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Frau Halligers Stimmung wird auch durch das echte Münchener Sudelwetter recht ungünstig beeinflußt. Jetzt mischen sich in den kalten Regen zum Überfluß noch Schneeflocken! Man kann sehen, wie alle die jungen, noch schrumpeligen Blättchen in der Kälte gleichsam erschauern und die mattrosa Blüten an den Sträuchern der Anlagen allmählich bräunlich werden und krank die Köpfe hängen lassen. Klebrig und zäh haftet der Schmutz an den Stiefeln all derer, die mit wieder hervorgesuchtem oder vorsichtig noch nicht weggehängtem Winterüberzieher, den Kragen hochgestülpt, die Hände in den Taschen, blaunasig dahineilen. Beispiellos trübselig hängen die Wolken tief über den triefenden Dächern. Es ist kein Wunder, wenn alles Sehnsucht bekommt, im Süden einen freundlicheren Lenz genießen zu können. Wie auf einer allgemeinen Wallfahrt begriffen pilgert man aber auch in Scharen dorthin.
Mit der Morgenpost kamen heute schöne, mit lustigen Versen versehene Karten der Eltern aus Rom nebst einer Stadtkarte von Exzellenz. Diese bildet wieder den ersten, schwachen Ansatz zu einer Brücke zwischen den Schwestern, seit der Skandalaffäre. Das größte Wunder scheint es, daß Frau Hela damit den ersten Schritt tut. Freilich könnten die wenigen Zeilen unmöglich eisiger sein, in welchen sie korrekt, wie sie ungereizt stets zu sein pflegt, Lise einladet, eine kleine Reise nach Südtirol mit ihnen zu machen. Das Verhältnis zwischen Eckebergs und dem jungen Mädchen ist noch immer ein gleich gutes, wenn auch Lise die Exzellenzen in den letzten Wochen etwas vernachlässigt hatte. Nach und nach war an den Sonntagen nicht mehr so intensiv das Bedürfnis über sie gekommen, Tante Hela aufzusuchen, und Lise hatte nun manchmal das Gefühl, als wäre ihr aus einem ungreifbaren Grund die Tante jetzt ferner gerückt.
Gertrud überlegt schon allerlei, wie sie das Kind zu dieser Reise in aller Eile am praktischsten und hübschesten ausstatten könne, und sie wünscht, Herrn Hubmair zeitiger bestellt zu haben, um dann frei zu sein.
Zufällig hatten gestern die Künstlerbrüder Degenhards als sie mit Grete Mannes bei Buchlehner Tee getrunken hatten und sie dann nach Hause brachten, kurz vor der letzten Straßenecke die Burkstaller eingeholt. Wie langsam, wie wenig stramm gegen sonst, ging die vor ihnen her. Alle drei hatten sie die Malerin erst erkannt, als sie ihnen bei einer zufälligen Kopfwendung, – ein rauher Köter hatte sie kläffend verfolgt, – im hellen Lichtschein das schmal gewordene Gesicht zugewendet. Was die nur haben mag? Nie sieht man sie mehr, seit dem Fasching, und vorher war sie verreist gewesen. Und wenn, – »Jessas,« – meinte Ludwig, – »was ist denn nur, Ottl? Sie sind ja eine ganz fade Nocken worden!« Wirklich ist das früher so lebhafte, lustige und witzige Mädchen sehr verändert. Sein Humor scheint dahin. Ebenso seine Arbeitskraft, wie die Schülerinnen, die auch nicht mehr so mit ihrer Lehrerin zufrieden sind, behaupten.
»Ich fühle mich krank und matt! Ich glaube, ich habe eben einfach die Bleichsucht.«
»Da müssen halt schon b'sondere Bazillen in dem fünften Stockwerk droben ihr Wesen treiben! Die Madame Sonca soll ja auch krank im Bett liegen, und ihre Nähmäderln sein in alle Wind verstreut. Sie tät rein gar nichts mehr arbeiten,« meinte Carlo.
Eines der Nähmäderln hatte ihm nämlich letzten Sonntag bei einem lustigen Ausflug diese Nachricht übermittelt.
»Ja, die Schneiderin ist schon lange nicht wohl. Es soll eine Nervensache sein. Ihre Frau Schwester hat ihr den Doktor Mutzinger geschickt, aber auch der scheint sich keineswegs recht klar über diesen Zustand geworden zu sein!«
Über das bißchen, was sie weiß oder ahnt, – viel ist's nicht, – schweigt sie. Sie ist von seltener Diskretion.
»Aha! Wird schon mit den Szenen damals vom Aschermittwoch zusammenhängen,« vermutet Ludwig. »No, also adieu! Übrigens, – denkts euch nur, – der Zufall! Der Otto, der ja jetzt in Berlin ist und von dort auch neulich der Traudl eine Karten g'schrieben hat, hat geruht, auch mir eine zu schmettern, – sonst g'schieht so was zwischen uns nie, – allerdings nur, weil er mir g'schäftlich was mitzuteilen g'habt hat, und da hat er d'rauf gekritzelt, daß er den Seedlander-Patentbonzen, den Pastoren-Apollo –«
»Sie mit Ihrem ewigen Schandmaul, Ludl! Diesen Mann brauchen Sie nicht auch wieder gleich herunterzumachen,« brauste Ottilie auf.
»Da legst di nieder! No, – jetzt, i sag scho nix mehr! Schau, schau, d' Ottl!«
Während Carlo und Grete viel mehr mit irgend einer den Bau betreffenden Angelegenheit beschäftigt waren und nur halb hin gehört hatten, hatte Ludwigs Blick durchdringend auf dem Gesicht der Malerin geruht, in dem die Augen jetzt plötzlich mit gespanntem Ausdruck und wie neu belebt, zu ihm aufblickten. Ehrlicher Zorn funkelte auch noch darin.
Ludwig Degenhardt gibt sich eine kurze Weile stumm seinen Gedanken hin. »Aha! Also da liegt der Has im Pfeffer! Man erlebt ja die sonderbarsten Sachen, d' Ottl, diese fesche Person und ein Pfaff! Aber diese Schönen, Eleganten, die ham halt schon von alters her immer so was g'habt für die Weiber.«
Der Künstler ist aber der letzte, jemals roh in wirklichen Wunden zu wühlen. Er läßt sich nichts merken und beendete, als wäre er nie unterbrochen worden, seinen vorher begonnenen Satz!
»Daß Otto also Pastor von Mesting,« nun lächelte er doch mit etwas spöttischer Kopfneigung Ottilien zu, »im Schauspielhaus getroffen hätt', hab i erzählen wollen!«
»Er hat ja wohl einen Bruder in Berlin, nicht,« fragt die Künstlerin interessiert entgegen.
»Freilich, freilich! Einen Kammerherrn! Fein, nobel, alter Adel sogar, – no, also adieu jetzt, – gute Nacht beisammen, – b'hüt Gott, Ottl, und Werdens wieder vollblütiger, gelt, wenn i halt bitten dürft.«
Die beiden Mädchen, Grete munter plaudernd, gingen zusammen die Treppe hinauf. Die Malerin aber blieb völlig stumm. Nur ihr Abschiedsgruß klang dann plötzlich so auffallend frisch und munter, daß es sogar Greten auffiel. Bei der Sonca klopfte Ottilie darauf an und trat noch einen Moment hinein. Blaß, furchtbar elend aussehend, lag die Leidende hinter ihrem Bettschirm. Seltsam kahl schien das Zimmer geworden zu sein. Ottilie war aber zu sehr von dem eben Gehörten hingenommen, als daß sie darüber besonders nachgedacht hätte.
»Haben Sie denn auch eine rechte Pflege?«
»O ja, – ja, ich brauche eben nicht viel. Frau Bierdimpfel kommt morgens und abends, das genügt! Ich kann so wie so nicht viel essen. Ach, Fräulein Burkstaller, würden Sie nicht den Zettel da der Frau Professor Halliger übergeben? Recht bald?«
»Sofort sogar, gern!«
Den brachte die Malerin hinunter, empfahl sich aber gleich wieder. Auch diese beiden hatten sich wenig gesehen in den letzten Wochen. –
Das alles war gestern gewesen. Jetzt liest Gertrud noch einmal dieses kleine Briefchen:
›Lassen Sie sich beschwören, gnädigste Frau, – wenn Sie einem Menschen das Sterben erleichtern wollen, – und ich sterbe sicherlich, – Herrn Hubmair zu verhindern, mir ohne Zeugen gegenüber zu treten. Ich komme fast um vor Angst und vegetiere nur mehr so in meiner Not. Das ist ja kein Leben mehr! Mein Bräutigam läßt gar nichts mehr hören von sich, und der elende Kerl hat ihm doch längst alles erzählt. Ich fürchte mich so sehr, ich meine verrückt zu werden. Ich kann nicht mehr!
Ihre hochachtungsvoll ergebenste
Camilla Sonca.‹
So hat nun wirklich Frau Halliger das ihrige versucht und den Gefürchteten unter einem Vorwand zu sich bestellt. Jetzt springt sie noch ganz rasch zur Burkstaller hinauf, um diese im Auftrag Buchlehners zu dem heutigen Diner bei Schleich einzuladen. In dem Atelier geht es sehr laut her. Schränke und Laden werden drinnen auf und zu geschlossen. Schlüssel klirren, und dann hört Frau Halliger, wie ein größerer, schwerer Gegenstand unter dem Ächzen der Malerin von einer Höhe herab auf den Boden gezerrt wird, wo er dröhnend auffällt. Dann knarren die Dielen, auf dem er noch ein Stück entlang gezogen wird. Über all dem Hantieren hat Ottilie Burkstaller das Klopfen der Hausgenossin überhört und fährt nun mit einem Schrei zusammen, wie diese so plötzlich hinter ihr steht, während sie selbst eben vor einer wundervollen, weiß-grauen Toilette und einem schneeigen Spitzenjäckchen kniet, die über einen Stuhl gebreitet sind.
»Ach! Dieses schöne, elegante Kleid!« entfährt es Frau Halliger unwillkürlich als einzige Begrüßung. Mit rascher, unabsichtlich sein sollender Bewegung wirft die Künstlerin schleunigst ein Tuch darüber.
»Ach, das gehört einem Modell, – einem sehr schönen Weib, – aber was führt Sie zu mir, gnädige Frau?«
Die Einladung zu dem improvisierten Diner aber könne sie leider nicht annehmen. Sie müsse heute nachmittag reisen, denn sie habe sich entschlossen, die Ostertage bei einer Freundin in Berlin zu verbringen.
»Nein? Sie auch? Da könnten Sie ja –«
Aber Frau Halliger sagt nichts von dem, was sich ihr auf die Lippen drängt. Sie blickt nur das nun wieder so blühend und elastisch scheinende Geschöpf an, das ihr wie die personifizierte Energie erscheinen will. Warme Wünsche steigen in ihrem Herzen auf, die ebenso Ottilie wie zugleich einem anderen gelten, der auch gerade in Berlin weilt.
»Nun, dann viel Vergnügen! Sie bilden sich ja noch rein zur Weltreisenden aus!«
Sie ärgert sich hinterher über das eigene Scherzwort. Mit einem Schlag hat es ihr Detlev von Dombrowsky vor die Augen gezaubert, und nun stürmt es wieder auf sie ein, grau in grau, nebeldick, als kämen alle die Wolkenballen und Fetzen des öden Himmels auf sie herab.
»Fröhliches Osterfest, gnädige Frau, und grüßen Sie besonders Fräulein Lise, wenn sie heute abend mit Lorbeern bekränzt anrückt!«
»Danke, danke sehr, Fräulein Burkstaller, adieu!«
Frau Halliger, schon auf dem Gang, stößt dieses letzte Adieu aber nur mehr stotternd hervor. Dort, – der da breitspurig und plump wie das gewichtige, entscheidende und vernichtende Schicksal selbst, auf die Tür der Schneiderin zutappt, ist ja – Hubmair! Sie fliegt förmlich auf ihn zu und stellt sich dicht vor ihm auf, mit dem Rücken als Schutzwehr gegen die Stubentür. Hinter dieser lauscht Camilla Sonca mit angehaltenem Atem. Während des geflüsterten Zwiegespräches der beiden greift sie rasch nach einer dichten, kleidsamen, weißen Tüllboa, die sich wie Schnee um ihren Hals bauscht und fährt mit einem in Puder getauchten Läppchen über ihr vergrämtes Gesicht hin. Sie nimmt sich sogar noch Zeit, mittelst des Spiegelchens, das neben dem Bett hängt, ihr Werk zu besichtigen; dann aber ist sie auch so erschöpft, daß sie kaum mehr genügend Kraft aufbringt, den Wandschirm so nahe zu rücken, daß ihr Kopf dadurch halb beschattet bleibt, um den sie das rote Haar heftig aufzerrt und lockert, bis es schimmernd das Kissen bedeckt. »Kleine Waffen nur,« murmelt sie, während kalte Tropfen auf ihre Stirne treten und sich ihrer ein Schwächeanfall bemächtigen will.
Die draußen wechselten aber nur höfliche Reden und Gegenreden über alles andere als die Sonca. Alle von Frau Halliger entfalteten Diplomatenkünste, den Hausherrn um jeden Preis vorerst noch hinunter in ihre Wohnung zu bekommen, scheitern an dessen Passivem, aber eisernem Widerstand.
»I werd net verfehlen nachher, genau zur festg'setzten Stund' bei Ihnen drunten zu erscheinen, gnädige Frau!«
Dabei bleibt er. Mit dem dicken, ringgeschmückten Zeigefinger will er sacht an die Türe klopfen, allein es fällt so kräftig aus, daß es klingt, als begehre zum mindesten der Gerichtsvollzieher oder sonst ein Mann des Gesetzes Einlaß. Die Kranke bringt keinen Laut über ihre bläulichen, bebenden Lippen. Wie dann Hubmair auf die Klinke drückt und der fahle Lichtschein des großen, hellen Raumes auf sein Gesicht fällt, stürzt Gertruds Hoffen für die unglückliche Frau völlig zusammen. Die Augen des Hausherrn scheinen viel tiefer in ihre Höhlen zurückgesunken zu sein, und es glimmt daraus nichts weniger als beruhigend und tröstlich hervor. Grau ist die sonst so gesunde Farbe der feisten Wangen, die schlaff herabzuhängen scheinen. Die dichten, langhaarigen Augenbrauen, so nahe zusammengezogen, verstärken noch den Eindruck, daß der große Mann aus Gift und Galle bestehe und eben so gefährlich wie irgend eine Bombe wirken könne, wenn er, was jedenfalls geschieht, nun explodiert. Den Augenblick, da er, die Türe noch offen haltend, so steht und das ihm so wohl bekannte Zimmer befremdet mustert, bis sein aufflackerndes Auge am Wandschirm hängen bleibt, benutzt Gertrud, um geschmeidig herein- und ans Bett der Sonca zu schlüpfen. Sogleich ergreift sie ein Glas Wasser, und, die Schwache mit einem Arm stützend, hält sie es dieser an die Lippen. So bildet sie sozusagen einen schützenden Wall zwischen Camilla Sonca und Herrn Hubmair, der jetzt auch da steht und das meiste Tageslicht mit seiner mächtigen Gestalt abhält. Stumm, lautlos fast, wenn die Dielen nicht unter den wuchtigen Schritten so geächzt hätten, ist sie dort aufgetaucht. Ein erstickter Schrei, ein Wimmern; Frau Halliger das Glas aus der Hand schlagend reckt die Schneiderin die schönen Arme flehend in die Höhe und zerrt Gertrud wie Schutz suchend zu sich aufs Bett. Es ist wirklich keine Komödie von ihr. Die krankhaft Erregte und so sehr Geschwächte erliegt einer förmlichen Halluzination. Schon sieht sie den Betrogenen sich auf sie stürzen, sie würgen, – würgen – –, in Todesfurcht trifft ihn ihr Blick. Selbst der Frau Halligers hängt in sichtlicher Angst an dem Gewaltigen. Wie er aussieht! Wie das kochen und toben muß in dem doch eigentlich ganz rohen und ungebildeten Mann! Wehe, wenn er nun losbrechen wird! Auch macht er ganz den Eindruck, als wolle er sie im nächsten Moment anschreien: ›Was wollen Sie denn da? Merken Sie nicht, daß wir zwei miteinander zu reden haben? Machen Sie gefälligst, daß Sie schleunigst hinauskommen!‹ Aufs unbehaglichste empfindet Gertrud, taktlos und aufdringlich zu scheinen. Sie sucht sich zuerst von den wie völlig in ihre Kleider verkrampften, feuchtkalten Händen zu befreien, und wie ihr das nicht gelingt, meint sie schüchtern und beklommen:
»Ich, – ich weiß alles, Herr Hubmair, bis ins kleinste, – und hätte ja gerade deshalb so gern mit Ihnen gesprochen!«
Immer fürchterlicher will der Stumme ihr scheinen, der nun kupferrot im Gesicht ist und ganz den Eindruck eines Mannes macht, der im kommenden Augenblick mit Sicherheit einem apoplektischen Anfall ausgesetzt sein wird. Da hebt er hoch die wuchtige Hand, – die Sonca, tief in die Kissen vergraben und mit Beben daraus hervorlugend, schreit gell auf, und Gertrud fällt ihm, mit den Worten: »um Gottes willen, tun Sie ihr nichts,« in die Arme. Er aber fährt sich nur immer wieder durch das dichte, schon recht weiße Haar und sieht namenlos erstaunt, wie einer, der plötzlich hell sehend wird, von einer zur andern. Bedächtig läßt er sich darauf neben der Kranken auf den Stuhl nieder, legt so sanft wie möglich seine plumpe Hand aus deren Stirn und sagt mit rauher aber zitternder Stimme, indem er zu Frau Halliger aufschaut: »Was wollen S' denn?« Dann leise und innig zur Sonca: »O du arm's, arm's Hascherl du!«
Aber das, – gerade das ist zu viel für die Schwache. Bis Frau Halliger sich nur halbwegs von ihrem maßlosen, wenn auch unendlich freudigen Erstaunen erholt hat, liegt die Schneiderin schon, einer Toten gleich, steif und starr in dem Bett.
»Jess' Maria, mein Camillerl! Sie stirbt mir ja, schnell einen Doktor, schnell, schnell, i bitt' Ihnen recht schön, gnädig Frau!«
Hubmair ist rein wie von Sinnen. Gertrud aber geht ruhig zum Waschtisch, taucht den großen Schwamm tief ins kalte Naß, findet auch einen Rest Kölnischen Wassers und behandelt nun die Ohnmächtige mit beidem. Wie vorher der Hausherr, bemerkt auch sie jetzt, daß manch ein Einrichtungsstück fehlt, der Teppich, die hübsche Toiletteneinrichtung auch, und damit kommt ihr blitzschnell eine schreckliche Idee.
»Rasch, Herr Hubmair, – sagen Sie unten meiner Marie, sie solle eine Flasche Sekt holen und das kalte Huhn von gestern Abend mit Brötchen bringen. So schnell kann ich nichts anderes schaffen. Herr Hubmair, es ist fürchterlich, aber ich glaube, – sie, – sie hat – gehungert!«
»Ge-ge-ge-gehun-gert?«
Entsetzen malt sich in seinen Zügen. Graues Entsetzen! Hunger und Durst leiden zu müssen stellt sich der Mann wirklich als den Gipfel aller Qualen vor. Er ist so konfus und verzweifelt, daß Gertrud ihm die noch immer Ohnmächtige, auf deren Brust der nasse Schwamm, auf deren Stirn ein mit Eau de Cologne getränktes Tuch liegt, buchstäblich ans Herz legen muß, um selbst hinunterzueilen und die Sachen zu holen. Wie sie zurückkehrt mit der bereits geöffneten Sektflasche, schlägt die Schneiderin, umschlungen von Hubmair, eben die Lider auf, die sie sofort wieder, wie geblendet, schließt. Aus den Augen des rohen, ungebildeten Mannes aber, – Frau Halliger bittet ihm tausendfältig jegliche falsche Beurteilung ab, – rinnen unaufhaltsam die Tränen. Die ganze klobige Gestalt wird vom heftigsten Schluchzen erschüttert. Keines von den dreien kann ein Wort sprechen. Frau Halliger hat Mühe mit dem gefüllten Glas bis zum Mund der Frau vorzudringen.
Diese tut dann endlich einen tiefen Zug, noch einen, – kostet darauf von dem in winzige Stücke zerschnittenen Huhn und ißt endlich mit solcher Gier, daß Gertrud ihr wehren und eine Pause in der Fütterung eintreten lassen muß. Diese benutzt sie, um auch dem Hausherrn ein Glas einzuschenken, der wirklich, nachdem er es in einem Zug geleert, ruhiger wird. Hand in Hand, jedes in den Anblick des anderen versunken, bildet der alternde Mann und das mit der heißen Fieberröte auf den Wangen und den glänzenden Augen wirklich schöne Weib eine rührende Gruppe. Dann aber springt Hubmair wie ein Berserker auf, blickt nochmals rund um, – insbesondere an den leeren Platz, wo sonst der von ihm geschenkte, so schön eingerichtete Toilettentisch gestanden und schreit voll Genugtuung: »Der Kerl ist aber schön bei mir ankommen und brav 'reing'fallen!« Darnach wütend: »Der elende Lump der, – der Hund, – der gemeine Schuft!«