Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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XIV.

Im Damensalon des Schiffes, der auch als Schreibzimmer diente, saß Amthor und schrieb. Es war in der vierten Morgenstunde. Der mattgelbe Schein der nächtlichen Polarsonne fiel durch die Scheiben, ein eigenes, geheimnisvolles Licht erzeugend, das die Gegenstände im Raum mystisch umfloß. Lautlos still und verlassen lag das Gemach, nur ganz vorn, vom andern Ende des Decks, drang dann und wann ein gedämpfter Hall, aus dem Rauchsalon, – dort saßen noch die letzten unermüdlichen Schwärmer beim Sekt und feierten die Polarnacht.

Blatt auf Blatt vor Amthor hatte sich mit seinen festen Schriftzügen gefüllt. Nun schrieb er die letzten endenden Zeilen, langsamer, jedes Wort in seiner vollen Schwere empfindend. Dann legte er die Feder aus der Hand und tief aufatmend lehnte er sich im Stuhl zurück. So verharrte er einige Augenblicke mit geschlossenen Augen; dann beugte er sich wieder vor. Noch einmal nahm er die Blätter auf und überlas, was er da eben niedergeschrieben hatte:

»Liebe, liebe Frau Eva!

Wenn Sie mich auch vorhin erkennen ließen, daß Sie einer Aufklärung von meiner Seite nach dem, was geschehen ist, kein Interesse mehr entgegentrügen, so muß ich doch zu Ihnen sprechen. Und ich bitte Sie, wenn ich Ihnen je etwas gewesen bin, versagen Sie mir diese letzte Bitte nicht. Ich ertrage es nicht, ungehört von Ihnen verurteilt – verachtet zu werden. Glauben Sie mir: Ich bin ein so mit Leid Beladener, daß Sie mir das nicht auch noch antun dürfen. Die nachstehenden Zeilen werden es Ihnen zeigen und Ihnen zugleich dartun, daß ich nicht ein Abenteurer bin, der ein frivoles Spiel mit einer schon genug vom Schicksal heimgesuchten Frau getrieben hat.

Sie wissen, daß ich Ihnen auf unserem ersten Ritt in Island sagte, daß mich ernste Pflichten dort festbannten, in jenes Haus des Grauens und der Trauer, das ich Ihnen von ferne zeigte. Ich sagte Ihnen aber nicht, welcher Art diese Pflichten sind. Ich tat es nicht, weil ich über mein Unglück seit Jahren nicht mehr spreche, weil ich nicht durch das Aufrühren alten Leids meine nur mühsam errungene Ruhe wieder aufs Spiel setzen wollte.

Ich bin verheiratet, Frau Eva, Sie wissen es ja nun bereits – aber nun mögen Sie auch alles wissen: verheiratet mit einer jener lebendig Begrabenen, die jenes Haus beherbergt – das ist die Pflicht, die mich auf Island festbannt.

Vielleicht darf ich Ihnen nun auch noch sagen, wie das alles gekommen ist.

Ich erwähnte ja schon damals, meine Mutter wäre eine geborene Dänin. Wie sie schon mit meinem Namen – sie nannte mich Hjalmar – ihre Anhänglichkeit an die alte, nur schwer aufgegebene Heimat bewies, so auch durch die treue Pflege der Verwandtschaftsbeziehungen dort.

So bin ich denn oft mit ihr und später allein bei ihren Angehörigen in Kopenhagen gewesen. Ich ging dorthin, auch nach Abschluß meiner Studien, als junger Arzt, um bei dem berühmten Finsen die damals gerade von ihm entdeckte, bahnbrechende Behandlung verheerender Krankheiten durch Lichtbestrahlung zu erlernen.

In seiner Klinik lernte ich eine junge Studentin der Medizin kennen, ein stilles, ernstes Mädchen, das mich aber durch seine sympathische Art bald anzog. Es umgab sie auch etwas Geheimnisvolles. Es wurde in der Klinik erzählt, sie stamme fernher von Island, und ein dunkles, tragisches Geschick, über das niemand aber Näheres wußte, habe sie vor der Zeit so ernst und still gemacht.

Das zog mich nur um so mehr zu ihr hin, und schließlich kamen wir in einen kameradschaftlichen Verkehr, der sich allmählich immer freundschaftlicher gestaltete. In einer schönen, tiefernsten Stunde, wo ich nach dem Grund ihrer Melancholie geforscht hatte, schloß sie sich nun ganz auf: Ihre innig geliebte Mutter war durch eine Magd mit jener furchtbaren, unheilbaren Krankheit angesteckt worden, die in Island noch aus alten, trüben Zeiten sich erhalten hat – der Lepra! Seit Jahren schon lebte sie nun, von ihrer Familie und der Welt abgeschlossen, im Aussätzigenheim, ohne jede Hoffnung auf Heilung, langsam ihrem unentrinnbaren Ende entgegensehend. Gerade die geheime Hoffnung, durch die neue Finsensche Methode vielleicht auch ihre geliebte Mutter retten zu können, hatte sie zu dem berühmten Arzt gebracht – eine Hoffnung, die er ihr aber hatte zerstören müssen.

Ich war tief erschüttert von diesem furchtbaren Geschick, und seit jener Stunde zog es mich in innigstem Mitgefühl zu dem armen Mädchen. Lassen Sie es mich kurz sagen: Wir kamen einander immer näher, und dies Mädchen ward meine Frau. Es war vielleicht keine eigentliche Liebe – wenigstens, wie ich jetzt weiß, nicht die wirkliche, unser ganzes Wesen erschütternde Liebe! – die mich zu ihr hinzog, vielmehr ein mild-wärmendes, stilles Empfinden, das in dem anderen den guten, treuen Gefährten fürs Leben, den verständnisvoll mitwirkenden Kameraden bei der Berufsarbeit suchte.

Aber trotzdem waren wir glücklich, so glücklich miteinander, wie ich es, damals mir nicht anders hatte ersehnen können. Alle unsere Wünsche waren ja erfüllt, ein schönes, erfolgversprechendes Leben voll ungetrübter Harmonie lag vor uns. Meine Frau wollte mir in meine Heimat, nach Deutschland, folgen, wo mir an einem Sanatorium der Posten des leitenden Arztes zugesichert worden war, eine gute, vielverheißende Stelle.

Nur einmal, auf wenige Tage, wollte meine Frau zuvor noch in ihre alte Heimat nach Island zurückkehren, um von ihrer Mutter Abschied zu nehmen, Abschied fürs Leben! Denn nachher würde sie ja schwerlich noch einmal hinauf in jene entlegenen Regionen kommen, und wenn wirklich, so fand sie gewiß die Unglückliche nicht mehr am Leben vor.

Ich konnte mich natürlich diesem nur zu begreiflichen Wunsch nicht widersetzen, und so begleitete ich denn meine junge, mir eben angetraute Frau nach Island; es war unsere Hochzeitsreise.

Mit geheimem Bangen sah ich allerdings diesem Abschied von Mutter und Tochter entgegen. Ich wußte ja freilich, daß die Lepra bei Beobachtung der nötigen Vorsicht nicht ansteckend ist; Ärzte und Wärter sind ja täglich mit diesen Kranken ohne Nachteil zusammen. Aber wie leicht konnte in dem Gefühlsausbruch beim Abschied eine Berührung stattfinden, und – mir schauderte schon bei dem flüchtigen Gedanken! – vielleicht mit verhängnisvollem Ausgang!

Ich wirkte daher auf der Seereise mit aller Energie auf meine Frau ein, daß sie um Gotteswillen nicht in jener Stunde sich vergessen möchte. Sie solle doch an mich, an sich, an unsere ganze Zukunft denken! Meine Frau versprach denn auch fest, jede Vorsicht beobachten zu wollen.

So kamen wir nach Reykjavik. Ich selbst begleitete meine Frau in das Lepraheim und war mit dem Arzte Zeuge des erschütternden Wiedersehens zwischen Mutter und Tochter.

Die arme Leidende fühlte wohl selbst, daß sie nicht mehr lange sich quälen würde und daß diese Begegnung mit der heißgeliebten Tochter die letzte sein würde. Um so mehr bewunderte ich die Fassung der unglücklichen Frau, die kein Wort von sich selbst und dem ihr bevorstehenden Geschick verlor, sondern nur an dem Glück ihres Kindes sich freute, dessen Zukunft sie nun ja durch die Heirat gesichert sah.

Da die Patientin sich so ruhig und besonnen benahm und infolgedessen auch meine Frau ganz beherrscht schien, so glaubte der Arzt den beiden ruhig noch ein kurzes weiteres Beisammensein ohne unsere Überwachung nur in Anwesenheit einer alten, schwerhörigen Wärterin gestatten zu können, und er führte mich währenddessen durch die übrigen Räume seiner Anstalt. Als wir wiederkamen, fanden wir die beiden Frauen allerdings tief bewegt, in Tränen aufgelöst, und es war mir sehr lieb, daß wir wieder da waren, um nötigenfalls einschreiten zu können. Der letzte Abschied war dann herzzerreißend; halb mit Gewalt mußte ich meine Frau fortführen.

Aber die Zeit tat nun ihr Werk, namentlich auch all das Neue, das alsbald meine Frau in ihrer neuen Heimat und im eigenen Hause empfing. So wurde sie denn wohltätig von ihrem Schmerz abgelenkt und blühte bald in doppelter Frische und Anmut auf. Ihre Hausfrauenpflichten machten ihr eine hohe Freude; sie vermißte das aufgegebene Studium gar nicht, sondern war glücklich in ihrem neuen Berufe nur als Weib.

So verlebten wir denn in ungetrübtem, tief innerlichem Glück die ersten Monate unserer jungen Ehe. Es ging zum Winter, und wir mußten auch unseren gesellschaftlichen Verpflichtungen genügen.

Da kam der erste Ball, den ich mit meiner Frau besuchte; der erste und letzte! Meine Frau sah dem Abend mit großer Spannung entgegen, sollte sie doch zum ersten Male mit mir tanzen, während der kurzen ernsten Brautzeit war nie Gelegenheit dazu gewesen, und unsere Hochzeit war ja auch nur ganz still im Kreise ihrer Kopenhagener Verwandten begangen worden.

Noch heute sehe ich meine Frau auf dem Feste vor mir in ihrem Ballkleide, so hübsch und frisch, und so glücklich!

Sie freute sich ja, unter geheimem Herzklopfen, wie ein ganz junges Mädchen auf das große Ereignis. Wie glücklich strahlten mich ihre Augen an, als ich dann den Arm um sie legte und wir den Eröffnungs-Walzer tanzten.

Froh blickte ich auf sie nieder, da streifte mein Blick von ungefähr ihren Hals, und ein Fleckchen fiel mir auf ihrer weißen Haut auf. Erst wollte ich flüchtig darüber gleich wieder hinwegsehen, aber da hatte ich plötzlich eine so sonderbare Ideenassoziation. Das winzige Pünktchen sah – wie dem geschulten Auge des Arztes in mir nicht entgangen war – so sonderbar aus, und plötzlich mußte ich, ich wußte nicht wie, ganz unvermittelt an meinen Besuch in Reykjavik im Lepraheim denken.

Erst wollte ich über diesen törichten Gedankensprung im stillen lächeln, aber plötzlich schoß eine ganz klare Vorstellung in meiner Seele auf: Ein Moment von dem Rundgang durch das Heim mit dem Kollegen dort stand mir mit einem Male vor der Seele. Er zeigte mir einen kranken Knaben, und ich entsann mich noch wörtlich seiner Bemerkung dabei: »Hier haben Sie einen Fall von Lepra im allerersten Stadium. Infektion nachweislich erst vor mehreren Monaten erfolgt.«

Ein dunkles Grauen beschlich mich plötzlich, aber noch ganz ohne Bewußtsein. Es war das instinktive Ahnen von etwas Furchtbarem, das meine Vernunft im ersten Augenblick noch gar nicht erkannte.

Erst wollte ich rasch diese dumme, hier in das frohe Fest so gar nicht passende Erinnerung abschütteln, aber mit einer dämonischen Gewalt zog es meinen Blick wieder auf jenes Hautfleckchen. Unwillkürlich betrachtete ich es noch einmal, es im Geiste mit jenem Anblick vergleichend, der mir noch ganz deutlich vor der Seele stand – der Fall hatte mich ja fachmännisch interessiert – und ein lähmendes Entsetzen schlich plötzlich an mir hoch: Das sah ja hier gerade genau so aus wie bei dem armen Jungen damals – ganz, ganz derselbe charakteristische Anblick!

»Was hast du denn?« Erstaunt klang mir plötzlich die Frage meiner Frau im Ohr; mir war mitten im Tanz der Arm schlaff niedergesunken, der sie umschlungen gehalten hatte.

Sofort faßte ich mich aber wieder.

»O – nichts, nichts! Ein kleiner Krampf nur,« redete ich mich schnell aus.

Sie durfte ja nichts ahnen! Noch war ja alles nur ein Vermuten, vielleicht, hoffentlich – nein sicherlich! – nur ein Schreckgespenst meiner geängstigten Phantasie!

Aber der Abend war für mich verdorben, und auch für meine arme Frau, die sich so sehr auf ihn gefreut hatte. Ich war still und tiefernst seit jener Minute. Eine fürchterliche, geheime Angst hatte sich mir ja ins Herz gekrallt: wenn ich nun doch recht gesehen – wenn meine Frau wirklich der tödlichen Krankheit verfallen wäre! Ein kalter Schauer schüttelte mich jedesmal bei dem Gedanken. Der Abschied von ihrer Mutter! zuckte es in mir auf. Wenn dabei doch eine Berührung, eine Übertragung, stattgefunden hätte?

Aber dann redete ich mir selbst wieder den entsetzlichen Gedanken aus. Es war ja ganz unmöglich. Die beiden waren ja überwacht worden – ich selbst hatte ja doch dem eigentlichen letzten Abschied beigewohnt. Es konnte ja also nicht sein!

Aber gleichviel, ich mußte mir beruhigende Gewißheit verschaffen.

Gleich am anderen Tage ging ich zu einem Kollegen, einem zuständigen Spezialisten. Ich erzählte ihm meinen Verdacht und bat ihn um eine Untersuchung.

Es geschah. Arglos ließ sich meine Frau unter einem unauffälligen Vorwande untersuchen – sie scherzte sogar noch hinterher, als der Spezialist wieder fort war, über meine Besorgtheit und meinen fürchterlichen Ernst bei der Konsultation. Aber eine Stunde später, als ich mit namenloser Spannung heimlich zu ihm eilte, da hatte ich die begehrte Gewißheit – ich hatte recht gesehen: Es war Lepra.

Die Stunde, wo mich diese Gewißheit zu Boden schmetterte, schien mir die schlimmste meines Lebens. Noch fürchterlicher aber war jene zweite, wo meine Frau aus meinem eigenen Munde ihr Schicksal erfuhr – daß sie eine verlorene war, zu Einkerkerung, zu langsamem Absterben verdammt.

Erlassen Sie mir die Schilderung, wie meine unglückliche Frau ihr Todesurteil entgegennahm. Nur das glauben Sie mir, ich werde nie mehr in meinem Leben etwas Erschütternderes erfahren können als jene Stunden, in denen die Unglückselige, mitten in blühender Jugend, in hoffnungsvollem Glück, sich losrang von der Welt – vom Leben – von mir!

Endlich war sie still geworden, und sie hatte nun nur noch einen Wunsch, in ihre ferne Heimat zurückzukehren, nach Island, und in demselben Haus interniert zu sein wie ihre Mutter, um wenigstens, solange dieser noch das armselige Leben beschieden war, einen Menschen um sich zu haben, der ihrem Herzen nahe stand.

Meine Frau gestand mir nun auch, daß sie damals in der Abschiedsstunde – von ihren Gefühlen hingerissen, meine Warnungen vergessend – die Mutter umarmt und diese sie geküßt hätte. Ja nur auf den Hals! So würde es ja gewiß nichts geschadet haben, hatte sie sich nachher selbst getröstet. Und so hatte sie mir denn auch gar nichts davon erzählt, um mich nicht erst zu beunruhigen.

Kaum ein halbes Jahr, nachdem wir Reykjavik besucht hatten, sah es uns so schon wieder. Aber wie anders! Unser Hoffen und Wünschen hatten wir inzwischen beide begraben.

Es war erst meine Absicht gewesen, meine Frau nur in das Lepraheim zu geleiten, dann aber wieder nach Deutschland in meine Stellung zurückzukehren., Aber es kam nicht mehr dazu.

Ich brachte es nicht übers Herz, sie in ihrem Leide zu verlassen. Schon während der ganzen Reise arbeitete es innerlich in mir; immer wieder klang mir der Bibelspruch, den uns der alte Geistliche als Geleitwort mit in die Ehe gegeben hatte, ernst mahnend im Ohr: »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch! – Und nur der Tod soll, uns scheiden!« Die schlichte Größe und die hohe Kraft der Entsagung in diesem Wort trieben mich zur Nacheiferung an; entsprach es doch auch meinem innersten Wesen, in Treue festzuhalten, was ich einmal erfaßt habe.

Und als so die Stunde kam, wo ich meine arme, unselige Frau eingeliefert hatte in die Haft der grauen Mauern, die sie nun für immer von der Welt scheiden sollten, als sie die tränenleeren Augen, die das Weinen längst verlernt hatten, zum Abschied auf mich heftete, da brach es aus in mir – und es war entschieden: Ich blieb bei ihr.

Zuerst außerhalb des Hauses; aber bald bot sich die Gelegenheit für mich, den Arzt, der die Anstalt leitete, zu ersetzen. Er war froh, hinauszukommen aus dem freudlosen Berufe. So hatte ich denn wenigstens die Möglichkeit, tagtäglich meine Frau zu sehen und mich ihr zu widmen, soweit dies die Rücksicht auf die Anstaltsordnung zuließ.

Wenn ich anfangs mit starker Opferfreudigkeit dies Leben auf mich nahm, so muß ich nun gestehen, nachdem ich es jahrelang ertragen habe, die Last war schwerer, als ich gedacht, – oft fürchtete ich, darunter zusammen zu brechen.

Wie trostlos war doch dies Verhältnis zwischen mir und meiner Frau. Tag für Tag ihr Leiden ansehen zu müssen, ohne helfen zu können! Wie oft habe ich nicht gewünscht, ein schneller Tod möchte ihr die ersehnte Erlösung bringen.

Wie oft hat sie mich nicht selbst angefleht, ihr zum Ende zu verhelfen! Aber unseligerweise nahm gerade ihre Krankheit einen ganz langsamen Verlauf. So trat denn schließlich bei mir ein, was mußte: Eine immer größer werdende Stumpfheit kam über mich; ich lernte es, ihren Zustand als etwas Unabänderliches mit dumpfer Gleichgültigkeit hinzunehmen. Aber mit dieser Starrheit ging auch überhaupt ein Absterben all der zarten, innerlichen Fäden vor sich, die mich einst mit ihr verbunden hatten.

Was konnte die Unglückliche mir denn auch noch in Wahrheit sein? Sie, die wie lebendig begraben hindämmerte, von aller Lebenslust abgeschnitten, und so allmählich immer mehr verbitterte und verkümmerte! Sie, vor deren leiser Berührung ich in jeder Minute auf der Hut sein mußte – nicht um meinetwillen, bei Gott nicht! Oft habe ich in dunkeln Stunden den Tod auch für mich selbst herbeigesehnt – aber um der andern willen und wegen der Außenwelt, mit der ich ja von Berufswegen in Berührung bleiben mußte. So starb denn nach und nach alles in mir ab, was ich einst für die Unglückliche empfunden hatte – nur das Mitleid blieb übrig.

Aber auch das ward oft auf eine harte Probe gestellt; nicht durch sie selbst – sie ist eine rührend geduldige Kranke, deren stilles Leiden mich bei weichen Regungen oft schon bis zu Tränen gerührt hat – aber durch das unwillkürliche Aufbäumen der zum Ersticken unterdrückten Lebenskraft in mir. Fast selbst wie ein Lebendig-Begrabener, ganz von der Welt abgeschnitten, vegetierte ich ja dahin – ohne jede Anregung von außen, voll hoffnungsloser Düsterheit im Innern. Kein Streben, kein Regen der Kräfte mehr – alles, alles erstarrte, starb allmählich in mir ab.

Und nun, Frau Eva, werden Sie vielleicht auch verstehen und werden vergeben können, was ich an Ihnen gefehlt habe.

Wie ein Verschmachtender war ich, nach Licht und Luft schreiend – da traten Sie in mein Leben. Sie haben es ja selbst erlebt, wie dieses Begegnen mich aus meiner Starre aufgerüttelt hat, wie Sie, dem gütigen Himmelslicht gleich, allmählich wieder all die Lebenskeime in mir haben aufsprießen lassen, die da tot schienen. War es da Sünde, daß ich meine Seele weit, weit diesem segenspendenden Licht öffnete?

Bei meinem heiligen Manneswort! Ich bin mir dessen nicht bewußt gewesen, was dabei in mir vorging. Bis zu der Stunde vorgestern, wo wir im Sturm zusammenstanden, habe ich nichts anderes als die liebe Freundin in Ihnen gesehen.

Dann freilich ist es über mich gekommen in furchtbarem Erschrecken: Ich sah, wie es in Wahrheit um mich stand. Und in derselben Stunde faßte ich auch den festen Entschluß, dem ein Ende zu machen, was nicht sein durfte.

Ich wollte nicht einen kurzen Rausch der Seligkeit – wenn auch alles in mir danach schrie – mit Ihrer abermaligen furchtbaren Enttäuschung erkaufen.

Da kam nun die selige, unglückselige Stunde vorhin, die mir verriet, was Sie für mich empfanden, was Sie um mich erlitten – verdammen Sie mich, aber ich konnte nicht anders. Käme diese Stunde noch einmal – ich müßte wieder so! Denn, Eva, ich liebe Sie.

Und nun schließe ich diesen Brief. Ich habe Ihnen nichts mehr zu bekennen, nichts mehr zu meiner Entschuldigung vorzubringen. Jetzt urteilen Sie. Ich beuge mein Haupt vor Ihrem Spruche. Möge er so ausfallen, daß die Last, die ich durchs Leben zu tragen habe, fortab nicht unerträglich wird.

Ihr

Hjalmar Amthor

 


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