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Amthor lag in seiner Kabine angekleidet, wie er war, auf dem Lager. Nach der Unterredung vorhin mit Eva war es wie ein Zusammenbruch seiner Kräfte über ihn gekommen; nun ruhte er hier, aber ohne Schlaf, in einer dumpfen Betäubung, die keine klare Schmerzempfindung mehr zuließ, nur ein Gefühl völliger Vernichtung und Erschöpfung.
Es konnte noch gar nicht allzu lange Zeit verstrichen sein, seit er so lag, da klopfte es plötzlich an seine Kabinentür. Auf seinen müden Anruf antwortete die Stimme seines Kammerstewards:
»Herr Doktor entschuldigen, aber Frau Professor Söllnitz lassen Herrn Doktor doch sofort bitten. Sie erwarten Herrn Doktor auf dem Deckplatz, wo Sie heute morgen gesessen hätten.«
»Gut – ich komme!«
Mit einem Sprung war Amthor auf den Füßen. Ein jäher Schreck hatte ihn wieder aufgepeitscht. Was hatte das zu bedeuten? War da etwas geschehen?
Mit einem Griff nur ordnete Amthor das zerdrückte Haar, fuhr nach der Schiffsmütze und eilte hinaus. In zwei Minuten war er hinten am Heck.
Eva Söllnitz stand schon da. Mit furchtbar erregten Mienen rief sie ihm entgegen:
»Mein Kind ist krank – auf den Tod! – operiert worden.«
Sie streckte ihm mit fliegender Hand einen Haufen Depeschen hin, die ihr da eben die an Bord gekommene Schiffspost gebracht hatte.
»Wie –?«
Selbst mit bebenden Fingern nahm Amthor die Telegramme und überflog sie der Reihe nach. Sie waren vom Pensionsvater des Knaben aufgegeben und datierten zum Teil schon lange zurück; sie hatten hier auf das Schiff gewartet, das ja seit dem Verlassen der englischen Küste, also an vierzehn Tage, ohne jede telegraphische Verbindung mit der Außenwelt gewesen war.
Mit steigender Erregung las Amthor:
»Kurt seit einiger Zeit wieder nicht ganz wohl. Klagt über Schmerzen« – »Schmerzen gesteigert, namentlich in Weichengegend, auch Fieber aufgetreten.« »Krankheit anscheinend Blinddarmentzündung, doch leichterer Art.« – »Zustand ernster geworden, Spezialist Sicherheit halber hinzugezogen. Kurt verlangt nach Ihnen. Doch kein Grund zu ernsterer Besorgnis.« – »Kurt leidet sehr, fragt viel nach Ihnen. Arzt hofft noch ohne Operation Besserung.« – »Operation voraussichtlich leider nötig. Kurt große Sehnsucht nach Ihnen. Erbitte im Interesse des Kindes, falls irgend möglich, Rückkehr.« – »Operation nicht länger aufschiebbar, erfolgt morgen. Erbitte dringlichst Antwort. Kurt fragt ständig nach Mutter, unglücklich über Ausbleiben jeder Antwort.«
Es war das letzte Telegramm, datiert von vorgestern.
»Um Gotteswillen!«
Verstört blickte Amthor Eva Söllnitz an.
»Mein Kind, mein armes, unglückliches Kind! Es schwebt in Lebensgefahr und ich kann nicht bei ihm sein – es ist vielleicht schon gestorben und hat vergeblich nach seiner Mutter geschrien.«
Ein Laut, der ihm das Herz zerriß, entrang sich ihr. Verzweifelt streckte sie die ineinander gekrampften Hände vor sich hin.
»Eva!« Er ergriff unwillkürlich ihre Hände. »Nein, nein, es kann ja nicht sein. Es ist ja nicht möglich! Fassung, Fassung! Die Operation ist ja schon gestern gewesen, wäre das Schlimmste eingetreten, so wäre ja sicherlich die Nachricht schon da.«
Sie sah aus ihrem krampfhaften Schluchzen auf zu ihm. Ein Hoffnungsstrahl leuchtete bei seinen Worten in ihren Augen auf. Wenn er recht hätte! Ja, ja – so grausam konnte Gott ja nicht sein, ihr auch das noch anzutun! Aber mit einem Male fiel ihr ein anderes auf die Seele und verzweifelt klagte sie sich an:
»Und ich habe wochenlang hingelebt, unbekümmert um mein Kind, nur an mich gedacht! – Gott, straf' mich dafür nicht so furchtbar! Hab' Erbarmen, sieh doch meine Qual!«
Erschüttert blickte Amthor auf sie nieder; aber dann kam es über ihn: Hier hieß es handeln, nicht klagen!
»Haben Sie schon depeschiert?«
Sie schüttelte aufhorchend das Haupt. »Ich habe ja eben erst die Telegramme erhalten.«
»Gut. – Ich depeschiere sofort – Eildepesche – daß Sie umgehend kommen, und erbitte unverzügliche Nachricht. Sodann erkundige ich mich nach der nächsten Reisegelegenheit. In einer halben, dreiviertel Stunde längstens bin ich wieder hier. – Inzwischen, Eva,« er trat dicht zu ihr und legte innig seinen Arm um ihre Schulter, »Mut und Vertrauen! Es wird sich alles zum Guten wenden. Ein Ahnen sagt es mir.«
»Wenn du recht hättest!«
Einen Moment schmiegte sie sich an seine Schulter. Seine Nähe, seine Zuversicht gab ihr ja solchen Trost.
»Auf Wiedersehen!«
Noch einen bestärkenden Händedruck und dann eilte er von ihr. –
Ein Boot hatte Amthor sofort an Land gebracht, und einige Minuten später ging bereits das Eiltelegramm ab. Nun hieß es das übrige zu erledigen. Mit geheimer Sorge dachte er daran. Bis zur nächsten Eisenbahnstation war es ja noch einige Tagereisen mit dem Wagen, um die Fjorde und Gebirge herum. Die »Hamburg« mußte ja ihren vorgeschriebenen Kurs innehalten, sie wäre also auch erst in fünf Tagen an die Bahn nach Bergen gekommen. Die einzige Hoffnung war demnach, daß einer der kleinen Handelsdampfer, die den Verkehr dieses nördlichsten Winkels Norwegens mit den Küstenstädten weiter drunten unterhielten, vielleicht heute gerade fuhr.
So ging er denn zum Hafen; aber hier erhielt er die traurige Auskunft, daß das Postschiff gerade gestern abgegangen war und erst in 8 Tagen wieder fahren würde. Irgend ein Handelsschiff mit entsprechendem Kurs fuhr auch nicht in den nächsten Tagen.
Einige Augenblicke war Amthor tief niedergeschlagen. Dann aber durchzuckte ihn ein Gedanke: Er hatte da im Hafen einen kleinen Schlepper gesehen, der erst in nächster Woche mit einigen Fischerkuttern wieder in See gehen sollte. Wenn der Kapitän gegen eine angemessene Entschädigung sich bereit finden ließe, inzwischen die Fahrt zur Bahnstation zu machen?
Sofort suchte Amthor den Kapitän auf. Nach längerem Suchen fand er ihn auch und – welch Glück! – er wurde mit ihm einig. Der Mann forderte zwar 200 Kronen, aber was spielte hier Geld eine Rolle? Er schloß sofort mit ihm ab. Gleich nach Tisch bereits versprach der Kapitän in See gehen zu wollen.
Mit erleichtertem Herzen eilte Amthor nun wieder dem Kai zu, um an Bord zurückzukehren. Es war nun doch später geworden, als er Eva versprochen hatte; fast zwei Stunden waren über dem Hin- und Herlaufen vergangen. Aber da fiel es ihm unterwegs ein, noch einmal schnell auf der Post vorzusprechen und nach einem Telegramm für Frau Söllnitz zu fragen. Es war ja doch eine Nachricht über den Verlauf der schon gestern vorgenommenen Operation eigentlich längst zu erwarten.
So fragte er denn nun auf dem Postbureau. Die Schalterbeamtin ging Nachsehen, dann kam sie mit dem Bescheide wieder: Es läge nichts für die Dame hier; aber vor einer halben Stunde wäre eine Depesche für sie angekommen und ihr bereits an Bord des Schiffes gebracht worden.
Mit kaum zu zügelnder Ungeduld saß Amthor im Boote, das ihn zur »Hamburg« hinüberfuhr. Was mochte die Botschaft gebracht haben?
Endlich war er am Schiff und sprang die Treppe empor. Noch im Steigen sah er schon oben an der Reling Eva stehen, eine stille Seligkeit im Antlitz – ihm mit der Depesche zuwinkend. Und als er nun zu ihr trat – ganz atemlos vom Heraufstürmen – da rief sie ihm mit unterdrücktem Jubel die kurzen Worte zu, die das inhaltsschwere Blatt da in ihrer Hand enthielt:
»Operation geglückt. Jede Gefahr vorüber. Kurt schwach, aber ganz wohl.«
Befreit aufatmend ergriff er ihre Rechte, die ihm das Telegramm hingereicht hatte. Kein Wort des Glückwunsches kam von seinen Lippen – sie waren ja hier nicht ohne Zeugen – aber sein pressender Händedruck verriet ihr, was er empfand.
Dann erzählte er ihr in Kürze, was nötig war. Selbstverständlich litt es sie ja auch nun, trotz Abwendung der ernsten Gefahr, keine Minute länger hier. Hin wollte sie zu ihrem Kinde, das sie brauchte, das nach ihr verlangt hatte – täglich, stündlich in dieser schweren Zeit! – Die starre Hülle der Gleichgültigkeit, die sich um ihr Mutterherz gelegt hatte, sie war in dieser Prüfungsstunde zersprungen; in unsagbarer Liebe zog es sie wieder zu ihrem Kinde. Gott hatte ja sein Herz gelenkt. In der Zeit der Not, des Leidens, war sein Sehnen nach der Mutterliebe wieder erwacht. Nun sollte sie ihm werden, die lang verhaltene, überreich!
Mit still aufleuchtendem Blick hörte Amthor diese Bekenntnisse an, ein wenig abseits von den anderen.
»Habe ich es Ihnen nicht damals schon gesagt, Eva?« sein Auge suchte das ihre. »Das konnte ja nicht in Ihnen erstorben sein!«
»Ja!« Mit innigem Erstrahlen dankte ihm ihr Blick. »Sie kannten mich besser als ich.«
»Und ich werde auch jetzt wieder Recht behalten!« bedeutungsvoll sagte er es, plötzlich wieder sehr ernst werdend. Dann richtete er sich auf.
»Sie haben keine Zeit zu verlieren. In nicht mehr zwei Stunden müssen Sie abfahren.«
Sie schrak zusammen, jäh erblaßt. In ihrem Mutterglück hatte sie das vergessen können!
Einen Moment umklammerten sich ihre Blicke in einem trostlosen, stummen Ineinanderschmiegen, das nicht voneinander lassen wollte. Dann machte er ein Ende.
»Es muß sein. – Ich will Sie nun nicht aufhalten bei Ihren Vorbereitungen. Ich hole Sie nachher ab, wenn es Zeit ist.«
Und schnell wandte er sich von ihr.