Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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VII.

»Küssen ist – keine – Sünd –«

Die banalen, aber gefälligen Walzerklänge, die die Kapelle der »Hamburg« auf lebhaftes Verlangen des größeren Teiles der Tischgesellschaft fast jeden zweiten Tag während des Diners spielen mußte, zogen wieder einmal durch den eleganten Speisesalon der ersten Kajüte, wo die übliche froh angeregte Stimmung und reichliche Wärme herrschte. Man war schon beim Eis. Die Wangen der Damen strahlten rosig, die Herren zeigten vielfach sogar schon die verräterische »Weinfahne« im behaglich-vergnügten Antlitz; allenthalben perlte der Sekt in den Kelchen, und die Unterhaltung schwirrte durcheinander – wie im Papageienhaus im »Zoologischen«, pflegte Kapitän Neidhardt immer zu sagen.

Er schenkte seiner Tischdame, Frau Söllnitz, gerade die flache Schale des langen Stengelglases – er trank den Champagner grundsätzlich nur aus dieser Form – mit der üblichen Veuve Cliquot voll, als der nur zu gut bekannte Walzer einsetzte. Lebhaftes Bravo und Händeklatschen von einem Seitentisch begrüßte das Musikstück.

»Ja brävo, brävo –« ahmte der Kapitän mit einem geringschätzigen Seitenblick zu den Lärmern deren breite, englische Aussprache nach. »Natürlich wieder die Cow-Boys!« so benannte er eine ihm höchst widerwärtige Gesellschaft amerikanischer Herren, die dort mit ihren Damen saßen und deren Manieren allerdings nicht die besten waren. »Ritschard Uaegner oder den Schunkelwalzer – was anderes kennt die gräßliche Gesellschaft ja nicht! Na, soll uns aber nicht abhalten!« Er präsentierte mit der Eleganz des alten Offiziers seinen Kelch vor der Tischnachbarin. »Darf ich gehorsamst Ihr Wohl trinken, meine gnädigste Frau?«

Eva Söllnitz tat ihm freundlich Bescheid, aber während sie ihm zutrank, flog ihr Blick über die lange Tafel hinüber zu einem Seitentische, wo ein halbes Dutzend unverheirateter Herren beisammen saß. Dort hatte der Obersteward auch den neuen Gast placiert. Mit heimlicher Sehnsucht und Ungeduld schaute die junge Frau dorthin. Sie hatte ja noch keine Gelegenheit gehabt, Dr. Amthor zu sprechen; ja, noch nicht einmal einen stummen Gruß hatte sie mit ihm gewechselt.

Vorhin, vor dem Diner, als sie suchend auf dem Schiff umhergegangen war, hatte sie ihn nirgends gefunden – gewiß hatte er sich in seiner Kabine eingerichtet – und jetzt bei Tisch saß er leider abseits und ihr halb den Rücken zukehrend, so daß er sie noch nicht bemerkt hatte. Und doch hatte sie so darauf gebrannt, ihm wenigstens mit einem lächelnden Blick zu danken und den ersten Gruß zu entbieten. Es war ja in ihr eine so namenlose Freude, daß er nun doch noch gekommen war. Nach ihrem traurigen Abschiede auf Nimmerwiedersehen! So war ihm doch auch an einem Beisammensein mit ihr gelegen gewesen. O, wie sehnte sie sich nach dem ersten Wort von ihm! Was er wohl sagen, ob er wohl andeuten würde, daß das Verlangen, mit ihr weiter zusammen zu sein, ihn doch noch zu guter Letzt umgestimmt habe?

Wie endlos lang doch das Essen heute dauerte! Nervös spielte ihre Rechte mit dem kleinen Fächer, während sie den Blick immer noch drüben am Tische weilen ließ.

Sie konnte Amthors Gesicht nur halb von der Seite sehen, aber sie vermochte doch zu erkennen, daß er still dasaß, mit ernster Miene, und nicht teilnahm an der lauten, fast lärmend lustigen Unterhaltung an seinem Tisch, wo ein kugelrunder Rechtsanwalt aus Berlin in seiner schnoddrig-witzelnden Art das große Wort führte. Von Zeit zu Zeit sah sie, wie Amthor den Kopf zur Seite wandte und wie suchend über die Nachbartische wegblickte. Kein Zweifel, er suchte sie! Wie klopfte ihr das Herz schneller! So gern hätte sie ihm mit leisem Zuruf ihren Platz hier hinter ihm verraten.

»Ihr isländischer Bekannter scheint sich etwas vereinsamt hier zu fühlen,« wandte sich Kapitän Neidhardt plötzlich an sie; er war ihrem Blick mit den Augen gefolgt.

Frau Söllnitz fuhr leicht zusammen. Erst wollte eine Verlegenheit in ihr aufsteigen, sie fürchtete, daß ihre unbewachten Blicke ihrem Nachbar ihre Gedanken verraten haben möchten; aber der harmlose Ausdruck in seinen Zügen beruhigte sie schnell wieder. Sie hatte Neidhardt gleich zu Beginn der Tafel mit voller Absicht erzählt, welch sonderbarer Zufall das doch sei, sie kenne den neuen Schiffsgast! Es sei ja ihr Führer auf dem Ritt zu den warmen Quellen, der Dr. Amthor. Er habe allerdings auch schon zu ihr davon gesprochen, daß er einmal gern auf ein paar Wochen hinaus wollte aus der Einsamkeit Islands – aber der Entschluß, mit der »Hamburg« zu reisen, müsse ganz plötzlich bei ihm gekommen sein; wenigstens habe er ihr diese Absicht neulich nicht kundgetan.

So war denn auch jetzt offenbar die Bemerkung des Kapitäns ganz unverfänglich, und die junge Frau konnte es wagen, an diesen eine Bitte zu richten, die sie schon lange im stillen hegte.

»Ja,« bestätigte sie ihm seine Beobachtung. »Ihm ist sicherlich drüben nicht wohl. Dr. Amthor ist ein sehr angenehmer, aber etwas ernster Mann, der zwischen die Herren da nicht paßt. Er tut mir eigentlich leid, wie er so still da sitzt. Er hat sich unser neulich so liebenswürdig angenommen, daß ich mich gern ein bißchen revanchieren möchte. Als Frau kann ich das doch aber nicht gut. Wenn Sie aber, Herr Kapitän, sich seiner erbarmen und ihn gelegentlich in unsere Gesellschaft ziehen wollten, so wäre das recht lieb von Ihnen, und ich würde mich freuen.«

»Aber gern, meine gnädigste Frau! Mit größtem Vergnügen!« versicherte liebenswürdig der alte Seemann. »Ich werde mich ihm gleich nachher bekannt machen. Da Sie ihn empfehlen, wird er ja sicherlich eine rühmliche Ausnahme –«

»Von dem allgemeinen Stumpfsinn Islands machen. Nicht wahr?« ergänzte sie, neckend auf seinen Tollpunkt anspielend, und hob, ihm lächelnd zutrinkend, den Sektkelch. Der Kapitän lachte herzlich – daß sie ihn so gut kannte! – und leerte, sich artig verbeugend, sein Glas.

»Nun, seien Sie ohne Sorge,« versicherte sie dann, ihren Kelch wieder niedersetzend. »Doktor Amthor wird Ihnen schon gefallen – gerade Ihnen. Übrigens ist er ja auch gar kein richtiger Isländer, sondern eigentlich ein guter Deutscher.«

»Ah, was Sie nicht sagen!« staunte Neidhardt und ließ sich Näheres von ihr darüber erzählen.

Inzwischen war aber der neue Schiffsgast auch der Gegenstand der Unterhaltung der jüngeren Herren gewesen, die mit zu der Tischgesellschaft des Kapitäns und der jungen Frau gehörten. Der Regierungsrat und der Leutnant waren nicht wenig erstaunt gewesen, als sie da vorhin, zu Beginn des Diners, ihren Führer von neulich, an dessen Stelle sie gestern so gern gewesen wären und dem sich die scharmante junge Frau so ruhig anvertraute, als Reisegenossen entdeckt hatten.

»Seh'n Sie doch bloß, Görtz! – Da sitzt ja wahrhaftig der lange Isländer – drüben bei der lustigen Sieben.« so hieß auf dem Schiff die kleine Junggesellengruppe, die gerade ihrer sieben zählte.

Der Regierungsrat setzte sich langsam das Augenglas ein; er vermied es grundsätzlich, durch schnelle Bewegungen seiner vornehmen Würde Abbruch zu tun oder gar etwa jugendlich zu erscheinen. »Was – wer?« näselte er, mit zusammengekniffenem Auge suchend.

»Na, der Kerl neulich von den warmen Quellen; Sie wissen ja: Unser Führer – der König von Thule!«

»Was, der? – Richtig!« Er hatte ihn nun drüben entdeckt, »was hat denn der hier zu suchen? – Übrigens, König von Thule ist gut!« wandte er sich, lachend, wieder v. Kreßmann zu.

»Na ja,« begründete der Leutnant geschmeichelt lächelnd diesen neusten, von ihm geprägten Spitznamen. »Der Mensch tat doch so, als ob ihm ganz Island erb- und eigentümlich gehörte: ›Dies alles ist mir untertänig‹« zitierte er mit übertriebenem Pathos und einer großen Geste über den Tisch hin.

»Haben Sie recht! Aber was will denn der Kerl bloß hier?«

Mit gerunzelter Stirn und affektiert breitgezogenem geöffneten Mund, was kalte Verächtlichkeit markieren sollte, starrte Herr Görtz-Schilling auf den Fremdling.

»Na offenbar mitjondeln!« erklärte humorvoll der Leutnant. »Sie sehen ja doch, er reist als erster Klasse-Passagier wie Sie und ich.«

»Hätt' ich dem Menschen niemals zugetraut. Ich hab' ihn für 'nen ziemlichen Schlot gehalten.«

»Is er ooch – trotzdem!« entschied Kreßmann. »Seh' ich primavista. Sehn Sie doch! Der Kerl trägt ja Röllchen!«

Mit einem belustigt-höhnischen Laut winkte er mit den Augen nach den losen Manschetten Amthors hinüber. »Bei uns im Kasino geht das Sprichwort: wer Röllchen trägt, stiehlt auch silberne Löffel! – Na, für mich ist der Gentleman damit erledigt.« Und mit kühler Verachtung zog er die Blicke von dem unwürdigen Gegenstande zurück. –

Die Tafel war dann aufgehoben worden, und die Gesellschaft hatte sich bei dem milden Wetter auf den verschiedenen Deckplätzen verteilt, um im Freien den Abend zu verbringen.

Der Kapitän hatte sich, seinem Versprechen gemäß, gleich zu Dr. Amthor begeben. Mit gespannter Erwartung hatte Frau Söllnitz, in ihrem Deckstuhl neben Mr. und Mrs. Sanderham sitzend, auf das Erscheinen der beiden Herren gewartet; denn sie nahm an, daß Neidhardt ihnen den neuen Gast gleich zuführen würde. Zerstreut nur plauderte sie daher mit dem liebenswürdigen, feingebildeten Ehepaar aus Washington; ihre Blicke schweiften beständig umher, voller Unruhe und Verlangen. Da sah sie plötzlich unten in dem Gang die Gesuchten einbiegen und heraufkommen. Es zuckte ihr in den Gliedern aufzuspringen und ihnen entgegenzueilen; aber sie mußte sich ja beherrschen. So blieb sie denn äußerlich ganz ruhig in ihrem bequemen Schiffsstuhl sitzen, auch jetzt, als die beiden Herren zu ihnen traten.

»Meine Herrschaften, gestatten Sie, daß ich Ihnen Herrn Doktor Amthor aus Reykjavik vorstelle,« präsentierte der Kapitän den neuen Bekannten den Amerikanern, die ihn mit einem »shakehands« nach ihrer Sitte willkommen hießen.

»Frau Professor Söllnitz sind Sie ja schon bekannt,« wandte Neidhardt sich darauf zu der jungen Frau, die ihm mit einem herzlichen Blick dankte. Dann reichte sie Amthor die Hand.

»Schön willkommen an Bord, Herr Doktor,« begrüßte sie ihn freundlich in leichtem Konversationston. »Also haben Sie doch noch Ihren Plan ausgeführt, und so plötzlich!« Ein heimlicher Druck ihrer Hand aber sagte ihm verstohlen, wie groß ihre innere Freude war, die sie ja hier nur nicht zeigen durfte.

Amthor aber, der sie mit offener Herzlichkeit hatte begrüßen wollen, blickte sie betroffen an. Ihm war die Gabe solch geschickter Cachierung der innersten Empfindungen nicht verliehen. Er suchte daher, sich verneigend, noch nach dem passenden Wort, als sie ihm mit ihrem gewandten Geplauder vor den Augen der anderen Bekannten zu Hilfe kam.

»Nun, wie fühlen Sie sich denn an Bord? Schon ein bißchen häuslich eingerichtet in Ihrer Kabine? – Haben Sie denn noch gute Unterkunft gefunden?«

»Danke, gnädige Frau,« im Bestreben, auf ihren Ton einzugehen, verfiel er in ein übermäßig reserviertes Wesen. »Ich bin noch ganz gut untergekommen. Natürlich fühle ich mich vorläufig noch etwas fremd an Bord.«

»Nun, das wird sich bald legen. Man wird hier ja so schnell bekannt.« Ein schalkhaftes Aufblitzen ihrer Augen traf ihn. »Schließen Sie sich nur uns ein bißchen an – das heißt, wenn Sie nicht etwa Besseres mit sich anzufangen wissen.«

Er sah sie an, und befremdetes Staunen sprach aus seinem Blick: Wie sie sich zu beherrschen, zu verstellen wußte, so leicht, spielend! War es nicht eigentlich aber eine etwas bedenkliche Kunst? Er hatte sie, allein mit ihm, immer so ganz anders gesehen, so offen, ohne jedes Falsch. So hatte sie ihm unvergleichlich besser gefallen. Die glatte Maske der Weltdame nun berührte ihn peinlich an ihr. Sein Ton wurde daher unwillkürlich noch kühler und formeller, als er jetzt auf ihre Aufforderung mit einer leichten Verbeugung erwiderte:

»Vielen Dank, gnädige Frau! Sie sind wirklich sehr gütig.«

Verwundert sah sie zu ihm auf. Was hatte er denn? Warum war er denn so gemessen zu ihr? Statt auf ihren Ton einzugehen und ihr unter einem Scherz zu verstehen zu geben, daß er verstand, wie es gemeint war? Aber seine Miene blieb unverändert ernst, und mit einem Seitenblick auf Neidhardt fügte er hinzu:

»Der Herr Kapitän war bereits auch so freundlich –«

Der alte Seemann glaubte nun, den neuen Bekannten in die allgemeine Unterhaltung ziehen zu sollen.

»Aber ja, Herr Doktor! verfügen Sie ganz über mich. Wenn ich Ihnen irgendwie dienen, Sie noch sonstwo bekannt machen soll? Aber Sie werden sich unfehlbar bald einleben. Es ist ja ganz famos hier auf unserem Schiffchen, namentlich in unserer engeren Gesellschaft.« Und die Konversation wurde nun allgemein.

Längere Zeit saß man so beisammen in lebhaftem Geplauder, das allerdings in der Hauptsache von dem gesprächigen Kapitän und dem Ehepaar geführt wurde. Frau Söllnitz war, infolge Amthors so merkwürdigen Wesens, heute gegen ihre Gewohnheit schweigsam, und auch der fremde Doktor schien kein Freund überflüssiger Worte zu sein, wennschon er sein Interesse an der Unterhaltung durch gelegentliche Bemerkungen bekundete. Wenn sie sich von den anderen unbeobachtet glaubte, warf die junge Frau oftmals einen Blick zu ihm; aber er erwiderte ihn nicht. Er war offenbar, nachdem sie einmal die Parole des Verleugnens ihrer näheren Bekanntschaft ausgegeben hatte, nun ganz konsequent und wollte auch von heimlichen Vertraulichkeiten nichts wissen.

Eva Söllnitz quälte nachgerade dies ihr unverständliche Verhalten. Sie merkte ja nur zu deutlich, daß er verstimmt über sie war; aber so sehr sie sich auch insgeheim zergrübelte, sie fand nichts in ihrem Benehmen, das ihm begründeten Anlaß gegeben hätte. Eine Traurigkeit kam schließlich über sie. War das nun die Freude, die sie sich so ersehnt hatte? Ihre Nerven fingen so wieder an, sich zu melden, und es war keine Ausflucht, als sie plötzlich aufstand und erklärte:

»Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, aber ich merke, ich darf mir doch noch nicht zu viel zumuten. Ich will mich lieber zurückziehen – auf Wiedersehen.« Und schnell ging sie davon, offenbar, um sich in ihre Kabine zu begeben.

Amthor hatte sie bei ihren Worten mit seinem still prüfenden Blick angesehen, wirklich, sie sah blaß und angegriffen aus; das wenigstens war keine Vorspiegelung.

»Frau Söllnitz war heute schon den ganzen Tag über nicht ganz wohl?« erkundigte er sich bei ihren Bekannten.

»O, leider nein!« gab Mrs. Sanderham Auskunft, in ihrem gewandten, aber fremd klingenden Deutsch. »Sie klagte schon gestern in dem Nachmittag, gleich wie sie kam an Bord, über starkem Kopfschmerz und ist bis zum Dinner heut den ganzen Tag unten geblieben in ihre Kabine.«

»O,« ein bedauernder Laut kam von Amthors Lippen. Seit gestern nachmittag schon! Also seit der Rückkehr von ihrem Ritt, seit dem Abschied von ihm! Ein warmes Gefühl quoll ihm wieder im Herzen hoch. Also echt und tief war ihr Fühlen doch trotz der Schauspielermaske, die sie leider vor den Leuten trug. Und ein Empfinden von Reue überkam ihn, daß er sie eben die ganze Zeit über so kühl behandelt hatte, trotz ihrer geheimen bittenden Blicke, die er wohl bemerkt hatte, wenn er ihr doch wenigstens jetzt noch ein freundliches Wort hätte sagen können! Aber es war ja nun zu spät. Sie hatte sich bereits in ihre Kabine zurückgezogen, gewiß um wieder eine neue schlechte Nacht zu verbringen – seinetwegen.

Er stand auf, von innerer Unruhe getrieben. Auch die anderen erhoben sich.

Der Kapitän sah nach der Uhr.

»Na, da können wir wohl unseren gewohnten Schlummertrunk nehmen. Kommen Sie mit, Herr Doktor?«

»Vielen Dank!« lehnte Amthor ab. »Aber ich möchte lieber noch eine kleine Promenade machen.«

»Nun, dann gut' Nacht!«

Die Herrschaften reichten ihm alle freundlich die Hand und gingen dem Rauchsalon zu, wo sie stets noch ein Glas Pilsner vorm Schlafengehen zu trinken pflegten. Auch die Amerikaner hatten diese gute deutsche Sitte schnell angenommen.

Amthor begann in der Tat, seinen Deckspaziergang anzutreten. Seinen Gedanken nachhängend, schritt er den breiten geschützten Gang hinunter, der im langen Rechteck rings um die Kajüten und Kabinen der ersten Klasse führte. Aber bald störte ihn der rege Verkehr, der hier noch herrschte, obschon es fast zehn Uhr war. Der Abend war, nördlich des Polarkreises, ja taghell und, da man noch im Bereich des Golfstromes fuhr, sommerlich mild; allenthalben saßen daher noch auf den Bänken oder Deckstühlen die Passagiere plaudernd zusammen. Amthor fühlte sich im Vorübergehen an den einzelnen Gruppen durch die neugierigen Blicke gestört, die ihn, den neuen Schiffsgenossen, vielfach trafen. Er verließ daher das Promenadendeck und stieg die Treppe zum Zwischendeck hinunter, aber da hier wieder die dienstfreien Matrosen und Stewards herumstanden, so klomm er am anderen Ende die Stufen zur Back hinauf, dem hochragenden Vorderdeck, das ganz frei war, wie es ihm schien.

Ein frischer Luftzug empfing ihn hier oben. Ah, das tat wohl! Fester drückte er sich die Bordmütze ins Gesicht und schritt vorwärts, nach dem Bug hin. Aber wie er um die mannshohen Ventilatoren bei der Ankerwinde bog, erblickte er ganz vorn an der Spitze eine weibliche Gestalt, die, über das Eisengeländer gelehnt, regungslos hinab ins Wasser blickte.

Also auch hier wieder ein Mensch! Gab es denn kein Plätzchen auf dem ganzen Schiff, wo man einmal allein sein konnte? Ärgerlich wollte er gleich wieder umkehren, aber da faßte sein Auge die dunkle Silhouette jener Frauengestalt da vorn genauer auf, und sein Fuß stockte: täuschte er sich, oder war das wirklich da vorn Frau Söllnitz?

Einen Augenblick zögerte er noch, dann trat er zu ihr hin. Wahrhaftig, sie war es wirklich! Der kräftig wehende Gegenstrom, den das Schiff beim Durchschneiden der Luft erzeugte und der die Haare um Schläfe und Nacken der jungen Frau flattern ließ, mußte das Geräusch seiner Tritte ganz übertönt haben, denn sie fuhr zusammen, als da plötzlich neben ihr eine Stimme erscholl.

»Verzeihung, wenn ich Sie erschreckte!« bat er, nun dicht an ihre Seite tretend. »Also sind Sie's doch. Ich glaubte Sie schon längst in Ihrer Kabine.«

Ein ernster, stiller Blick traf ihn.

»Ich würde doch keine Ruhe finden,« erklärte sie, dann den Kopf wieder nach vorn wendend, in den Wind hinein. »Die Luft tut meinen Nerven wohl.«

Er zauderte noch einen Moment, dann sagte er leise:

»Sie sind mir böse.«

Auch sie erwiderte nicht gleich. Sie kämpfte offenbar mit sich, ob sie ihm ihr wahres Empfinden zeigen sollte; aber dann kehrte sie ihm das Gesicht zu.

»Warum waren Sie vorhin so abweisend zu mir?«

Die leise Trauer in Ton und Blick bei ihr rührten ihn.

»Verzeihen Sie mir!« bat er warm. »Ich habe mir schon selbst Vorwürfe darüber gemacht.«

Ihr immer noch ernstes Gesicht hellte sich leise auf; aber sie fragte noch einmal:

»Warum waren Sie denn so? Ich habe mir ja den Kopf darüber zerbrochen.«

Gespannt blickte sie auf ihn.

Er suchte nach den rechten Worten, um sie nicht zu verletzen; dann begann er langsam, überlegend:

»Ich bin vielleicht sonderbar in der Beziehung – es ist vielleicht Weltfremdheit infolge meines zurückgezogenen Lebens – aber ich kann mir nicht helfen: es fällt mir schwer, mich an Sie zu gewöhnen, wie Sie sich heute gaben.«

Sie blickte ihn erstaunt an:

»Aber wie denn? Ich gab mich doch heut wie immer!«

»Eben darum!« bestätigte er ernst. »Ich muß leider merken, daß Sie unter Menschen eine andere sind als sonst.«

Betroffen sah sie ihn an. Allerlei Gedanken stürmten auf sie ein. Sollte er an der Aufrichtigkeit ihrer Empfindungen zweifeln? Mein Gott, sie hatte ihm doch so deutlich durch geheime Zeichen zu erkennen gegeben, wie glücklich sie über sein Kommen gewesen war!

»Ich verstehe Sie nicht,« bekannte sie leise, gequält. »Bitte, sagen Sie mir doch deutlicher, was Sie meinen.«

»Nun gut!« Er beschloß, jetzt ganz rückhaltlos zu reden. »Sehen Sie, was mir gerade so gut an Ihnen gefiel, das absolut wahrhafte und Aufrichtige, das verdunkelt sich so an diesem neuen Bilde, das Sie hier von sich zeigen.«

Sie sah ihn erschrocken, mit großen Augen an.

»Hier sind Sie so ganz Weltdame, in jedem Moment bestrebt, Ihr wahres Gefühlsleben ängstlich hinter einer lächelnden und tändelnden Maske zu verbergen, auch da, wo es nicht notwendig wäre.«

»Und wo wäre das zum Beispiel?« Eine tiefe Verletztheit sprach aus ihrem Ton.

»Warum verheimlichten Sie Ihren Freunden ganz unser gutes Bekanntsein? – Warum empfingen Sie mich wie einen ganz Fremden, den sie etwa nur einmal flüchtig gesehen haben? Ich muß Ihnen ganz offen gestehen: es hat mich das sehr peinlich berührt. Ich bin kein Freund von schiefen Positionen und Heimlichtuereien. Warum zeigen Sie nicht aller Welt frei, daß wir gute Freunde sind? Es ist doch nichts Unrechtes, dessen wir uns zu schämen brauchten!«

Sie gab keine Antwort. Unbeweglich stand sie, in das Meer zu ihren Füßen hinabblickend; aber es zuckte verräterisch in ihrem Gesicht.

»So reden Sie doch!« drängte er. »Habe ich denn nicht recht?«

Da kam es langsam von ihren Lippen, und sie zitterte während des Sprechens vor innerster Erregung: »Sie wissen nicht, wie weh Sie mir tun in diesem Augenblick. Was ich tat, geschah doch nicht aus Feigheit oder Falschheit! Aber Sie kennen die Welt nicht; nicht die, in der ich lebe – die auf diesem Schiff hier. Ich habe nichts mehr als meinen guten Ruf – Sie wissen es ja. Soll ich den auch noch aufs Spiel setzen? Ohne zwingenden Grund! Oder meinen Sie, diese Leute hier ringsum, die mich mit Argusaugen bewachen, um endlich den gewünschten dunkeln Fleck an mir zu entdecken, sie würden es ohne weiteres begreiflich finden, daß wir in den paar Tagen so schnell Freunde geworden sind? Würden an die Harmlosigkeit dieser Freundschaft glauben? – Nein!« schloß sie mit tiefster Bitterkeit, »davon können Sie mich nicht überzeugen. Ich kenne diese Menschen besser, die ich – leider! – tagtäglich um mich sehe. Aber gleichviel! Da Sie meine Vorsicht für unwürdig halten, gut – so will ich sie fortan fallen lassen. Ich will Sie nicht in eine schiefe Lage bringen, die Sie mit Ihren Grundsätzen nicht vereinbaren können.«

Entschlossen richtete sie sich auf.

Ihre Erklärungen, besonders aber die mit leiser Bitterkeit gesprochenen letzten Worte machten einen tiefen Eindruck auf ihn.

»Nicht doch! Nicht so!« Er griff nach ihrer Linken, die sie ihm nach kurzem Widerstreben überließ.

»Ich wollte Ihnen ja nicht wehe tun. Nun, wo ich Ihre Gründe kenne, beurteile ich ja Ihr Wesen ganz anders. Arme schutzlose Frau, daß Sie so auf Ihrer Hut sein müssen! Aber sehen Sie, gerade weil diese Menschen so elend, so miserabel sind, wurmt es mich, daß eine hochstehende Frau wie Sie ihnen Konzessionen machen soll, wo sie ruhig, aufrechten Hauptes, in vollstem Licht dahinschreiten sollte. Nicht um mich – ich ertrüge Ihnen zuliebe jetzt gern solche Doppelstellung!« ein warmer Blick traf sie. »Aber um Ihrer selbst willen sollen Sie es nicht tun! Sie sollen sich durch diese Elenden nicht einschüchtern lassen – ich möchte Sie so gern immer stolz und wahrhaftig sehen, in jedem Augenblick; die Verstellung, selbst aus solchem Grunde, ist ein störender Fleck auf Ihrem Bilde. Bitte, glauben Sie mir, daß ich es nur gut mit Ihnen meine.« Seine Augen sprachen treu und herzlich zu ihr. »Sie sind durch all Ihr Leid verängstigt worden und haben ganz das Zutrauen zu sich verloren. Aber glauben Sie mir: diese Kläffer sind feig, so feig wie frech, wenn sie hinterrücks über Sie herfallen, fliehen Sie nicht, bleiben Sie stehen und packen Sie fest zu! Sie sollen sehen, wie die Bestien sich heulend und schwanzwedelnd vor Ihnen ducken. – Fassen Sie einmal Mut, nehmen Sie den Kampf mit der Meute auf – gerade jetzt, wo Sie nicht mehr allein sind, wo Ihnen ein Freund zur Seite steht, der Sie nicht im Stich lassen wird – dessen seien Sie sicher!«

Er hatte die ganze Zeit, während er so auf sie einsprach, ihre Linke nicht losgelassen, sondern sie, seinem lebhaften Impulse folgend, dann und wann wie zur Bekräftigung seiner Worte stark gedrückt, willig hatte Eva Söllnitz ihm die Hand gelassen und weit, immer weiter hatte sie ihre Seele diesen Worten geöffnet, wie ein frischer, starker Hauch wehte es ihr da aus seinem Innern entgegen, hinein in ihre eigene Brust. Ja, er hatte nur zu recht! Selbst sah sie nun, wie sie durch die langen Leidensjahre ihrer Ehe mutlos und kraftlos geworden, wie sie seitdem wirklich in schwächlicher Angst vor dem Gerede, vor den Nachstellungen der Menschen wie ein gehetztes Wild gewesen war. Wenn sie es sich auch äußerlich nie hatte anmerken lassen, wenn sie auch immer getan hatte, als glitten alle Pfeile wirkungslos an ihr ab, im Innersten hatten diese stets nur zu gut gesessen! Ihr gleichmütiges Lächeln, ihre stolze Haltung war ja nur eine Maske gewesen, hinter der sich bitterstes Weh und eine zitternde Angst vor der Welt verbargen.

Aber nun mit einem Male regte sich wieder ihr Stolz, von ihm aufgestört, und von seiner auflohenden Kampfnatur sprang ein zündender Funke in ihre Seele hinüber.

Fest fühlte er plötzlich ihre Hand ihn drücken, und mit einem kraftvollen Entschluß wandte sie sich ihm schnell zu:

»Haben Sie Dank! – Ja, Sie haben recht! Es ist meiner unwürdig, diese Leute zu fürchten, die ich verächtlich mit Füßen treten sollte. Und von nun ab will ich, unbekümmert um sie, tun und lassen, was ich für gut halte. – Sie sollen mit mir zufrieden sein!«

Hell strahlte ihn ihr Blick an. Der frische Lebensmut, der plötzlich über sie gekommen war, machte sie wieder jugendlich reizvoll. Froh sah Amthor auf sie nieder: ja, so gefiel sie ihm – so war sie nach seinem Sinn, gesund an Leib und Seele, stark und wahr.

»So ist's recht!« lobte er sie. »Und nun wollen wir Schulter an Schulter einen frisch-fröhlichen Krieg gegen diese Kläffer da beginnen. Ich kann Ihnen sagen: ich freue mich ordentlich darauf!«

Noch einmal schüttelte er ihr, wie im Gelöbnis treuer Bundesgenossenschaft, die Hand.

»Aber sagen Sie,« fuhr er dann fort, mit ihr langsam auf dem Vorderdeck auf und ab schreitend, »glauben Sie denn, daß auch Ihre engeren Bekannten hier, der Kapitän zum Beispiel, der mir doch ausnehmend gefallen hat –«

»Nein! Der und auch Sanderhams sicher nicht!« versicherte sie lebhaft. Besonders aber der Kapitän ist Gentleman durch und durch. Ein Mann, der alles versteht und fern von jedem gehässigen Klatsch ist. Aber die anderen –?« Sie zuckte vielsagend die Achseln.

»Gut! – So halten wir uns die ganze übrige Gesellschaft vom Halse. Sie sollen mal sehen, wie gut ich das verstehe,« scherzte er. »Ich habe ein ordentliches Talent, die Leute fortzugraulen. – Also, darf ich?«

»Nur zu! Sie haben plein pouvoir!« nickte sie ihm heiter zu, angesteckt von seiner frohen Kampfstimmung. »Aber Sie werden bald der bestgehaßte Mann an Bord sein. Ein paar gute Freunde haben Sie sich übrigens schon gewonnen, wie ich heute beim Diner merkte.«

»So schnell! Und ohne jedes Zutun?« lachte er. »Wer sind denn diese unbekannten Gönner?«

»O, Sie kennen sie: unsere Begleiter neulich auf dem Ritt zu den warmen Quellen!«

»Ah, die beiden? Ja freilich, das glaub' ich. Den Herren werd' ich kaum nach ihrem Geschmack sein.«

»Sie haben Ihnen auch schon einen Spitznamen zugelegt. Soll ich ihn Ihnen verraten?«

»Bitte – ich bin nicht empfindlich.«

»O, Sie können ihn sich schon gefallen lassen: ›Der König von Thule‹ heißen Sie!«

»König von Thule?« Nachdenklich wiederholte er den Namen; dann schüttelte er lächelnd den Kopf, »wie ich dazu komme, kann ich nun wirklich nicht ergründen.«

Sie schwieg einen Moment, dann erwiderte sie ihm:

»Wie die Herren darauf gekommen sind, weiß ich auch nicht. Aber ich finde den Namen gar nicht schlecht.«

»So?« Er sah sie, etwas verwundert, an. »Und warum denn?«

Sie zögerte abermals ein wenig; dann gestand sie leiser:

»Sie haben wirklich etwas so Überragendes und Beherrschendes. Sie verstehen es, Menschen zu lenken.«

Sein Blick heftete sich fester auf sie, aber sie sah ihn nicht an, sondern machte sich an ihrem Handschuh zu schaffen. Sie fürchtete, daß er aus ihren Augen noch mehr lesen könne: wie sie ihn warm bewunderte in seiner Kraft und stolzen Selbstsicherheit, wie unendlich wohl es ihr tat, sich an ihm zu stützen – ja, wie gern sie sich von ihm lenken und beherrschen ließ!

»Und Sie finden diese meine ›Herrschsucht‹ nicht anmaßend und unausstehlich?« fragte er dann lächelnd.

Sie schüttelte stumm den Kopf, dann aber schloß sie den Handschuhknopf energisch und sah zu ihm auf:

»Herrschsüchtig sind Sie ja auch gar nicht. Sie herrschen, ohne es zu wollen.«

»Ah – also angeborne Majestät!« bespöttelte er sich selbst. »Sie sind übrigens der erste, der diese verborgene Königskrone an mir entdeckt.«

»Vielleicht machen Sie nun von dieser Entdeckung Gebrauch!« scherzte sie. »Aber im Ernst: könnte es Sie nicht reizen, über die Menschen zu herrschen – sie sich zu unterwerfen?«

»Es lohnt nicht der Mühe,« entgegnete er stolz. »Auch wäre es nicht meine Passion, – mit Ausnahmen vielleicht.« Sein Blick suchte unwillkürlich ihr Auge, so daß sie es senkte.

Eine Befangenheit kam unter seinem Blick über sie. Sie zog die Uhr aus ihrem Gürtel.

»O,« machte sie erschreckt, »gleich elf! Da wird es ja Zeit, zu Bett zu gehen.«

Sie streckte ihm die Hand hin.

»Gut' Nacht denn und auf Wiedersehen morgen!«

Schnell eilte sie von ihm fort.

 


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