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Wie Gertrud Halliger zwischen zwölf und ein Uhr aus der Stadt, wo sie Besorgungen gemacht, nach Haus kommt, bleibt sie höflich auf dem Treppenabsatz stehen, um die vielen Damen, Schülerinnen Fräulein Burkstallers, an sich vorüberzulassen. Sie wird so von ihnen angestarrt, daß sie heiß errötet. Deutlich kann sie hören, wie eine mit etwas lauter und harter Stimme sagt: »Das soll sie sein? Die ist ja viel zu jung! Wie ein Mäderl sieht sie aus!«
Also die Burkstaller hatte jedenfalls von ihr gesprochen. Gewiß, als das Hanserl heute morgen eine Bestellung ausrichtete! An die Donnerstags-Malstunde hatte Gertrud gar nicht mehr gedacht. Die Künstlerin ist ihr sehr sympathisch, und sie Verkehrt gerne mit ihr.
Während Gertrud einen großen Strauß leuchtend gelber Chrysanthemen in eine moderne Vase steckt und diese mit Wasser füllt, saugt sie tief die herrliche Luft ein, die zu dem geöffneten Fenster hereinströmt. So frisch herb, – so kräftigend! Heimatluft! Ein halbes Jahr soll vergangen sein, seit sie Seedland verlassen hat und hieher übergesiedelt ist? Sie kann es nicht fassen. Wie im Flug sind diese Monate verrauscht. Sichtbar in ihr Leben gebracht hatten sie nichts Einschneidendes. Oder doch? Ja, ja! Eine große Enttäuschung, einen weiteren, herben Schmerz zu dem ersten, den ihr Rolands Tod bereitete. Das Gedenken an den Verstorbenen und jener neue Schmerz sind einander so merkwürdig eng verbunden und müßten sich eigentlich doch als Antipoden gegenüber stehen; und dieser Konflikt ihres Fühlens hatte sich nicht vermindert sondern verstärkt. Ihr ganzes Leben, innerlich wie äußerlich, hat sie versucht völlig den Kindern zu schenken. Nur ihnen will sie es widmen, sich in all ihrem Handeln und Tun nach ihnen richten. Aber gerade das macht Schwierigkeiten. Nicht bei dem Sohn. Seit dem Frühjahr hatte To das Kadettenhaus in Potsdam bezogen und erzählte in den Ferien ganz erfüllt und auch recht befriedigt von dort. Nichts falle ihm schwer und in alles füge er sich gern. Er hätte uranständige Vorgesetzte, auch nette Kameraden. Er zeigte der entsetzten Mutter stolz einige tiefe Narben, die von Kämpfen zeugten, die er zu bestehen gehabt. Das wäre eben so! In die Kost könne er sich am schwersten finden, aber auch daran gewöhne man sich, und in den Ferien wolle er sich um so schadloser halten. Gertrud war beim ersten Wiedersehen mit dem Sohn fast enttäuscht gewesen. Das war ja gar nicht mehr der frühere To. Noch keine fünf Monate lagen zwischen dessen Eintritt ins Kadettenhaus und dem Wiedersehen, und doch war der Junge so anders geworden. So viel magerer und größer. Die prall sitzende Uniform, auch die langen Beinkleider, machten ihn so alt. Dazu der peinlich gezogene, glatte Scheitel, der stellenweise an den Schläfen kaum ein einziges Löckchen zuließ. In den wenigen Monaten hatte der kleine To schon die Manieren eines Herrn der guten Gesellschaft angenommen, und es war, als lägen alle knabenhaften Rüpelhaftigkeiten und Unmanieren weit hinter ihm. Wenn er jetzt der Mutter Hand küßte, so schlug er dabei fest die Hacken zusammen und berührte nur flüchtig mit den Lippen die zarte Haut. Früher war er oft über ihre Hände hergefallen und hatte deren weiße Innen- und Außenfläche fast rot geküßt. Wenn To auch jetzt nicht mehr mit dem Messer aß, wie das früher trotz allem Ermahnen immer wieder von Zeit zu Zeit geschehen, und wenn er sich auch in Gegenwart von Fremden ganz gewandt benahm, so lebte dennoch das Kind noch völlig unbeschadet in ihm. In stillen, gemütlichen Stunden legte er genau wie früher den braunen Kopf in Muttis Schoß und ließ sich behaglich krauen. Und auch wie früher vertraute er Gertrud seine kleinen und großen Kümmernisse offen an, teilte ihr seine Erfahrungen und Wahrnehmungen ehrlich mit und nahm ihre Ratschläge und Meinungsäußerungen dankbar und verständig hin. Durch den Austausch seiner Uniform gegen den kurzhosigen Oberländeranzug, den er in den Ferien trug, fiel so manches Fremde und Angelernte von ihm ab. Er erschien Gertrud fast wieder kleiner und, mit dem nun fast immer genial krausen Struwwelkopf, auch wieder jünger und knabenhafter. Es waren köstliche Wochen gewesen, dort draußen in dem stillen Gebirgsdorf, in das sie sich mit Onkel Toni zurückgezogen hatte. Nie zeigte To Sehnsucht nach anderer Gesellschaft und Unterhaltung. Nur vierzehn Tage lang war Lise auch mit gewesen; später reiste sie den Exzellenzen, wie der Bruder immer spöttisch sagte, entgegen, die sie an die Nordsee mitnehmen wollten. Ungern nur hatte Gertrud die Tochter gehen lassen. Die Schwester entfremdete ihr Lise sichtlich, und diese fühlte sich ungemein von Tante und Onkel angezogen. Es schien fast, als suchten die kühlen Menschen irgend etwas zum Lieben. Die jugendliche Nichte sollte vielleicht ersetzen, was ihnen die eigenen Söhne versagten. To und Lise kamen jetzt schlechter aus als früher. Erstaunt hatte die Schwester auf den lang aufgeschossenen Kadetten geschaut, der im Spätsommer der Eisenbahn entstiegen; sehr bald wurde er ihr unbequem. Jetzt wollte auch er Meinung und Stimme haben und ließ sich nicht mehr wie früher von der Älteren überstimmen und unterdrücken. Nein, er war kein dummer kleiner Junge mehr. Von so ganz anderer Gemüts- und Herzensbeschaffenheit als Lise, konnte er sich nie mehr lange mit ihr vertragen. Sie strotzte nur so von Wissen und unterließ nie, ihn ihre Überlegenheit fühlen zu lassen. Das versuchte sie auch der Mutter gegenüber gern. Manche Stunde saß diese heimlich wieder hinter ihren alten Büchern, um nicht zurückstehen zu müssen vor der klugen Tochter. Fast mit Schrecken, – mit Schmerz, – hatte sie gefühlt, wie Lises Abreise selbst auf sie, nicht nur auf To, förmlich erleichternd wirkte. So wenig, so selten gab die Tochter ihr etwas. Gertrud hatte stets das Gefühl, als würde sie von ihr gar nicht benötigt. Das junge Mädchen lebte als Ganz-Pensionärin im Institut, ohne den leisesten Wunsch, die Schulzeit bald zu beenden. Eigensinnig und zäh hatte Lise das durchgesetzt, obgleich die Mutter sie zärtlich gebeten, sie möge die Lehranstalt nur als Externe besuchen. Von Samstag bis Sonntag abend kommt Lise heim. Gertrud hat dadurch so gut wie gar keine Gelegenheit, für ihre Erstgeborene in Kleinigkeiten mütterlich zu sorgen. Ihr seelisch nahe zu kommen, gelingt ihr auch selten genug. Sie kann es nicht leugnen: eine ganze Welt, – unüberbrückbar und verschiedenartig, – liegt zwischen ihnen. Treten sie sich aber einmal nur etwas näher, so wallt es auch gleich heiß auf in dem vereinsamten Herzen der Frau. In rascher impulsiver Bewegung zieht sie die Tochter an sich und bedeckt das regelmäßig geschnittene, hübsche, wenn auch kalte Gesicht mit Küssen, die aber ohne Wärme erwidert werden. Würde doch alles, was so schwer auf ihr liegt, um vieles leichter werden, wenn sie nur ihre Kinder, besonders Lise, ganz besitzen könnte. Ganz, ganz! Mit Herz und Seele! Irgend etwas tippt dann wohl einmal mit leisem Finger an das spröde, harte Gemüt der Tochter; ihr Gewissen wird lebendig, und manche Schuld vergangener Tage will Gestalt annehmen und gebieterisch verlangen, von ihr nach Kräften getilgt zu werden. Aber nein! Keine Schuld! Viel besser als Mutter weiß sie selbst, was dieser frommt und für sie gut ist. Diese ist oft kindisch und so unreif in Lises Augen, daß letztere bisweilen meint, sie hätten die Rollen getauscht. Der erste Streit, der andeutungsweise noch in Seedland draußen begonnen hatte, war in München, kurz bevor Lise ins Institut übersiedelte, ernstlich ausgebrochen. Er drehte sich um Kathi und um deren Kind. Lise behauptete, daß das Mädchen sich, besonders gegen sie, zu viel herausnehme und frech werde. Gertrud, die nie dergleichen bemerkt, wohl aber beobachtet hatte, daß die Tochter stets schnippisch und unfreundlich gegen Kathi war, verteidigte die Treue, worauf Lise in Empörung eine Menge unsinniger Beschuldigungen gegen das Mädchen hervorbrachte. Alle gipfelten darin, daß es eine liederliche Person sei und wirklich nicht verdiene, auch von Mutter noch unterstützt zu werden. Eine Schande sei es gewesen, Kathi einst ins Haus aufzunehmen, eine noch größere, sich auch noch deren Kind in solcher Weise anzunehmen. Frau Halliger war sehr blaß geworden, und ein heißer Zorn gegen Lise wallte in ihr aus; aber sie sagte sich, daß diese eben selber noch ein Kind sei und ihre Auffassung dieser Angelegenheit dem entspreche.
»Rede und urteile nicht über Dinge, Personen und Verhältnisse, die zu verstehen und zu beurteilen du noch viel zu jung bist. Ich will, – da wir uns doch jetzt sozusagen trennen, – vergessen, wie weh du mir mit deiner Anmaßung und kurzsichtigen Härte getan. Aber sei versichert, daß ich mich niemals, auch nicht durch dich, abhalten lassen werde, das zu tun, was ich für recht und gut halte!«
Kathi wie auch Hanserl wurden mit nach München genommen. Bis für das kleine Mädchen ein geeigneter Platz gefunden war, behielt es Frau Halliger bei sich im Haus. Lise ignorierte das Kind einfach, blieb völlig stumm gegen Kathi und unfreundlich und wortkarg gegen die Mutter. Gertrud beachtete es scheinbar nicht und lehnte sich instinktiv auf gegen die herrschsüchtige jugendliche Tochter. Sie äußerte sogar, sie wolle das Kind der Magd ganz im Haus behalten. Kathi aber bat und flehte, die gnädige Frau möge sich doch solch eine Last nicht auftun. Die Melberin drüben in der Kanalstraße sei ihr etwas verwandt und eine brave Frau, auch eine kinderlose Witwe und nicht mehr die Jüngste; die habe geäußert, daß sie das Hanserl von Herzen gern aufnehme. Sie wohne auch so nahe, und Mutter und Kind könnten sich also immer leicht sehen. So geschah es auch; allein sonst blieb es, wie es in Seedland draußen gewesen. Allerdings schläft Hanserl bei der Melberin drüben; jede freie Stunde aber verbringt es dennoch herüben bei der Mutter und der lieben Frau Professorin. Über viel nutzloses, peinliches Grübeln, manche trostlose und einsame Stunde wird Gertrud von dem munteren Kind hinweggebracht, von dem sie sich nunmehr nur unter Schmerzen hätte trennen können. Ohne daß irgend jemand ein Wort verliert, bleibt die Kleine jeden Sonntag indessen bei der Base. Diese nimmt sie auf Ausflügen mit; oder sorgt sonst für ihre Unterhaltung, und wenn Kathi frei hat, besucht sie die Verwandte und zugleich das Kind.
Für Gertrud war das sich Einleben in der Vaterstadt nicht so leicht und einfach gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Als Siebzehnjährige, aus so ganz anderen Verhältnissen wegheiratend, war sie ausgezogen, um nach all den langen, in Norddeutschland verbrachten Jahren wieder ganz in die Heimat zu kommen. Es ist ja ihr altes München; aber doch ist es das auch wieder nicht! Bei ihren, wenn auch wochenlangen, früheren Aufenthalten war ihr das nicht so aufgefallen. In den ersten Tagen nach ihrer Übersiedlung hatte sie sich darüber gefreut, Menschen aus jener alten Epoche, und wenn es auch nur die alte Waschfrau der Eltern war, zu begegnen, Straßen und Plätze wieder zu sehen, die völlig oder fast ganz von modernen Änderungen unberührt geblieben waren. Hätte sie den alten und doch noch so merkwürdig jungen Onkel Toni nicht gehabt, sie wäre gar manchmal in Stimmungen gekommen, in welchen sie am liebsten alles zusammengepackt hätte und wieder nach Seedland zurückgekehrt wäre. Nachdem das Getümmel, die größten Unordnungen, die ein Umzug mit sich bringt, vorüber waren, galt ihr erster Ausgang dem Dom zur lieben Frau. Nein! Der hatte sich nicht verändert! Weder innen noch außen. Sie war erst davor gestanden, wie vor einem uralten, treuen, beschützenden Freund, und hatte hinaufgeblickt zu den himmelhohen, unschönen Türmen, bis sie gemeint, sie fingen langsam an zu nicken, sie wankend zu grüßen. Es ärgerte sie förmlich, daß jetzt statt des früheren, ihr so wohlbekannten greisen Küsters ein anderer, jüngerer in dem kleinen Häuschen drüben wohnte. Dann durchwandelte sie mit langsamen Schritten und in einer feierlichen Stimmung das mächtige Gotteshaus. Vorüber am großen Hauptaltar, vor dem sie mit Roland gestanden, als sie sein Weib geworden. Vorüber an so vielen wohlbekannten Stellen und Stätten. Hier hatte sie sich mit Ludl einst niedergelassen, um eine große Düte voll Kirschen leer zu essen, und die Steine hatten sie alle unter die Bänke geworfen. Ein uralter Bettelmann hatte sie deshalb ausgeschimpft und hinausjagen wollen, als hätte er eine besondere Machtstellung gehabt. Drüben hing die türkische Fahne an der Säule gerade der Kanzel gegenüber. Wenn die schlechte Beleuchtung auch verhinderte, die Buchstaben zu lesen, so wußte sie doch noch genau, daß der ehrwürdige Fetzen, wie Ludwig immer sagte, von Kurfürst Max Emanuel 1688 bei der Erstürmung von Weißenburg erobert wurde. Sie lächelte vor sich hin. Fast so gut wie damals war auch jetzt noch dies alles ihrem Gedächtnis eingeprägt. Dort drüben aber, – sie wischte sich über die Augen, – dort – dort fehlte ihr etwas! Einen Augenblick meinte sie zu träumen. Hier, inmitten der Kirche, gegen den Hochaltar zu, hatte doch das Grabmal Kaiser Ludwigs des Bayern gestanden? Eine ältliche Frau, die krampfhaft Kreuz auf Kreuz schlug und immer wieder an ihre hohle, keuchende Brust klopfte, erhob sich eben, um zu gehen. Die fragte sie danach.
»Ja, dös ham's versetzt. Drunten unterm Hauptchor steht's halts jetz, 's hat gar so viel geniert bei die großen Hochämter und dene Sachen!«
Gertrud fand es sogleich und bewunderte enthusiastisch die Schönheit des Erzgusses Meister Krumpters. Sie versuchte wie einst die lateinische Umschrift des Grabmals aufzusagen. Da! Wort für Wort kam wieder: Ludovico IV, Imperatore Augusto Maximilianus Bad. Dux SRI Elector Jubentibus Alberto V. u. s. w
Ob Ludl sie wohl auch noch wußte? Wie oft hatte sie ihn früher damit besiegt, indem sie die vollständige Inschrift fehlerlos herunterschnurrte. Wie einstmals als Kind, so behauchte sie auch heute die blankgeputzten Messingbeschläge der Kirchenbänke und schmiegte die heiße Wange an irgend eine weiße Marmortafel einer uralten Gruft. Nur da hinten die Plakate, durch welche gemahnt wurde den Boden nicht zu bespucken, waren neu; sonst nichts, nichts! Sie fühlte aber, daß für ihre heutigen Schmerzen der Frieden des alten Domes keine Ruhe mehr brachte wie damals denen ihrer Kindheit. Als sie auf der anderen Seite der Kirche dann heraustrat, kam eben Bruder Otto aus dem gegenüberliegenden Weinhaus. Er stutzte, ging auf sie zu und starrte sie ohne Gruß an wie ein Meerwunder.
»Aus der Kirche kommst du? Jetzt? Ich mein, du bist mitten in der Arbeit des Einräumens? Wirst du jetzt vielleicht bigott?«
Seine Art und Weise reizten sie. Er war in schlechter Stimmung und mußte sich über etwas geärgert haben. Sie antwortete ihm gar nicht auf seine bissigen Fragen und lenkte ab.
»Weißt du etwa, wie es Mutter geht? Sie war letzthin nicht sehr wohl.«
»O, jedenfalls ganz gut! Gestern haben sie eine Gesellschaft gehabt. Du Gertrud, – das sag ich dir aber, in diesen Kreis gehst du mir nicht! Der Doktor Dampf war wieder dort gestern, und der hat mir gerade eben –«
Alles in ihr empörte sich und sie unterbrach ihn rasch.
»Erstens bin ich innerlich wie äußerlich in tiefer Trauer, zweitens bin ich nun doch in dem Alter, um mir meinen Umgang selbst wählen zu können. Ich habe jedenfalls nur Gutes und Schönes über die Gesellschaft gehört, in der sich die Eltern bewegen.«
»Was weißt denn du?« schnauzte der Bruder sie kurz an. Jedoch begleitete er sie trotzdem durch die engen Gäßchen in die Dienergasse, wartete vor einem Laden, in dem sie etwas besorgte, und bog mit ihr bei der Post in die Maximilianstraße ein. In Gertruds zartes Gesicht war ein heißes Rot gestiegen. Alle Begegnenden sahen der schönen Frau, über deren weißer Stirne noch immer, trotzdem das Trauerjahr längst verstrichen, die Witwen-Schneppe saß, nach. Otto ärgerte sich selbst darüber, und nicht viel hätte gefehlt, daß er auch noch deshalb mit einer unliebenswürdigen Äußerung losgeplatzt wäre. Was brauchte die Schwester sich so auffallend zu kleiden? Was brauchte sie so ein verrücktes Ding aufzusetzen?
Sie standen dann an Gertruds Haus, und Otto musterte, keineswegs ganz interesselos, die meist recht niedlichen, kleinen Nähmädchen, die gerade herauskamen.
»Woher sind denn alle die Weiber da? Die schauen ja verdächtig aus!«
Frau Halliger wußte gar nicht, was er meinte, blickte rings herum, ohne irgend etwas besonderes zu gewahren, und dachte nicht im entferntesten an die Arbeiterinnen Madame Soncas, die wirklich ganz einfach und bescheiden aussahen.
»No ja, – die Mädeln da! Von allen Arten sieht man hier immer Weiber! Ist das ein komisches Haus, in dem du wohnst!« murmelte er mißtrauisch.
»Wie so denn? Oben haust eben eine Schneiderin, und von der mögen sie kommen. Adieu Otto, guten Appetit!«
»Kommst du nicht Mittwoch zur Hela? Die hat wirklich einen feinen Kreis und ist überhaupt eine famose Frau!«
»Aber jetzt gehe ich doch nicht in Gesellschaften! Sind Eckebergs allein, besuche ich sie so wie so ab und zu!«
»Also adieu!«
»Adieu Otto!«
Die Sonne schien damals warm, aber Gertrud hatte doch gefröstelt. So ging's nun immer fort! Otto und Hela mischten sich in alles und kritisierten unaufhörlich. Helas Laune war schon darum besonders schlecht, weil Schwester Emmy, die sich erst von ihrem Mann hatte scheiden lassen, um irgend einen slavischen Ingenieur zu heiraten, wieder ein pikantes Verhältnis mit ihrem verflossenen Mann angefangen hatte. Ganz München, wie Exzellenz fast weinend sagte, lachte und skandalisierte darüber. Umsonst bemühte sich Hela, Schwester Emmy die Vaterstadt zu verleiden und sie fortzuekeln. Aber nein! Gerade da gefiel es dieser und nicht im Traum dachte sie daran, in eine andere Stadt zu ziehen. Auch diese Schwester war zu Gertrud gerannt und hatte versucht sie in ihr Lager zu bekommen. Auffallend schnell war sie wieder gegangen. Frau Halliger hatte sich nicht des Grauens erwehren können, das sie beim Anblick der dirnenhaft aussehenden Person erfaßte. Nichts, gar nichts hatten sie gemein, nichts verband sie als zufällig ein paar Tropfen Blutes. Nie wieder erschien Emmy in der Steinsdorfstraße und schalt die jüngste Schwester eine dumme, hochnäsige und spießige Gans, die bei ihren preußischen Rüben und Kartoffeln hätte bleiben sollen!
So waren es nicht lauter angenehme Eindrücke, die Gertrud empfing. Ein paar Stunden, gemütlich in Onkel Tonis Atelier verbracht, entschädigten sie freilich wieder für vieles. Auch in der Eltern Haus fühlte sie sich ganz wohl. Die alten Leutchen haben sich hinter dem Maximilianeum ein allerliebstes, kleines Nest gebaut und leben darin in allergrößtem Frieden und völliger Eintracht. Das einzige, was sie sich an Luxus gestatten, ist wieder ein offenes Haus für ihre Freunde und Bekannten. Sonntag für Sonntag ist die enge Wohnung voller Gäste und viele junge sind darunter. Was Otto zur Schwester gesagt, beruht keineswegs auf Wahrheit. Unter den Menschen, die Uz und sein Schnakl umgeben, herrscht ein feiner und guter Ton; es bewegen sich hier wirklich nur einwandsfreie Elemente. Einige Freunde aus alter Zeit sind auch noch da. Viele junge Menschen beiderlei Geschlechts, und keineswegs nur aus literarischen und künstlerischen Kreisen, besuchen das alte beliebte Paar. Es ist so bekannt in der Stadt, daß »i' alle Wochen schier einen neuen Hut bräucht'!« meint der Doktor. Er ist sich völlig klar darüber, daß sein Haus nur Gäste ersten Ranges empfangen darf, und er hält es rein. Keiner verläßt die Degenhardtschen jemals, ohne aufgeheitert worden zu sein und irgend eine Anregung empfangen zu haben. Ein lieblicher Kranz ganz junger Mädchen, die alle ›Mama‹ zur berühmten Schriftstellerin sagen dürfen, treibt eine Art Abgötterei mit dieser, und der sehr dolle Busen birgt viel Hunderte kleiner und großer Geheimnisse. Zu den alten Eltern geht Gertrud immer gern. Freilich am liebsten zu ihnen allein. Es ist, als ob beide nun doch schmerzlich verspürten, so wenig von ihren neun Kindern zu haben. Besonders Frau Thilde empfindet es, eigentlich sozusagen keine Tochter zu besitzen, und öffnet der Jüngsten weit ihre Arme. Isi flutscht in unergründbaren Stellungen rund um die Welt. Ein einziges Mal in all den Jahren hatte sie sich in der Vaterstadt, in der Familie sehen lassen, war aber sehr bald wieder mit einem exotischen, scheinbaren Ehepaar, das in den vier Jahreszeiten wohnte, abgereist, ohne irgend jemandem Herzweh zu verursachen. Mit Emmy allein war sie mehrmals zusammen gewesen, und diese bekam auch wohl ab und zu Nachricht von ihr. Alle beide kümmern sich absolut nicht um die Eltern. Exzellenz Frau Hela kommt jeden Donnerstag pflichtschuldigst abends sechs Uhr zu ihnen hinaus. Ist sie fort, sagt ihr Vater jedesmal: »Schnakl', leg nach, mich friert's,« oder: »Geh, mach ein Fenster auf, denn da stinkt's noch herein vor lauter Hochmut, der sich breit gemacht hat!« Eine ruhige Gemütlichkeit, Frohsinn und Geist mit Herzensgüte und seltsamem Leichtsinn gepaart, wie er sonst nur der Jugend eigen ist, herrschen bei den alten Leutchen. Diese Atmosphäre tut Gertrud ganz wohl; sie wird dadurch zerstreut und fügt sich leichter in die ganz neuen und anderen Verhältnisse. Mit Heißhunger hatte sie sich in den ersten Monaten auf alle Kunstschätze gestürzt, an denen München so reich ist, und die sie so lange hatte entbehren müssen. Manchmal begleiteten sie die Künstlerbrüder Carlo und Ludwig; beide benahmen sich dabei aber linkisch und steif oder aufgeregt und kamen sich selbst äußerst komisch vor. Da dankte Gertrud für deren Führung. Genoß sie doch am besten und vollständigsten, wenn sie allein war. Jeden Montag morgen kam ein Brief To's. Er schrieb weit wärmer und ausführlicher, seit er zu den Ferien hier gewesen. Ihr war es fast die einzige Herzensfreude. Sie fühlte sich einsam und sehnsuchtskrank nach all der Wärme und Liebe, mit der sie von ihrem Mann jahrelang umgeben gewesen. Und eine Sorge hatte sie, – eine Unruhe, die sie nimmer rasten ließ. Nach Rolands Tod hatte sie noch in Seedland einen langen Brief von Detlev von Dombrowsky empfangen, der damit schloß: ›Rufen Sie mich, sobald ich kommen darf!‹ Fürs erste bleibe er in Tokio, um seine gesammelten Notizen zu ordnen. Er hatte auch geschrieben, daß er sich heimatskrank, müde und alt fühle. Sie hatte ihm gleich geantwortet; das wollte sie vom Herzen haben. Unter dem Einfluß dessen, was sie erlebt, dessen, was sie ihm nimmermehr, am wenigsten schriftlich mitteilen konnte, was sie Tag und Nacht verfolgte und sie nie mehr losließ, wurden ihre Zeilen kühl, steif, nüchtern und berichteten zwar genau, aber reizlos von allen möglichen gleichgültigen Einzelheiten, ganz und gar nicht jenen Hauch atmend, der den im fernen Land vielleicht nach ihm Verdurstenden hätte erquicken können. Kein Wunder – selbst für sie, wenn sie auch keinen Begriff hatte, wie ihr Brief ausgefallen, – daß Dombrowsky so lange nicht antwortete. Würde es nicht überhaupt besser sein, sie blieben einander ganz ferne, da ja der Verstorbene – –! Und doch erschien ihr es wieder und wieder zu ungeheuerlich, daß Roland das hatte ausdrücken wollen mit dem »nicht«, das er sterbend gekeucht. Vier Wochen vor Weihnachten sandte sie Detlev dann von München aus eine Karte nach Japan mit einem Tannenreis und guten Wünschen für die Feste. Von ihm aber kreuzte sich keine Nachricht mit der ihrigen.
›Er ist wohl tief verletzt, tief, – oder die Zeit hat sein Fühlen und sein Denken geändert‹, dachte sie bitter. ›Vielleicht hat eine andere die Wunde, von meiner Liebe geschlagen, gnädig geheilt. Er hat mich vergessen.‹ Täglich sagte sie sich das, stündlich! Während des Trauerjahres mochte ihn ja wohl sein Feingefühl abgehalten haben, ihr öfters zu schreiben. Aber dann hätte er doch – nein, gut so! Gut um Rolands willen! So wurde sie weiter von ihrem Denken und Überlegen hin und her gezerrt. Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß sie ihr Leben nicht so weiter führen könne und dürfe wie bisher, dieses müßige Traumleben ohne rechte Arbeit, ohne einem Menschen ernstlich zu nützen. So dachte sie selbst; und doch sorgte sie nur für andere. Das lag in ihrer Natur, die sich des Grübelns überhaupt nie völlig entschlagen konnte. Sie hatte noch eine Anzahl Bekannte in München, und zu den alten kamen allein schon durch den Verkehr der Eltern neue hinzu. Wenn sie auch noch nie wieder an Gesellschaften teilgenommen oder Theater und Konzerte besucht hatte, so vermißte sie dennoch keine Anregung; aber Arbeit, ein wirkliches Hingenommenwerden ging ihr ab. Tag für Tag griff sie auch nach ihren Büchern, nach wertvollen Werken, und vertiefte sich nach Kräften in Philosophie, Weltgeschichte und Literatur. Auch kam Hanserl täglich zum Lernen. Es machte bei ihr seine Aufgaben, und da es sehr musikalisch war, erteilte ihm Gertrud Klavierunterricht. Es bereitete ihr auch Spaß, für das hübsche Geschöpfchen Kleider anzufertigen. Aber was ist alles das? Etwas Ernstes, Größeres! Aber sie ist ja eine berufslose Frau! Keine jener Glücklichen, die irgend ein großes Talent haben und zu ihrem Lebensinhalt ausnützen können. Sie war ja nur Frau und Mutter gewesen! Beides gewesen. Roland ist tot. Die Kinder benötigen sie nicht mehr. Was ist sie Lise, – was darf sie To noch sein? Woher das nehmen, was sie haben muß, um dieser furchtbaren Melancholie zu entgehen, die sie wie mit Krallen festhält und sie alles grau in grau und düster drohend sehen läßt?