Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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V.

»Sie meinen wirklich, das Wetter wird sich nicht halten?«

»Ich fürchte – nein.«

Dr. Hjalmar Amthor – er hatte sich heute morgen seiner Begleiterin vorgestellt, um der gesellschaftlichen Form zu genügen, wie er mit leisem Lächeln sagte – erwiderte es Frau Söllnitz auf ihre Frage und ließ den Blick zweifelnd zur Ferne schweifen, wo die Berge heute fast bis zum Fuß hinunter in graue Wolkenmäntel gehüllt waren. Er deutete darauf hin:

»Sehen Sie: die Nebelriesen kriechen aus ihren Berghöhlen – um im altisländischen Eddastil zu sprechen – wenn sie uns nur nicht auch den Regen auf den Hals hetzen!«

»Nun – soll uns auch nicht die Laune verderben!« erklärte heiter Frau Söllnitz und wies auf die Pellerine, die hinter dem Sattel aufgeschnallt war. »Sie sind doch auch wasserdicht?«

»Gewiß – kamelshären, imprägniert!« scherzte er, seinen Wettermantel meinend, den er ebenso verpackt hatte.

»Also dann frisch vorwärts!« ermunterte sie. »Es wäre ja freilich bei Sonnenschein schöner gewesen; aber diese schwere Regenstimmung hat auch ihren Reiz. – Machen wir einen Galopp?«

»Hallo – komm!«

Sein Zuruf trieb die Tiere in schneller Gangart vorwärts, und so flogen sie in gestreckten Sprüngen über die Ebene hin. Es war derselbe Landschaftscharakter, wie sie ihn schon vorgestern kennen gelernt hatte. Baum- und strauchlos, in eintönigem Grau dehnte sich das steinige Feld. In sanften Wellen bewegte sich so das Terrain, allmählich steigend, zu den Bergen hin, wo ein grüner Anflug dürftiges Weideland für verkümmerte Rinder und Schafe verriet. Kein Haus, keine Hütte, kein Tier, kein Mensch war zu sehen – wie ausgestorben war die ganze Gegend.

»Empfinden Sie denn auch immer wieder die Traurigkeit dieses öden Landes?« wandte sich Frau Söllnitz an Amthor.

»Nur zu oft,« bestätigte er. »Das Sehnen nach dem deutschen Wald, nach grünen Auen und goldenen Saaten wird oft sogar übermäßig in mir.«

»Wie lange sind Sie schon nicht mehr in die deutsche Heimat gekommen?«

»Zwölf Jahre.«

»Und diese ganze Zeit haben Sie ununterbrochen hier gelebt?«

Er nickte nur ernst.

»Wie schrecklich!« bedauerte sie ihn. Eine Weile hing sie stumm ihren Gedanken nach; dann kehrte sie sich ihm wieder zu. Zögernd kamen ihre Worte:

»Halten Sie mich, bitte, nicht für neugierig – aber ich versetze mich so in Ihre Lage – ich kann es so schwer verstehen, wie sich ein Mann wie Sie gerade einen solchen Wirkungskreis wählen konnte.«

Ein Schatten verfinsterte seine Züge. Er antwortete nicht gleich, und dann nur kurz, wie abwehrend:

»Es war Ehrensache – Pflicht für mich.«

Sie schwieg. Sie merkte wohl, er hatte Gründe, nicht darüber zu sprechen; aber es machte sie doch etwas traurig, daß er so wenig mitteilsam war, nachdem sie ihm gestern so viel Vertrauen geschenkt hatte.

Er fühlte das wohl, und mit wärmerem Ton wandte er sich nach einigen Augenblicken an sie:

»Verzeihen Sie, wenn ich mich nicht weiter über diesen Punkt ausspreche. Es ist nicht Mangel an Vertrauen,« er blickte ihr voll ins Gesicht, »ich könnte Sie in mein Innerstes sehen lassen – wahrhaftig! Aber die Worte kommen mir nur schwer über die Zunge, wenn es sich um mich handelt, und vollends hier, wo ich an Dinge rühren müßte, die für mich tot sein sollen.«

Seine ehrliche Art und die Versicherung seines Vertrauens zu ihr taten ihr herzlich wohl; aber doch schmerzte es sie, daß sie ihm nicht ein wenig geben konnte, so wie er ihr gestern abend mit seinem teilnahmsvollen Anhören und Mitempfinden.

»Sie sind sehr stolz und unnahbar,« klagte sie. »Ich glaube, Sie haben den Ehrgeiz, alles mit sich allein abzumachen, und brauchen gar keinen Menschen, der Ihnen zur Seite steht.«

»Sie überschätzen mich,« gestand er, und ein tiefer Atemzug entrang sich ihm. »Auch ich habe meine schwachen Stunden, wo ich die Hand suchend nach einer Freundeshand ausstrecke, die mich in stummem Verstehen drückte.«

»Wirklich?« Ihr Blick suchte den seinen. Es kam plötzlich so warm über sie, ein tiefes Mitleid und der treibende Wunsch, daß sie dem einsamen Manne da diese Freundeshand bieten könnte. Die Worte drängten sich ihr auf die Lippen, ihm das in ihrer impulsiven Art zu sagen; aber frauenhafte Scheu verschloß ihr den Mund.

Er verstand, was in ihr vorging, und ein warmer Blick dankte ihr, doch keines von ihnen sprach ein Wort. Ihren Gedanken nachhängend, ritten sie, jetzt wieder im Schritt, weiter.

Von Zeit zu Zeit richtete Dr. Amthor sein Auge auf sie, die ein wenig vor ihm ritt. Trotz der geraden Haltung im Sattel hatte ihre Gestalt in ihren Linien, in dem weichen Nachgeben bei den Bewegungen, doch etwas sehr Anmutiges. Unter dem Filzhütchen hing ihr im feinen Nacken der schwere, tiefe Knoten ihres reichen Braunhaars, und im halben Profil sah er ihr sympathisches Gesicht mit den schönen dunkeln Augen, die für ihn etwas Rührendes hatten. Im wohltuenden Gegensatz zur Sicherheit ihres Auftretens, das die Frau von Welt bekundete, lag in ihren Blicken bisweilen etwas so kindlich Bittendes, Vertrauensvolles – wenigstens wie sie ihn anzuschauen pflegte.

Es war die erste Frau, wirkliche Dame, die Amthor seit langen Jahren sah. Er verkehrte kaum in den Familien Reykjaviks, und die Frauen, denen er dort gelegentlich begegnet war, hatten in ihrer ihm fremden, anspruchslosen und zugleich geistig wenig entwickelten Art, auf ihn, der anderes gewöhnt war, kaum irgend einen Eindruck gemacht. So hatte er denn, soweit er überhaupt Verkehr unterhielt, fast stets nur Männer um sich gesehen, und diese Berührung nun mit Frau Söllnitz war wirklich ein Ereignis für ihn.

Frauenanmut hatte auf Amthor stets eine große Wirkung ausgeübt. Gerade weil er in seiner Art oft zu männlicher Schroffheit neigte und an Männern auch nur ein ihm verwandtes Wesen schätzte, liebte er das echt Weibliche und Weiche an den Frauen als die natürliche Ergänzung zu dem eigenen Charakter, und nur im Umgang mit solchen zeigte er die in ihm selbst schlummernden zarten Seelenregungen, die er schamhaft vor Männeraugen verschloß.

Im Anfang ihrer Bekanntschaft hatte er Frau Söllnitz daher auch mit einer starken Zurückhaltung, ja mit leis ironischer Kritik gegenübergestanden; mußte er sie doch nach allem Äußeren für eine jener Weltdamen halten, die ihm in tiefster Seele zuwider waren. Um so sympathischer war ihm aber nun ihr Wesen, wo sie sich ihm zu erkennen gegeben hatte, und unmerkbar spann ihn immer mehr der ganze Zauber feinen Frauenwesens ein, der von ihr ausging – dieser Zauber, den er hier in seiner freudlosen Einsamkeit so lang entbehrt hatte und daher nun doppelt froh als eine Wohltat empfand.

Drei Stunden oder mehr saßen sie nun schon so im Sattel, zumeist in flottem Galopp bergan sprengend. Sie waren aus der weiten Ebene längst herausgekommen und bereits in das Tal gelangt, das ihr Ziel war. Ein anderes, freundlicheres Bild bot hier die Natur dem Auge. Ein fruchtbarer, samtweicher Rasenteppich von frischem Smaragdgrün deckte den Boden, auf dem hier und da, wild umhergestreut wie von spielender Riesenhand, gewaltige Felsblöcke und Trümmer lagen. Häufig ging das Grün des Grases in ein Geflimmer von Gelb, Lila oder Blau über, wo üppiges Blütengewucher in seltener Dichtigkeit den Boden überzog. Zu beiden Seiten sah man die Felsflanken der Talwände aufsteigen, in wild zerrissenem Geklüft, bald aber den Blicken durch Nebelvorhänge entzogen.

Auch Tierstimmen schollen hier belebend dann und wann aus unsichtbarem Versteck an ihr Ohr: der dumpfe Trommellaut der Rohrdommel oder der klagende, weiche Ruf des Regenpfeifers, horch, und jetzt – klang es nicht wie fernes Kuhbrummen, tief und zitternd, zu ihnen hinüber?

Amthor nickte bestätigend:

»Ja, wir nähern uns dem Hof des Bauern, dem dieses Tal gehört, Sigmund Gudmundson, ein altes Geschlecht, das seit undenklichen Zeiten auf dieser Scholle siedelt. Wenn es Ihnen recht ist, nehmen wir da unser Frühstück ein.«

»O, das ist ja herrlich!« freute sie sich. »Bei den Nachkommen der alten Wikinger zu Gast zu sein!«

»Das heißt, Sie dürfen sich keinen übertriebenen Erwartungen hingeben,« warnte er sie. »Die Leute sind hierzulande äußerst eigenartig, von der alten Reckenhaftigkeit finden Sie nichts mehr, und sie hausen mehr als primitiv. – Nun, Sie werden ja bald selbst sehen.«

Nach einer Viertelstunde wurden hinter einer Talbiegung vier nebeneinanderstehende niedrige Gebäude bemerkbar, die, an die Bergwand gelehnt, zum Teil in diese hineingebaut, den Ankömmlingen die kleinen, spitzen Giebel zukehrten. Es waren armselige Hütten, Wände und Dächer mit Rasen gedeckt, nur zwei ein wenig besser, mit Wellblech- oder Bretterwänden, je ein Fensterchen neben der Tür zeigend.

»Ah, Stallgebäude! – wohl ein Vorwerk des Hofes?«

Amthor lacht belustigt auf: »Der Hof selbst!«

»Wie? Diese Baracken?«

Er nickte. »Und es ist sogar ein ansehnlicher Bauernhof.«

Frau Söllnitz blickte kopfschüttelnd auf das dürftige Anwesen, dem sie sich nun schnell näherten, von Hundegekläff begrüßt. »So hausen ja bei uns nicht einmal die Tagelöhner!« staunte sie.

»Sie dürfen eben nicht vergessen: die Kultur ist hier in vielen Dingen an die tausend Jahr' stehen geblieben. Auf vielen Einsiedelhöfen weiter drinnen auf der Insel trägt der Bauer noch heutzutage selbstgefertigte Hemden, Kleider, Hüte und Schuh, wie einst seine Ahnherren zur Eddazeit.«

Sie waren inzwischen in das Tun, den eingefriedeten Grasplatz vor dem Häuschen, eingeritten; aber trotz des wütenden Gebells des spitzähnlichen Hundes von der offenen Haustür her zeigte sich kein Mensch.

»Man scheint hier nicht ängstlich zu sein!« scherzte Frau Söllnitz und sah neugierig nach den Fenstern hin, die kahl, ohne jeden Gardinenschmuck waren.

Amthor schwang sich vom Pferde und kam nun zu ihr.

»Du lieber Gott! Was wär' hier auch zu holen? Außerdem gibt es auf Island überhaupt keine Diebe und Vagabunden. – Bitte!« er wollte ihr beim Absitzen behilflich sein, aber schon war sie aus dem Sattel gesprungen.

»Ein glückliches Land!« lachte sie und klopfte dem Tier, das sie so brav getragen hatte und trotz des scharfen Tempos kein nasses Haar zeigte, den gedrungenen Hals. »Aber es scheint niemand im Haus zu sein?« meinte sie, auf die still daliegenden Baulichkeiten deutend.

»Am Ende wohl möglich,« gab er zu. »Sie sind vielleicht alle im Heu.«

Er nahm die beiden Tiere und führte sie zu dem Drahtgehege der Einfriedigung, wo er sie mit den Zügeln an einen Pfahl band.

»Das Tun ist heiliger Boden,« erklärte er, lächelnd auf den Rasenplatz deutend. »Es wäre fast ein Kriegsfall, wollten wir unsere Rosse hier weiden lassen.«

»Um Gottes willen!« scherzte sie, die Reitgerte schwingend. »Unsere Bewaffnung ist nicht gerade glänzend. Möge Thor seinen Hammer lieber ruhen lassen!«

»Wie eddafest Sie sind!« staunte er, sie ansehend, während er mit ihr zu der Schwelle schritt. »Noch Schulreminiszenzen?«

Sie schüttelte lachend den Kopf. »Keine Ahnung! Ganz neue Weisheit – frisch vom Büchersteward bezogen: Führer nach Island, Einleitung. – Darüber hinaus bin ich leider nicht gekommen.«

Sie standen jetzt vor der Tür des einen der beiden Wohnhäuser, und Amthor pochte an; es war nicht ganz klar, ob etwas wie ein Laut von innen scholl, aber es war ihm so, und so öffnete er.

Er trat in eine kleine Stube, und an ihm vorbei sah sie neugierig hinein. Es war ein ganz kahler, schmuckloser Raum mit weißgetünchten Wänden. An jeder Wand stand ein Bett und auf jedem der Betten lag, angekleidet, ein Mensch – drei Männer in Hemdsärmeln und eine Frau. Ohne sich zu rühren, blieben sie unbeweglich liegen, ohne die mindeste Spur von Überraschung, Verlegenheit oder Neugierde; sondern sahen mit einem völlig gleichgültigen Blick, als ob sie das alles gar nichts anginge, gelassen auf die Fremdlinge, die denn doch nicht zu den Alltagserscheinungen auf Island gehörten.

Dr. Amthor lüftete seine Mütze und richtete einige Worte an sie, wie es schien, mehrere Fragen. Sie verstand den Sinn dieser isländischen Ausdrücke nicht; aber das merkte sie deutlich, daß die ganze Antwort der sonderbaren Leute da aus einem einsilbigen kurzen »Ja« oder langgedehnten »Jo« bestand.

Ihrem landeskundigen Führer schien das aber völlig zu genügen. Denn mit einer dankenden Bewegung verabschiedete er sich schließlich von den vieren, die nach wie vor liegen blieben und alsbald die Tür sich wieder hinter den Besuchern schließen sahen.

Frau Söllnitz bezwang sich mit Mühe noch einen Augenblick; aber kaum war sie wieder draußen auf dem Grasplatz, so brach sie in ein nur halb unterdrücktes Lachen aus.

»Nein! Das war ja kostbar! Was waren denn das nur für sonderbare Heilige? Hielten die Leutchen gemeinsam ein Krankenlager ab, oder was machten sie denn in aller Welt nur?«

»O, nichts weiter als eine kleine Ruhepause in der Heuernte,« erklärte auch er heiter. »Sie waren, des drohenden Regens wegen, fast die ganze Nacht draußen bei der Arbeit gewesen.«

»Ah so! Na, nun wird mir ja erst die Situation verständlich. Aber das Phlegma dieser Leute ist ja unbezahlbar! Ist solch gemeinschaftliche Schlafstube hier übrigens Landessitte?«

»Vielfach – ja.«

»Nicht möglich!« lachte sie unbefangen. »Aber Sie haben recht, die Kultur ist hier wirklich stehen geblieben. – Doch was wird nun aus unserem Frühstück? Die guten Leutchen – liebenswürdig waren sie wahrhaftig nicht! – haben uns auf gut deutsch doch sozusagen hinausgeworfen!«

»Nicht im entferntesten, ganz im Gegenteil! Wir sind höflichst eingeladen, bei Herrn Gudmundson und Frau Gemahlin einen Löffel Suppe zu essen.«

»Wie?« Ungläubig staunte sie ihn an.

»Ja, ja!« nickte er. »Freilich auf isländische Art. Das heißt: Unsere Wirte bleiben ruhig drüben in ihren Betten liegen, und wir werden unseren Imbiß allein in der Gaststube einnehmen.«

Frau Söllnitz lachte hell auf.

»Das ist ja einzig! – Bewirtet man seine Gäste hier immer auf solch originelle Art?«

»Doch nicht,« entgegnete er ernsthafter, mit ihr nach einem nahen Nebenbau schreitend, aus dem eine Rauchwolke stieg. »Im Gegenteil, die Gastfreundschaft steht hier noch hoch im Ansehen. Es ist eben ein Ausnahmefall; auch werden wir natürlich unseren Imbiß bezahlen, wir müssen uns hier wie im Wirtshaus betrachten. – Nun, hier werden wir wohl die Magd attrapieren.«

Er öffnete die Tür der kleinen Hütte, und sie blickten in einen völlig finsteren, verräucherten Raum, aus dem ihnen ein beißender Rauch von Torffeuer entgegenschlug. Rotflackernde Glut warf von einem niederen offenen Herde aus ihre brennenden Lichter auf eine alte Frauensperson, die in einem mächtigen Kessel rührte, der in Ketten vom Deckenbalken hing. Eine schwarze Katze hockte, den dicken Pelz behaglich an der Glut wärmend, auf der Ecke des Herdes und wandte nun die großen, grünschillernden Augen auf die Eintretenden.

»Die reine Hexenküche!« lachte Frau Söllnitz; alles hier brachte sie in eine animierte, abenteuerliche Stimmung. »Das ist ja geradezu wundervoll hier, auf diesem verwunschenen Hofe!«

Beim Schall der fremden Laute erst sah die Alte von ihrem Kessel auf; sie mochte schwerhörig sein, denn Dr. Amthor sprach nun sehr laut mit ihr. Endlich schienen sie sich verständigt zu haben. Die Alte nickte, zog den Kessel hoch, wischte sich die Hände an der Schürze ab und verschwand nach hinten, im gähnenden Dunkel des Raumes, der dort in einen Stall überzugehen schien.

»So!« erklärte Amthor, sich zur Tür wendend. »Kommen Sie. In einigen Minuten werden wir alle Schätze der isländischen Speisekammer auf dem Tisch haben, wir wollen inzwischen immer in das Gastzimmer gehen.«

Er führte sie, mit den Landesgewohnheiten vertraut, in das zweite, ansehnlichere Häuschen, und hier traten sie in eine ziemlich geräumige Stube, die außer zwei Betten noch eine Truhe, ein Wandspiegelchen, einen Tisch und ein paar Bänke barg.

»Hier werden wir dejeunieren. Doch sehr nett, nicht?« lustig sah er sie an.

Sie musterte, im ersten Augenblick etwas enttäuscht, den primitiv eingerichteten Raum; dann aber fand sie sich gleich in die Situation.

»Großartig!« scherzte sie. »Mir werden also im Salon à part speisen.«

Er sah sie froh an. Was war sie für eine prächtige Reisekameradin. Was für ein herrlicher Tag war das heute!

Er wollte ihr das sagen, aber da trat schon die Alte ein und setzte verschiedene Schüsseln und Töpfe, Messer und Gabeln auf den Tisch. Dann ging sie wieder.

Frau Söllnitz sah ihn fragend an:

»Ist etwa schon fertig serviert?«

Er warf einen Blick auf die Herrlichkeiten.

»Es scheint so!« Dann machte er ihr eine scherzhaft tiefe Verbeugung. »Darf ich den Vorzug haben, gnädige Frau, Sie zur Tafel zu führen?«

»Sehr angenehm!« dankte sie, auf seinen Ton eingehend; aber indem sie schon die Fingerspitzen auf seinen Arm legte, kam ihr ein anderer Gedanke:

»Wollen wir nicht unsere Tafel ein bißchen dekorieren?« Sie sah durchs Fenster auf den blumigen Anger. »Es wäre doch netter, nicht?«

»Aber gewiß!« stimmte er bei, und wie er mit ihr wieder hinaustrat, rief er, die Pferde erblickend, aus: »Herrgott! Wie gut, daß Sie auf den Gedanken gekommen sind. Ich habe ja gar nicht mehr an die Schätze in meiner Packtasche gedacht!«

»Ein schöner Reisemarschall!« neckte sie ihn. »Nun flink! Holen Sie das versäumte nach!«

Er machte sich an seinem Tier zu schaffen, und als er, einige Minuten später, beide Hände vollbeladen, wieder in das Gastzimmer eintrat, da staunte er: die kahle Tischplatte war mit Streublumen belegt, Fleisch, Fisch, Brot, Butter und Käse lagen auf großen grünen Blättern auf den Tellern, und einer der Töpfe war zur Blumenvase gemacht worden, aus der mit nickenden Köpfen Krokusse, leuchtende Ranunkel und Vergißmeinnicht niederhingen. Der vorhin so ungemütlich ausschauende Frühstückstisch war so mit einemmal ganz einladend geworden.

Bewundernd schaute er, herzutretend, auf ihre schlanken, weißen Finger, die eben noch eine Schüssel zierlicher anordneten.

»Was Sie für Feenhände haben! Sie können die Schönheit aus dem Nichts zaubern.«

Sein bewundernder Blick rief einen rosigen Hauch auf ihrem Gesicht hervor. Sie sah unendlich liebreizend aus, wie sie ihn so mit glücklich strahlenden Augen anschaute

»Ja? Gefällt es Ihnen ein bißchen? – Aber nun zeigen Sie! Was bringen Sie denn da noch alles für Herrlichkeiten?«

Sie nahm ihm seine Schätze ab: Wurst, Cornedbeef, Mixedpickles, Lachs in Gelee, Rebhuhnpain, Tafelschokolade und eine Flasche Portwein.

»O, Sie Verschwender!« schalt sie. »Sie haben ja wohl ganz Reykjavik ausgekauft? Großartig! wir werden ein wahres Schlemmermahl halten. – Aber kommen Sie schnell – ich hab' einen wahren Wolfshunger vom Reiten!«

Er ließ sich ihr gegenüber auf der Bank nieder und schaute ihr schweigend, in stillem Behagen zu, wie sie mit ihren zierlichen Händen ihm die Brötchen zurecht machte.

»Was haben Sie denn? Sie sagen ja gar nichts!« von ihrer Arbeit aufblickend, sah sie zu ihm hinüber.

»Ich könnte Ihnen immerfort so zusehen,« gestand er offen. »Sie verbreiten eine solche Sphäre von Ruhe und Anmut um sich.«

Wieder flog eine leise Verwirrung über ihre Züge, so daß sie sich schnell über eine Büchse beugte, ihm noch davon vorzulegen.

»Danke, danke – um Gottes willen!« wehrte er mit komischem Entsetzen ab. Zu ihrer aufsteigenden Verlegenheit hatte sie ihm allerdings den ganzen Teller voll Mixedpickles gelegt. »Ich bin doch kein Engländer! Das ist ja für einen gewöhnlichen Sterblichen eine nahezu tödliche Dosis.«

Auch sie stimmte herzhaft in sein Lachen mit ein, so schnell die Befangenheit wieder verlierend, wie ein paar gute Kameraden schmausten und scherzten sie dann zusammen. Es war eine wundervolle Stunde, die sie so in dem ärmlichen Stübchen verbrachten. Angeregt obenein von dem feurigen Wein, schlossen sie sich immer rückhaltsloser voreinander auf, und als sie das Mahl aufhoben, da war es ihnen, als ob sie schon jahrelang gute Freunde wären.

In ihrer fröhlichen Laune hatten sie gar nicht auf das Wetter draußen geachtet. Nun aber sahen sie, beim Hinaustreten zu den Pferden, daß die Nebel von den Berghängen her sich dicht zusammengebraut hatten und tiefer ins Tal hineintrieben.

»O – das ist bös!« bedauerte Amthor, Umschau haltend. »Nun wird der Regen auch nicht mehr lange auf sich warten lassen, wir müssen umkehren.«

»Ach nein!« bat sie. Sie wollte sich diesen herrlichen Tag nicht verkürzen lassen, wo sie einmal, frei von allem gesellschaftlichen Zwang, hinweggehoben über alles Elend des Lebens, ohne die stete Scheu vor einem Mißverstandenwerden und geheimen Nachstellungen, mit einem sympathischen Menschen zusammen sein durfte, dem sie vollstes Vertrauen entgegenbrachte. »wir werden uns doch vor dem bißchen Regen nicht fürchten?«

Wieder mit jenem kindlichen Ausdruck in den Augen blickte sie ihn an. Auch er hätte ja so gern diese schönen Stunden unverkürzt ausgekostet; aber dennoch erwiderte er:

»Nicht vor dem Regen, aber vor dem Nebel! Sie kennen seine Gefahren hier nicht.«

»Ach, es wird ja nicht gleich so schlimm werden!« beschwichtigte sie ihn. »Wenn wir uns auch ein bißchen verirren sollten – bitte, bitte! Lassen Sie uns noch weiter reiten – ein bißchen wenigstens!« bettelte sie.

Da gab er nach:

»Nun gut! Sehen wir, wie weit wir kommen!«

»O, wie lieb von Ihnen!« dankte sie ihm in heller Freude und eilte zu ihrem Pferde. Sie versuchte, sich allein in den Sattel zu schwingen; aber da stand er schon bei ihr und hielt ihr seine gefalteten Hände zum Aufsteigen hin:

»Bitte!«

Leicht setzte sie den Fuß hinein und, sich flüchtig auf seine Schulter stützend, hob sie sich in den Sattel. Es war nur eine sekundenlange Berührung, aber doch durchströmte es ihn so eigen, wie er den zierlichen Fuß in seinen Händen und ihre weichen Finger auf seiner Schulter spürte. Ein Gefühl, gemischt von einem süßen, heimlichen Zauber und einer ehrerbietigen Verehrung ihrer Frauenschaft zugleich.

Dann saß auch er auf, und langsam ritten sie vom Hofe.

Fast eine Stunde waren sie wieder unterwegs, aus dem tiefeingeschnittenen Tal abgeschwenkt in eine seitliche, flache Bodenversenkung, da der immer dichter werdende Nebel ein Vorwärtsdringen zu dem Talschluß mit seinen Schneegruben hin heut doch verbot. Aber auch hier wurde der kalte, nässende Nebel immer lästiger. Sie hatten sich zwar schon eine ganze Weile in ihre Wettermäntel gehüllt; aber dennoch schlich jetzt ein leises Frösteln über Frau Söllnitz. Das viele Geröll am Boden gestattete ja nur ein Reiten im Schritt.

Dr. Amthor bemerkte es.

»Nun kehren wir aber bestimmt um!« erklärte er fest. »Sie sollen sich doch nicht noch hier erkälten, wollen Sie nicht meinen Mantel noch nehmen?« Und er löste schon die Spange.

»Auf keinen Fall!« lehnte sie aber energisch ab. Gegen das Umkehren erhob sie aber nun keinen Widerspruch mehr; es war wirklich ungemütlich rauh geworden, und man sah ja auch vor Nebel kaum noch etwas.

So bogen sie denn nach rechts ab, in der Richtung, wo sie – nach Amthors Meinung – auf einen Pfad kommen mußten, der sie direkt nach Reykjavik zurückbringen sollte. Sie ritten über eine steinige, weite Halde, auf der bald selbst die von den Pferdehufen ausgetretenen Saumpfade verschwanden. Ganz in der Öde waren sie hier, heute noch trauriger in dem undurchsichtigen Nebelgrau, das sie ringsum einspann.

In ihrer lebhaften Unterhaltung achteten sie aber nicht darauf, bis Amthor einmal die Uhr zog. Er erschrak.

»Was? Schon halb drei? – Da müßten wir ja eigentlich schon längst auf unserem Wege sein! Wir sind allerdings viel Schritt geritten bei unserem Geplauder. – Bitte, nun aber einen tüchtigen Galopp! Sie können doch noch?«

»Ich?« lachte sie. »Noch den ganzen Tag, wenn's not tut.«

»Um so besser! Vielleicht tut es not,« setzte er bedeutsam hinzu, einen ungewissen Blick um sich werfend. Die Gegend hier, soweit er bei dem Nebel sehen konnte, kam ihm doch ganz merkwürdig vor.

»O – verirrt?« fing sie seinen Blick auf, und ihre Augen leuchteten abenteuerbegierig auf. »Das wäre ja herrlich!«

Er antwortete nicht. Statt dessen trieb er mit der langstriemigen Lederpeitsche ihr Pferd zu schärfstem Tempo an.

Erst machte es ihr das größte Vergnügen, so dahinzufliegen, in ebenmäßig aufsetzenden, wiegenden Sprüngen; wortlos, nur den taktmäßigen Hufschlag und das Janken des Sattels wahrnehmend und mit leichter Hand den Zügel abwechselnd anschraubend und wieder nachgebend – ein Dahinsprengen ohne Unterbrechung – eine viertel, eine halbe Stunde, und noch länger, immer im gleichen Tempo.

Aber dann ließ das Vergnügen bei ihr etwas nach. Es wurde nachgerade ein bißchen langweilig, dies Jagen so im Nebel. Ja, wenn man noch ab und zu etwas gesehen hätte; aber es wurde ja immer schlimmer, kaum fünf, sechs Meter weit konnte man noch blicken. Wie lange sollte das nun wohl so gehen?

»Sind wir noch immer nicht bald auf unserem Wege?« wandte sich die junge Frau an ihren Begleiter, mit dem sie seit Minuten überhaupt kein Wort mehr gewechselt hatte.

Er zuckte die Achseln; dann aber mäßigte er das Tempo. Seine Miene war ärgerlich:

»Ich muß offen bekennen, ich weiß nicht, wo wir sind.«

Diesmal weckte das Wort kein freudiges Echo mehr bei ihr. Seine Bemerkung von vorhin fiel ihr ein, von den Gefahren des Nebels hierzulande. Allmählich begann sie ihre unbesonnene Bitte zu reuen.

»Aber Sie trauen sich doch zu, wieder auf den richtigen Weg zu finden?«

»Das gewiß!« Er sah sie an. »Sie dürfen ohne Sorge sein. Heut abend sind Sie sicher wieder auf Ihrem Schiff.«

»Nun, dann ist's ja nicht so schlimm,« sie lächelte wieder. »Ich dachte schon, wir müßten die Nacht vielleicht im Freien kampieren.«

Wieder trieben sie die Tiere an, abermals ein langer Galopp, da aber parierte Amthor plötzlich kurz.

»So hat das keinen Zweck,« erklärte er. »Wir jagen ja bloß die armen Pferde ab.«

»Was aber dann?« fragte sie, ihn besorgt ansehend; eine leise Angst begann in ihr aufzusteigen, wo sie nun auch ihn anscheinend ratlos sah.

Er überlegte einen Augenblick. Dann richtete er sich entschlossen im Sattel auf.

»Ich muß versuchen, mich zu orientieren. Bitte, bleiben Sie hier einige Minuten ruhig stehen. – Ganz ohne Sorge!« Er hatte ihre ängstliche Miene bemerkt und holte nun eine kleine Signalpfeife aus seiner Tasche. »Bitte, nehmen Sie und geben Sie mir von Zeit zu Zeit ein Zeichen, daß ich die Richtung zu Ihnen nicht verliere. Ich habe überdies ja noch meinen Kompaß bei mir. In längstens zehn Minuten bin ich wieder bei Ihnen. – Sie sind doch nicht bange?«

Er blickte sie lächelnd, aufmunternd an, und seine Sicherheit flößte auch ihr wieder im Moment Mut ein.

Sie schüttelte, gleichfalls wieder lächelnd, den Kopf. »Bleiben Sie nur nicht zu lange!« bat sie.

»Zehn Minuten – längstens!« versicherte er nochmals und ritt schon ab.

Sie schaute ihm nach. Nach wenigen Schritten schon lösten sich die dunklen Umrisse von Roß und Reiter verschwimmend auf, und jetzt hatte sie der Nebel ganz verschlungen, wie ein gefräßiges Ungeheuer. Ein sonderbares, beklemmendes Gefühl überfiel sie alsbald, wie sie nun so ganz verlassen in der Einöde dastand. Selbst der Hufschlag, den sie ein paar Augenblicke nach dem Verschwinden der Gestalten wenigstens noch wahrgenommen hatte, war nun auch verhallt.

Stille, ganz lautlos war es um sie; eine ängstigende Totenstille. Unruhig flog ihr Blick umher; aber da war nichts, an das er sich klammern konnte. In einem kleinen Umkreis von wenigen Schritten sah sie den steinigen, leblosen Boden, dann aber hüllte sie ringsum, undurchdringlich für Auge und Ohr, das Nebelmeer ein. Ja, wie ein unendliches Meer schlug es um sie die graubleichen Wogen. Ihr war, als stände sie auf tiefem Meeresgrunde und die unermeßlichen, wuchtenden Wassermassen um sie und über ihr drohten sie zu ersticken.

Sie atmete schnell, angstvoll – ihr war wirklich, als bekäme sie keine Luft mehr in diesem Nebel.

Allerlei peinigende Vorstellungen schossen in ihr auf und jagten einander – Erinnerungen aus fernen Jugendtagen, aus späterer Zeitungslektüre, wo sie von Leuten gelesen, die sich im Hochgebirge oder in der Wüste verirrt hatten und nach unendlichen Qualen hilflos verendet waren. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, sie meinte sein lautes Pochen zu hören, war es ihr nur so, oder drangen die Nebel immer dichter auf sie ein?

Mit geängsteten Augen starrte sie in das furchtbare, leere Grau um sich herum, wie ein Schwindel packte es sie plötzlich. Ihr war, als hätte alles um sie her aufgehört, Boden, Luft, die ganze Erde – als wäre sie, losgelöst vom Raum, draußen in der Unendlichkeit, im Nichts – haltlos, im Begriff, im nächsten Moment ins Bodenlose zu versinken.

Unwillkürlich riß ihre Hand am Zügel, so daß ihr Pferd einen Schritt zurücktrat. Diese Bewegung brachte sie wieder zu sich. Mit einem tiefen Atemzug richtete sie sich auf. Gottlob, noch hatte sie ja festen Boden unter den Füßen! – Aber wo blieb ihr Begleiter, ihr Führer durch diese Einöde? Wie lange mochte sie schon auf ihn geharrt haben? Sie hatte keine Uhr bei sich, und es schien ihr schon eine endlose Zeit verstrichen zu sein seit seinem Weggehen, wie, wenn er sich nun verirrt hätte, den Weg zu ihr nicht mehr zurückfände, wenn sie hier verlassen, verloren –?

Der kalte Angstschweiß trat ihr auf die Stirn. Ihre Rechte wollte in krampfhafter Bewegung nach der Schläfe fahren, da fühlte sie plötzlich etwas Hartes in der Hand. Sie öffnete die Finger – die kleine Pfeife, die er ihr gegeben hatte! Sie hatte in ihrer Aufregung gar nicht daran gedacht.

Wie ein Gefühl der Erlösung kam es über sie, und eilends setzte sie das Instrument an die Lippen; schrill gellte der helle Laut hinaus in die Weite. Er mußte ihn ja hören. Gespannt lauschte sie – aber alles blieb still. In neu erwachender Angst pfiff sie noch einmal, diesmal aus Leibeskräften, daß ihr der Schall schmerzhaft in die Ohren schlug, und wieder horchte sie hinaus.

Da! War es nicht, als ob ihr von fern, fern her ein ganz matter, dumpfer Ruf antwortete?

Wieder ihr Pfiff, und wieder die Antwort, diesmal schon von näher, und noch einmal – und dann vernahm sie den Hufschlag seines Pferdes.

»Hier – hier!«

Ein erlösender, freudiger Schrei war es, mit dem sie ihn zu sich rief. Gott sei Dank, da war er wieder! – Aus dem Nebel tauchte die Reitergestalt plötzlich wieder vor ihr auf.

Sie trieb ihm ihr Pferd entgegen

»Gottlob, daß Sie wieder da sind.«

Mit warmem Blick sah er sie an:

»Sie haben sich doch geängstigt?«

»Schrecklich!« gestand sie, und, wie jetzt noch Schutz bei ihm suchend, lenkte sie ihr Tier dicht neben ihn.

Ein eigenes Gefühl beschlich ihn. Mit einem fast zärtlichen Blick umfaßte er ihre Gestalt. Es machte ihn froh, daß sie sich so vertrauend zu ihm flüchtete und an seiner Seite so geborgen fühlte.

»Nun bin ich ja wieder bei Ihnen,« tröstete er. »Nun sollen Ihnen die Schreckensgespenster nichts mehr anhaben!«

Dankbar sah sie ihn an. Wie gut er zu ihr war.

»Und haben Sie den Weg gefunden?«

»Den richtigen, den ich suchte, allerdings noch nicht; aber doch überhaupt einen Weg, der vermutlich zu irgend einem Gehöft führt. Da müssen wir dann weiter sehen. Sie können wirklich ganz ruhig sein – ich bringe Sie wohlbehalten wieder heim.«

»O, wenn Sie nur bei mir sind! Dann habe ich keine Furcht mehr. Nur nicht noch einmal allein lassen – bitte!«

Mit warmem Aufleuchten tauchte er seine Blicke in die ihren. Am liebsten hätte er ihre Hand an sich gedrückt, wie sie so bittend sich gleichsam an ihn schmiegte mit ihrer weichen Anmut. Sie senkte unter seinem fast liebkosenden Blick die Augen; so hörte sie nur noch leise, aber sehr ausdrucksvoll seine Worte an ihr Ohr schallen:

»Nein! Ich bleibe jetzt bei Ihnen. Sie sollen sich nicht mehr ängstigen.«

Eine zärtliche Sorge um sie klang deutlich aus seiner Stimme. Sie vernahm es nur zu wohl, und ein wohlig-süßes Gefühl überkam sie. Wie gut das tat, diese zarte Fürsorge, dies tröstliche Bewußtsein, sich in starkem, sicherem Schutz zu befinden! Träumend vor sich hinblickend, gab sie sich im Weiterreiten ganz diesem sanft einlullenden Gefühl hin.

Amthor hatte richtig gemutmaßt; der schmale, aber ziemlich begangene Pfad führte in der Tat zu einem kleinen Bauernhof. Nach einigem Verhandeln bewogen zwei von Amthor verheißene Kronen den Bauer, den Reisenden seinen halbwüchsigen Sohn als Führer mitzugeben. Der Junge griff nach einem Zaum und der Peitsche, holte sich von der nahe gelegenen Weide sein Pony, schwang sich auf dessen nackten Rücken, und dann jagte der kleine Zug in donnerndem Galopp davon, daß die Funken stoben.

Es war wirklich erstaunlich, was die doch schon stark verbrauchten Pferde der beiden hergaben. Mit zäher Ausdauer hielten sie sich dicht hinter dem voraufgehenden ganz frischen Kameraden, der die Führung übernommen hatte. Ein fast ununterbrochener Galopp brachte so die Drei nach Reykjavik zurück.

Vor den ersten Häusern entließ Amthor den Führer mit seinem Solde, und in gemäßigtem Tempo trabten sie nun wieder zu zweit dem Hafen zu. Er zog die Uhr: »Sechs – Sie kommen also noch rechtzeitig zum Diner an Bord.«

»Ja – Sie haben Ihr Wort eingelöst,« lobte sie. »Und es war doch wundervoll – nun, wo alles glücklich überstanden ist. Dieser Ritt wird mir unvergeßlich sein!«

Ihre Worte brachten ihm mit einem Male wieder zum Bewußtsein, wie nahe ihr Abschied bevorstand.

»Morgen um diese Zeit,« gab er seinen Gedanken Ausdruck, »schwimmen Sie schon draußen auf dem Meer – auf Nimmerwiedersehen!«

»Wahrhaftig – ja!« Auch sie befiel eine schwere Stimmung. »Wie traurig,« fügte sie leiser hinzu. »Wir hatten uns so gut verstanden. – Sollte es denn wirklich kein Wiedersehen für uns geben?« Bittend sah sie ihn an.

Er schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf.

»Sie werden schwerlich ein zweites Mal nach Island kommen.«

»Das allerdings wohl kaum – aber Sie doch vielleicht einmal wieder nach Deutschland?«

Er zuckte schwermütig die Achseln, »Wer weiß! Mein Beruf hält mich hier fest. Freilich, es zieht mich schon lange nach der Heimat. Einmal wieder den deutschen Wald zu sehen – was gäbe ich drum!«

»Aber das muß doch einzurichten gehen, daß Sie einmal abkommen!« redete sie eifrig auf ihn ein. »Jeder Mensch, und besonders Sie in Ihrem schweren Beruf, haben doch einmal eine Ausspannung nötig. Und ein Vertreter wird sich schon finden lassen.«

»Das wohl schon,« gab er zu. »Aber es ist da auch noch etwas anderes –« antwortete er ausweichend, mit traurigem Ausdruck. »Und vor allem: die Reise ist zu weit, die Verbindung zu schlecht. Ich würde ein paar Monate fort sein müssen – und das geht nicht!« entschlossen erklärte er es.

»O, wie traurig, wie jammerschade!« klagte sie; sie hatte sich schon in Hoffnungen gewiegt. Schweigend legten sie, jeder in ernstes Sinnen versunken, weiter ihren Weg zurück.

Plötzlich aber fuhr sie auf, mit einem neuen Aufleuchten im Gesicht.

»Aber wenn es nun auch nicht Deutschland ist – wenn Sie ein näheres Reiseziel wählten, ein Land, wo Sie auch den schönen grünen Wald sehen könnten – Norwegen zum Beispiel!«

Er sah auf, überrascht. Dann aber antwortete er:

»Ja freilich – es wäre auch schön. Aber wir haben keine direkte Schiffsverbindung. Es wäre daher dieselbe Sache.«

Aber sie hatte einen Plan, einen kühnen, eben im Flug gefaßten Plan. O, wenn der sich ausführen ließe, wenn sie ihn dazu bewegen könnte! Ihr Herz klopfte lebhaft, wie sie sich nun eifrig, mit heimlich hoffenden Blicken an ihn wandte:

»Sie hätten aber eine ausgezeichnete, nie wiederkehrende Gelegenheit, schnell noch Norwegen zu kommen – wenn Sie sich uns anschlössen. In vier Tagen sind wir dort!«

Mit hochgespannter Erwartung blickte sie auf ihn.

Es zuckte in seinem Gesicht leise auf; aber er antwortete nicht. Doch sie sah es seinen Zügen an, daß es in ihm arbeitete. Da drang sie auf ihn ein, schmeichelnd, bettelnd wie ein Kind.

»Es wird gewiß gehen. Überlegen Sie sich es nur einmal ruhig. Es wäre ja zu herrlich, wenn Sie mitkämen. Ich würde mich ja so unbeschreiblich freuen! – Also, Sie dürfen nicht nein sagen – bitte, bitte!«

Er kämpfte in der Tat ernstlich mit sich. Der Gedanke, der ihm da so plötzlich in die Seele geworfen wurde, hatte ihn gepackt – er war ja so lockend! Einmal hinauszukommen in die herrliche Gotteswelt – sein ewiges, tristes Einerlei zu vergessen, alle Sorgen für Wochen hinter sich zu lassen, frei und froh aufzuatmen – ah, welche Wonne müßte das sein! Und warum sollte er es sich nicht einmal gönnen? Was ungezählte Tausende in seinem Beruf jahraus, jahrein unbedenklich taten? – Freilich, die Verhältnisse bei ihm lagen ja ganz besonders, aber trotzdem! Ein Vertreter wäre schließlich doch zu beschaffen.

Und wie lockend klang ihm zu alledem ihre weiche, bittende Stimme im Ohr! Gerade mit ihr zu reisen, die ihm in diesen Stunden eine so liebe Kameradin geworden war, das wäre erst voller Genuß gewesen. Mit einer Seele, die so ganz mit ihm empfand, so jugendlich warmherzig sich begeisterte!

Unwillkürlich sandte er den Blick zu ihr, wie sie in ihrer ganzen frauenhaften Anmut da neben ihm harrte in gespannter Erwartung, bereit, mit hellem Jubel sein Ja zu lohnen, mit frohlockenden, dankerfüllten Augen. So warm trieb es ihn zu ihr, ihr diese Freude zu machen und sich selbst, schon schwebte ihm das zusagende Wort auf den Lippen – da zog plötzlich ein düsterer Schatten über sein Gesicht: ein anderes Bild tauchte plötzlich vor ihm auf, von dem stillen Hause da drüben her.

Konnte er wirklich an sein Vergnügen denken, wo eine heilig-ernste Pflicht ihn hier hielt? Wollte er sich wirklich auf lange Wochen von hier entfernen, wo er der einzige Trost einer vom Schicksal zertretenen Seele war, die sonst nichts mehr auf der Erde hatte?

Ein schmerzlicher Widerstreit seiner Empfindungen riß ihn hin und her.

Frau Söllnitz sah den veränderten Ausdruck seiner Züge und sie fühlte, daß ihr Hoffen umsonst gewesen.

»Ich sehe, Sie wollen nun doch nicht,« traurig sagte sie es, und mit einem Anflug von Bitterkeit fügte sie hinzu: »Es lohnt sich eben nicht für Sie, unsere Bekanntschaft fortzusetzen. Ich will Sie nun auch nicht mehr drängen – bleiben Sie ruhig hier – Sie sollen sich nicht etwa mir zu Gefallen Unannehmlichkeiten bereiten.«

Es hatte leise aufgezuckt in seinem Gesicht bei ihren Worten, doch er erwiderte nichts. Daß er aber nicht einmal eine Antwort für sie hatte, in diesem Augenblick, wo sie ihm verraten hatte, wieviel ihr an einem Zusammensein mit ihm gelegen war, wo sie im innersten Herzenswinkel immer noch gehofft hatte, daß ihn dieses Bekenntnis noch umstimmen könnte, das traf ihren Frauenstolz, und plötzlich hielt sie ihr Pferd an:

»Was sollen uns eigentlich noch diese letzten, trübseligen Minuten? Wo wir doch scheiden sollen! Ich liebe solch langsames Absterben der Stimmung nicht. Lieber ein Ende aus dem Vollen heraus! – Also,« sie hielt ihm mit vollem Entschluß die Hand hin, »leben Sie wohl, Herr Doktor. Und haben Sie Dank für die Stunden mit Ihnen!«

Er blickte mit wirklichem Weh in ihr ernstes, schönes Gesicht, wie gern hätte er ihr gesagt, was in seinem Herzen so laut rief: nein, nein! Es ist ja nicht das! Wie gern ginge ich mit dir! Es lockt mich ja so zu dir hin! – Aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. In peinvollem Schweigen, immer noch im Kampf zwischen Pflichten und Wünschen stehend, stand er vor ihr; auch er blickte ernst mit bewegten Zügen und hielt ihre Rechte in seiner pressenden Hand.

Da entzog sie ihm schnell ihre Finger, noch ein letztes leises Lebewohl tönte ihm ins Ohr, und im nächsten Augenblick sprengte sie davon.

Ihm war, als müsse er ihr nachrufen, sie zurückholen. Aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Mit düsteren Blicken starrte er ihr nach und lauschte mit einem dumpfen Angstgefühl auf den klappernden Hufschlag, der sie mit jedemmal ihm weiter entfernte. Es war ihm, als würde es plötzlich ganz öde und finster um ihn, als entschwände da eilends ein freundlicher Lichtschein, der ihm das Grau seines Daseins hatte rosig durchleuchten wollen.

Finsteren Antlitzes, die Lippen fest zusammengepreßt, hielt er so regungslos, bis sie seinen Blicken um die Straßenbiegung drunten entschwand. Da hob sich seine gepreßte Brust in einem tiefen Atemzuge, der ihm doch keine Erleichterung brachte. Langsam wandte er das Pferd herum und ritt im müden Schritt, gesenkten Hauptes, durch den Nebel dem freudlosen Hause zu, das da draußen einsam in der Steinwüste stand – nach seinem Heim.

Heim?

Ein Echo voll tiefster, trostloser Bitterkeit weckte das Wort in seiner Brust, und von den Lippen des Mannes kam es wie ein unterdrücktes Stöhnen – ein leiser Laut, der in der Einsamkeit verhallte.

 


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