Flamme schürt, die sie jetzt schon fast zu vernichten droht. So empfindet sie diese urplötzliche Leidenschaft, – sie wagt nicht einmal vor sich selbst sie Liebe zu nennen, – die sich ihrer bemächtigt hat, ohne daß sie die Kraft besäße dagegen anzukämpfen. Auch gar nicht den Willen! Mit Trotz gesteht sie es sich. Allein das ist eben so einerlei wie die Tatsache selbst, daß sie dem geliebten Mann nicht nur ohne weiteres nachgereist ist, sondern ihm sogar aufgelauert hat. Für diesen, für ihren Fall trifft ja das nur von der Konvenienz geborene Gesetz nicht zu, das der Frau verbietet jemals die Werbende zu sein, jemals die Initiative zu ergreifen. Sie will ja nichts weiter als eben jede Gelegenheit ausnutzen, die ihr das unbeschreibliche Glück gönnt, in der Nähe dieses prachtvollen Mannes zu sein, dessen Eigenstes in sich aufsaugen zu dürfen. Sie und werben! Mit trauriger Gewißheit glaubt sie sich darüber klar sein zu können, daß der Pastor, der Frau Halliger verehrt, offenbar mit seinem ausgeprägten Gefühl für Schönheit in jeder Form, für feine, maßvolle Sitte, für den hauchartigen Blütenstaub der Weibesseele sich ihr niemals zuneigen werde, nicht einmal in wärmerer Freundschaft, intim genug, daß sie ihm ihr Inneres offenbarte. Ja, da steht sie wieder vor ihr, diese Vergangenheit, drohend, höhnend, – vernichtend! Aber nicht nur die lang verjährte! Auch eine, – kaum ein Paar Monate alte. Törichte, sinnlos vergeudete Stunden hatte es da gegeben, in denen sie gar nicht mehr sie selbst gewesen war und in denen sie nur jenes wilde, flammende Sehnen empfunden, dem der Mann sich ungestraft hingeben darf, das für das Weib aber nur durch Priester und Standesbeamten sanktioniert wird. Was tat es im Grund, wo sie doch keinen damit betrogen hatte als höchstens sich selbst. Aber – so kurz nach diesen Stunden – welcher Kontrast, – ah!

Ein Stöhnen, dumpf und gequält, entringt sich ihrer Brust. Sie wendet den Kopf. Die Sonne hat sich durch das dicke Nadelgezweig gearbeitet und durchscheint nun des Mädchens Haar, das ganz rot aussieht. Forschender, schärfer, unausgesetzt ruhen Mestings Augen auf der vermeintlichen Schläferin. Die in der warmen Luft schwebenden Düfte führen ihm eine bestimmte Erinnerung zu, die doch gleich wieder vor ihm zerstiebt. Er zieht die Nasenflügel ein; dann macht er eine Schulterbewegung, als schüttle er etwas ab, greift nach seiner Uhr und findet, daß es Zeit geworden ist zu gehen. Laut ruft er:

»Wachen Sie jetzt auf, Fräulein Burkstaller, es ist wirklich spät geworden! Ihre Träume scheinen ohnehin nicht die angenehmsten zu sein!«

Sie schrickt zusammen, springt sofort in die Höhe und bückt sich dann, ihm abgewendet, nach dem Hut, den sie, wie halb blind geworden, nicht sofort findet.

Im gleichen Schritt, manchmal, wenn der Weg zu schmal wird, die hohen Gestalten dicht aneinander gerückt, schreiten sie lange stumm dahin. Gleich einer lichten Stelle im dichten Gehölz eröffnet sich ihrer Gedankenwelt plötzlich ein gemeinsamer Ausblick. Ottilie nennt zuerst den Namen Frau Halligers, und fortan dreht sich das Gespräch um diese. Nun interessiert der Pastor sich gewaltig dafür, wie wohl dieses kluge Mädchen – also eine Frau die andere – Gertrud beurteilen möge. Nur eine Sekunde lang sträubt sich in Ottilie etwas dagegen, der Wahrheit die Ehre zu geben und einzugestehen, wie sehr ihr diese Frau imponiere und wie sie sich zu ihr hingezogen fühle. Warum soll auch sie noch den Pastor – ist er doch ohne Zweifel schon, wie ja alle, genügend in Frau Gertrud verliebt – noch mehr darin bekräftigen und anfeuern? Ist sie denn wirklich verpflichtet, nun die Nebenbuhlerin zu loben und herauszustreichen? Nebenbuhlerin! Ein fast schrilles, kurzes Auflachen der Malerin, das sie hinterher auch gar nicht besonders motiviert, erschreckt Mesting fast. Dann verstummt Ottilie wieder. Lächerlich! Nein, eine Nebenbuhlerin gibt es für sie wirklich nicht. Würde sie vielleicht dadurch schöner, begehrenswerter und – auch reiner werden, wenn sie eine ihres Geschlechtes, noch dazu diese, verkleinern und verunglimpfen wollte? Und selbst wenn sie dadurch gewinnen könnte! So gesunken ist sie denn doch nicht! Dieses von so vielen Frauen leider häufig mit Erfolg benutzte Mittel hat sie ihr Leben lang stets verachtet, wenngleich sie sich zu den Häßlichen, den Unbegehrten rechnet. Der gute, ehrliche Kern ihres Wesens bricht durch. Sie holt tief Atem; dann schildert sie nach ihrer Auffassung Gertruds Bild mit so klaren, freudigen Strichen, als wandere ihr Pinsel mit größtem Glück und strahlendem Erfolg über eine Leinwand. Sie spricht lange. Er aber hört ihr unendlich gern zu. Nicht nur weil sie von der, – ihm bedünkt fast, vor langer Zeit, im Grund mehr verehrten als geliebten Frau erzählt, sondern hauptsächlich deshalb, weil ihm ihre Art der Wiedergabe, weil ihn ihre Stimme an sich schon so sehr anspricht. Dann horcht er aber doppelt auf, wie sie allmählich zum Schluß kommt.

»Frau Halliger ist in mancher Art anders geworden; gewiß nicht weniger sympathisch, – aber eben anders im Laufe dieses Winters.«

»Wieso?«

»Für mich, die ich ihr nicht nahe genug stehe, wäre es eine schwere und gewagte Aufgabe, das beurteilen zu sollen. Noch immer hat sie diesen rastlosen, mir oft ausgefallenen Tätigkeitsdrang; aber er dünkt mich planloser, und ihr heißes Sehnen, anderen viel zu sein, ihnen nützen und dienen zu können, hatte eine Zeitlang nur mehr ein flackerndes Leben. Meines Erachtens lebt sie wohl äußerlich unter den Menschen, die ihr meistens ohnehin nur durch die Verhältnisse aufgezwungen sind, – aber nicht innerlich! Es ist gerade, als wäre es ihr ganz einerlei, ob man für sie Interesse faßt. Es ist immer, als wäre sie nur zur Hälfte da, wo sie gerade ist, und als lausche sie in eine Ferne auf Kommendes!«

»In eine Ferne? Auf etwas Kommendes?«

Vor Mesting taucht eine Männergestalt auf, wie er sie im Herbst gesehen, kurz bevor sie das Waldesdunkel verschlungen hatte; so gerne hätte er nun gefragt, wo Baron Dombrowsky eigentlich sei; in dieser Verbindung aber wagte er es nicht.

»Frau Halliger hat wenig innere Fühlung mit ihren Angehörigen? Sie ist auch wohl ganz anders geartet.«

»Ganz! Aber Carlo und besonders Ludl liebt sie von ganzem Herzen. Sonst aber steht ihr noch über den Eltern, von den Geschwistern gar nicht zu sprechen, der ihr gar nicht blutsverwandte Buchlehner am höchsten.«

»Oh, die Verwandtschaft macht es nicht aus. Aber ihre Kinder! Die – «

Ottilie unterbricht ihn rasch: »Die natürlich ausgeschlossen! Ihre Kinder waren und sind ihr eben einfach alles! Alles! Ich glaube, kein Gefühl in dieser Frau ist so stark entwickelt wie das ihrer Mutterschaft.«

»Wie sich das, was Sie da vorbringen, mit meinen eigenen Wahrnehmungen deckt. Weil ich aber gerade in diesem Punkt Ihrer Ansicht bin, glaube ich, daß sie auch mehr darunter leidet wie andere Mütter; und sie ist noch so jung!«

Die Augen der Künstlerin schimmern ganz feucht.

»Mir kommt sie immer vor wie ein Mädchen, eines, das da mit verwunderten Augen vor einer großen blumigen aber abgeschlossenen Wiese steht, darüber hinaus in den Himmel schaut und das, was es an Besitztümern hat, – vielleicht ist das in anderer Augen bloß etwas ganz Vergängliches, – nur um so enger und heißer ans Herz drückt, je unerreichbarer ihm das grüne, duftende Reich dünkt!«

Immer erstaunter blickt er in dieses kluge, lebhafte Gesicht; nun hat ihm Ottilie Burkstaller abermals eine jener Seiten zugewendet, welche man ihm an ihr gerühmt hatte.

»Wenn Sie so reden, gnädiges Fräulein, dann erinnert mich Ihre Stimme, auch Ihre Redeweise, stets so sehr an, – an, –«

»Ach dort! Sehen Sie doch nur, wie drüben die Abendröte aufsteigt, langsam, – wie ein einziger, großer, friedensvoller Ton sich hebt, einem entgegenschwillt!«

Er hat Frau Halliger fast ganz vergessen und einen Augenblick lang beinahe mit tröstender Genugtuung empfunden, daß sie ihn vielleicht nur deshalb abgewiesen, weil sie einen anderen liebe, der ihr aber aus irgend einem Grund fern bleiben muß. So eitel, so klein kommt er sich selbst dabei vor. Seine inneren wie seine äußeren Augen sind jetzt nur mehr seiner Gefährtin gewidmet, die ihn immer mehr gefangen nimmt. Es ist wirklich, als verankere sich sein Wesen zunehmend in das ihrige, ohne daß er sich klar Wäre, wieso das hat kommen können.

»Man merkt, daß Sie mit Künstlerblick sehen! Fühlen Sie volle Befriedigung in Ihrem Beruf?«

Eine kurze Pause, dann sagt sie halblaut:

»Das Härteste habe ich ja jetzt hinter mir: die Erkenntnis der Grenze meines Könnens! Es ist hart, glauben Sie mir, und dennoch ein Sieg! Freilich bleibt er unvollkommen. Immer aufs neue steigt dann und wann ein ganz besonderer Leidenschaftsdrang in mir auf, kraft meiner unendlichen Sehnsucht einen Teil von mir selbst in einer großen Arbeit befreien zu können. Ich bilde mir dann wieder ein, titanenhaft zu sein, und empfinde endlich mit Grauen, daß es mir an diesen vollen Fähigkeiten doch fehlt und auch an der Ausdauer, sowie an der Selbstkonzentrierung. Allzu schnell gebe ich freilich dann meinen Plan trotzdem nicht auf; lange arbeite ich noch, viel zu lange oft, und dann löst sich plötzlich das kaum Begonnene, Keimende und im Kleinen Entstandene wie eine abgestorbene Frühgeburt. Darauf folgen eben – Blut und Wunden!«

Da, da ist wieder jener rücksichts- und rückhaltslose Freimut, mit dem sie auch das Gewagteste auszudrücken versteht.

Sie will aber jetzt ihrerseits von seinem Leben und Inneren hören und lenkt ihn geschickt dorthin, wo sie ihn haben will. Es gelingt ihr so sehr, in solchem Umfang, daß er ihr, der doch eigentlich Fernstehenden, anvertraut, was nur ein Mensch – Gertrud Halliger – weiß. Daß er im Begriff sei, ob nun sein eben beendeter Roman einschlage oder nicht, seinen Beruf, dem er längst nicht mehr so recht mit Überzeugung und Lust dienen könne, untreu zu werden, um sich vollständig der Literatur zu widmen.

In dem zerrinnenden Tageslicht, während hinter ihr eine Waldwand schwarz und scheinbar steil aufsteigt, bleibt Ottilie Burkstaller nun vor Mesting stehen. In heißem Impuls nimmt sie seine Hände in die ihrigen und schaut glückselig und dankbar zu ihm empor.

»Nur dieser herrlichen Frau also haben Sie Ihr Geheimnis vertraut und nun – mir! Mir! Ja wissen Sie denn, wie mich das freut und geradezu erhebt? Wie ein Geschenk ist es mir, ja wie ein großes Geschenk! Ebenso wie auch dieser ganze Nachmittag, – dieser sonnenhelle, warme, – ich, – ich danke Ihnen!«

»Da hätte doch wirklich ich viel mehr Ihnen zu danken. Sie ahnen ja nicht, wie schlechter Laune ich war und wie leicht und heiter mir jetzt zumute ist. Das danke ich nur Ihnen! Aber –« nun ist's als überliefe eine heiße Welle sein Herz – warum sollten wir uns jetzt trennen? Wollen wir nicht beisammen bleiben heute abend, Fräulein Ottilie? Ich glaube, – daß Sie auch sehr lustig sein können!«

Zuerst ein kurzer, forschender Blick ihrerseits, dann stößt sie als einzige Antwort einen so lauten, klangvollen Juchzer aus, als wären sie allein auf einer ihrer bayerischen Almen. »Schnell, schnell Herr Pastor, laufen wir! Ich höre schon was klingeln, dort unten kommt gewiß gerade ein elektrischer Wagen!«


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