Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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X.

»Also wir werden wirklich Sturm bekommen, Herr Kapitän?«

Frau Söllnitz fragte es Neidhardt, der mit mehreren bekannten Herrschaften auf dem Deckplatz vor dem Speisesaal zusammenstand, und trat auch zu der Gruppe.

»Ohne Zweifel. Es weht ja schon ganz niedlich. Da sehen Sie die Schaumköpfe draußen, und wie der Flaggenstock dort tanzt!«

Die junge Frau sah nach vorn, wo die Fahnenstange des Schiffsbugs allerdings beständig in senkrechter Richtung gegen die graue Wolkenwand auf- und niederstieg.

»Es sind schon ganz muntere Wellen; nur unser famoses Schiff merkt sie noch nicht recht.«

Frau Söllnitz, die mit lebhaftem Interesse auf das schaumbedeckte, schwarzgraue Meer hinaussah, beachtete nicht, wie die anderen Herrschaften sich alsbald empfahlen.

»Man sollte meinen, daß ein so mächtiger Koloß wie unsere »Hamburg« überhaupt gar nicht von den Wellen berührt werden könnte,« äußerte sie.

»O – die kann ganz feste schaukeln!« lachte der alte Seemann. »Ich glaube, Sie erleben es heute noch. Manchem ist es ja jetzt bereits zu viel.«

»Nicht möglich,« lachte die junge Frau. »Haben wir denn etwa schon Kranke an Bord?«

»Einen ganzen Haufen! Schon heut beim Frühstück sah ich blasse Gesichter, und jetzt ist schon ein wahrer run auf die Apotheke! Der arme Doktor wird heut einen bösen Tag haben.«

»Das begreif' ich gar nicht,« verwunderte sich Frau Söllnitz. »Mir ist so wunderbar wohl zumute – ich hab' das bißchen Schaukeln überhaupt noch kaum bemerkt.«

»Na kommen Sie mit, gnädige Frau,« lud sie der Kapitän ein, »wir wollen mal eine kleine Inspektionstour machen. Es ist ja zwar nicht schön,« lachte er, »aber es gibt, finde ich, nichts Amüsanteres, als ein Schiff so in diesem ersten Stadium des mal de mer. – Da kann man Charakterstudien machen!«

»O, Sie sind ja ein lieber Menschenfreund!« neckte Frau Söllnitz und ging mit ihm. –

Ein paar Stunden später wehte es in der Tat recht lebhaft. – Windstärke 9, also regelrechter Sturm! ging das Gerücht an Bord, und demgemäß war der Anblick an Deck.

Die »Hamburg« hatte, wie Kapitän Neidhardt scherzte, »Balltoilette« gemacht zu dem lustigen Reigen mit den tanzenden Wogen, die sie übermütig um ihren schlanken Leib faßten und in schäumender, wirbelnder Luft einander zuwarfen. Immer von einem Arm in den andern flog wie eine leichte Feder die riesige Tänzerin, und der Sturmwind blies dazu eine wilde Melodie, daß es droben im Tauwerk ganz merkwürdig pfiff und heulte. An Bord war alles fest und dicht gemacht worden, denn die immer höher gehende See wusch von Zeit zu Zeit mit mächtigem Sturz über das Schiff weg; selbst in das obere Promenadendeck war trotz der vorgespannten Segelleinewand eben eine vorwitzige Woge prasselnd eingebrochen, mitten zwischen die aufkreischenden Damen hinein, die dort in ihren Bordstühlen, bange zusammengepfercht, lagen. Nun gaben die meisten von ihnen auch diesen letzten, verlorenen Posten auf und wankten, gestützt von den Stewardessen, mit stumpfer Resignation in die Kabinen hinunter, um da das Unentrinnbare über sich ergehen zu lassen.

Nur wenige Damen, aber auch diese fast alle schon mit grünlich-fahlen Wangen und bleicher Nase, wagten noch heroisch den Aufenthalt an Deck, auf dem in kleinen Gruppen auch die seefesten Herren standen, breitbeinig, sich fest am Geländer haltend, um nicht auf dem schräg geneigten, vom Wasser spiegelglatten Deck auszugleiten.

Eine kleine Gesellschaft hatte im Schutz der Treppe zum Sonnendeck Posto gefaßt. Auf zwei Bordstühlen lagen hier, bis an die Nase in Plaids gehüllt, langausgestreckt Mr. und Mrs. Sanderham, und bei ihnen standen mit dem Kapitän Neidhardt Frau Söllnitz und Amthor. Mr. Sanderham lag regungslos in seine Tücher eingewickelt wie eine ägyptische Mumie, mit einem Stoizismus, der seinesgleichen suchte. Noch hatte ihn zwar die eigentliche Krankheit nicht erfaßt, aber er war sicher, daß die leiseste Bewegung auch ihn »liefern« würde. So lag er denn schon seit einer Stunde, ohne mit der Wimper zu zucken, und stierte hinter den Brillengläsern hervor krampfhaft immer nach einem festen Punkt an der Takelage. Irgend jemand hatte ihm dies Mittel empfohlen. Er tat, als ob ihm ringsum auf der Welt nichts mehr anginge, selbst das todesbange Stöhnen und Jammern der Gattin nebenan rührte ihn keinen Deut mehr.

Die gesund gebliebenen drei anderen hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, den tragikomischen Leiden ihrer Schiffsgenossen nach Möglichkeit abzuhelfen. Allerhand Fläschchen und Büchschen auf Mrs. Sanderhams Schoß zeugten von diesen vergeblichen Versuchen. Nun aber fand Amthor, daß sie, da doch nichts zu helfen war, genug hier geweilt hatten; er forderte Frau Söllnitz und den Kapitän auf, mit ihm nach vorn zu kommen, um das Schauspiel der sturmgepeitschten See zu genießen.

»O – verlassen Sie mir nicht!« flehte aber Mrs. Sanderham in wahrer Todesangst, doch ohne sich zu rühren; nur ihre dunklen Augen baten um so eindringlicher.

Da brachte es der selbst gegen Damen in dieser Verfassung noch galante Kapitän nicht fertig, die Bedauernswerte hier ihrem Schicksal zu überlassen.

»Ich bleibe bei Ihnen,« tröstete er, sich einen Stuhl herzurückend, die arme kleine Frau und schlang sorgfältig das windgelöste Plaid wieder fest um ihre Schultern. Ein matter Dankesblick lohnte ihm sein Samariterwerk. »Gehen Sie ruhig, gnädige Frau, mit dem Herrn Doktor,« redete er der noch zaudernden Frau Söllnitz zu. »Sie sehen ja,« er lächelte, »ich bin ein alterfahrener Lazarettgehilfe. Mrs. Sanderham ist bei mir in bester Hand.«

Die junge Frau blickte noch einmal fragend auf Amthor; aber ein etwas ungeduldiges Zucken in seinem Gesicht brachte sie schnell zum Entschluß.

»Seien Sie mir nicht bös, Mrs. Sanderham,« bat sie, sich über die Liegende neigend. »Aber ich möchte wirklich ein bißchen nach vorn, an die frische Luft.«

So ging sie mit Amthor fort, den Promenadengang hinaus.

»Sie haben sich wirklich lange genug für Mrs. Sanderham geopfert,« sagte ihr Begleiter gleich nach wenigen Schritten. »Man muß die Menschenfreundlichkeit auch nicht übertreiben. Die gute Mistreß ist überhaupt eine kleine Egoistin, hinter all ihrer Niedlichtuerei. Sie kann doch aber nicht verlangen, daß Sie den ganzen Tag bei ihr sitzen!«

»Sie haben ja wohl recht, –« gab Frau Eva zu. Der Wind benahm ihr plötzlich den Atem. Sie waren im Begriff, um die Ecke des Ganges zu biegen, wo nun der Sturm in aller Heftigkeit ihnen entgegenschlug. Mit vorgebeugtem Oberkörper kämpfte sich die junge Frau lachend gegen den Unhold an, der sie wütend am Kleid zerrte. Drei Herren standen hier vorn, in dicke Ulster und Winterpaletots gemummt.

»Kognak – immer egal Kognak! Das einzige Mittel!«

Es war die näselnde Kommandostimme des Herrn v. Kreßmann, der diesen guten Rat dem zweiten Herrn gab, der offenbar auch bereits abzufallen begann. Nun drehte er sich, durch des Leutnants plötzlichen Gruß veranlaßt, um – der Regierungsrat. Im selben Augenblick, als er die beiden Herannahenden bemerkt, wandte er sich allerdings schnell wieder ab, sich mit den Händen die Mütze festhaltend, als habe er sie nicht erkannt.

Frau Söllnitz war es höchst peinlich, gerade ihn hier zu treffen, den sie sich am allerwenigsten gewünscht hätte. Sie war seit dem Gespräch vorgestern abend Herrn Görtz-Schilling nicht wieder begegnet.

»Wollen wir da hinauf?« fragte sie Amthor schnell, auf die nahe Treppe zum Sonnendeck weisend.

»Wenn es Ihnen oben nicht zu sehr zieht,« erwiderte er zu ihr tretend.

»O – das macht mir nichts!« versicherte sie und wollte leichtfüßig die schmale Eisentreppe hinaufsteigen. Im selben Augenblick aber faßte der heftig einsetzende Sturm ihr Kleid und schlug es hoch empor.

Es war Amthor, als ob ein heimliches Männerlachen an sein Ohr schlug. Eine aufsteigende Zornröte im Antlitz fuhr er nach links herum. Da standen die drei mit zynischen Mienen und blickten frech nach der jungen Frau, die eine Sekunde lang – ahnungslos von dem Vorgang – gegen den sie im Moment ganz verwirrenden Sturm ankämpfte.

»Bitte, kommen Sie herab! – Schnell!« dringlich tönte ihr plötzlich Amthors Stimme im Ohr. Er zitterte vor Erregung. Am liebsten hätte er sich sofort auf die Burschen da gestürzt; ihm war, als hätten ihre frechen Blicke ihr reines, schönes Frauenbild entweiht.

Fast erschreckt durch seinen plötzlichen dringlichen Anruf gehorchte sie schnell.

»Was ist denn?« Wieder neben ihm stehend, blickte sie ihn mit den großen dunklen Kinderaugen verwundert fragend an. Ihre ahnungslose Reinheit hatte für ihn etwas Rührendes; sie kam ihm so heilig in diesem Augenblicke vor. Selbstverständlich durfte sie gar nicht ahnen, was sein wahrer Grund gewesen war.

»Es ist da oben doch nicht gut möglich, sich aufzuhalten,« wandte er vor, mit ihr zurückgehend, die drei da vorn keines Blickes würdigend. »Man sieht zwischen den Booten auch nichts von der See – ich habe eine andere Idee: Wir gehen nach vorn – auf unseren Stammplatz,« er lächelte sie nun wieder unbefangen an, »auf die Back! Da sind wir heut sicher allein. Aber Sie müssen sich wasserdicht anziehen, Ihren Gummimantel! Die See wäscht dort beständig herüber. Auch ich will mein Ölzeug holen.«

Fünf Minuten später trafen sie sich vor dem Kajütenausgang am Zwischendeck wieder.

»O!« sie hob lachend nach ihm die Hände. »Sie sehen ja aus wie ein richtiger Seebär. – Aber famos! Großartig!«

Bewundernd sah sie auf seine hohe Gestalt im langen gelben Ölrock und breitkrämpigen Südwester, der zu seinem wettergebräunten männlichen Gesicht im blonden Vollbart allerdings vortrefflich paßte.

»Keine bloße Theaterdekoration,« versicherte er, mit ihr nach vorn gehend. »Ich brauche solch Kostüm wirklich manchmal, wenn ich mit unseren Fischern zum Vogelfang oder zur Seehundsjagd hinausfahre.«

Nun waren sie auf dem kleinen Vorderdeck angelangt, auf dem allerdings das Wasser fast handhoch stand und über das der Sturm ungehindert hinbrauste.

Eva Söllnitz wollte eilig vorwärts, ganz nach der Spitze hin; im selben Augenblick sprang aber eine riesige Welle gegen den Bug an.

»Achtung!« scholl es ihr ins Ohr, aber schon brach, vom scharfen Kiel aufgeschnitten, ein brausender, prasselnder Schwall über sie herein mit einer Gewalt, daß ihr Hören und Sehen verging und sie nach Atem ringend, auf dem glitschigen Boden auszugleiten drohte. Mit einem Aufschrei streckte sie die Hände, einen Halt suchend, aus. Da fühlte sie sich von einem starken Arm um die Schultern gefaßt, und als sie die Augen rasch nun wieder öffnete, sah sie Amthors Antlitz über sie gebeugt, mit wassertriefendem Bart, aber frisch-roten Wangen und frohleuchtenden Augen.

»Ja, ja – das ist nicht so ohne hier oben!« lachte er. »Kommen Sie ans Geländer. – Rasch, eh' die Brandung wiederkehrt!«

Da stand sie nun, ganz vorn an der äußersten Spitze des Schiffs, dicht neben ihm. Er hatte sich so gestellt, daß er sie gegen die Wellenseite hin mit seinem Leib deckte. Die Hände fest um das Eisengeländer geklammert, blickte Eva Söllnitz hinaus in das tobende Meer. Der unablässig brausende Sturmwind benahm ihr fast den Atem, und doch spürte sie ein wunderbares Gefühl froher Kraft in sich, wie ihre Brust so seinen salzigen belebenden Hauch trank.

Von der wilden Sturmgeißel aufgepeitscht, raste und schäumte ringsum das Meer in gigantischem Wutausbruch. Es schien seinen ganzen Zorn nun gegen das Schiff gekehrt zu haben, das es wagte, hier fern von aller Hilfe, in unermeßlicher Einsamkeit, seine Fluten zu durchqueren. Furchtbare Wogen rollte es heran, immer eine nach der anderen, Tausende, Myriaden so weit das Auge über das schwarzgraue Kampffeld schauen konnte; wie gewaltige, dunkle stürmende Kolonnen mit weiß flatternden Helmbüschen wälzten sie sich gegen das Bollwerk des Schiffs heran, gegen die hochragende Bastion des festen Bugs. Aber höher noch sprangen in wildem Ansturm die tollen Angreifer, prasselnden Geschoßhagel mit tosender Gewalt über Deck schleudernd.

Mit bang verhaltenem Atem und stockendem Herzen sah Eva Söllnitz jedesmal die haushohe, schwarzdräuende Wasserwand steil vor sich aufgetürmt, bereit, im nächsten Augenblick überzustürzen und das Fahrzeug mit ihrem vernichtenden Schwall zu begraben, das gerade in der Tiefe des Wellentals lag. Aber dann hob sich blitzschnell jedesmal der Bug des stolzen Schiffes und stieg hoch in den schwarzgrauen Sturmhimmel hinein, einen Augenblick oben auf den Wogenkämmen schwebend, um im nächsten wieder mit jähem Sturz in die Tiefe zu fahren. Ein unablässiges, ewig wiederkehrendes, schaurig-schönes Spiel.

Schweigend standen die beiden, ganz befangen von dem dämonischen Bann des grandiosen Kampfes der entfesselten Naturgewalten und dem Echo ihrer Empfindungen, das er wachrief.

Ein nie gekanntes heimlich-süßes Gefühl beschlich Eva Söllnitz jedesmal, wenn sie, vor dem drohend aufgetürmten Wellenberg erschreckend, unwillkürlich Hilfe suchend sich rückwärts beugte, bis sie Amthors Nähe spürte. Einmal bog sie sich ungewollt weiter als sonst zurück, so daß ihre Schulter sich einen Moment gegen seinen auf das Geländer gestützten Arm lehnte.

»Haben Sie Furcht?«

Sie fühlte den Hauch seines niedergebeugten Mundes warm an ihr Ohr schlagen. Ein süßes Rieseln überlief sie, während sie so mit geschlossenen Augen sekundenlang an ihm ruhte, und einen Augenblick war es ihm, als schmiegte sich ihre weiche Schulter noch mehr an ihn.

»Nein,« hörte er ihre Antwort nur wie ein Flüstern. »Nicht bei Ihnen.«

Da kam es jäh über ihn, daß er ihren zarten, ihm so vertrauensvoll hingegebenen Leib an sich hätte reißen mögen in einem ihn plötzlich überwältigenden Zärtlichkeitsausbruch. Doch seine noch wache Vernunft hieß seine Hand sich fester um das Geländer klammern.

Sie spürte mit leisem Erschrecken das Zucken in seinem Arm, und schnell beugte sie sich wieder nach vorn.

Keines sprach ein Wort, aber jedes fühlte: Es war da eben wie ein zündender Funke von einem zum anderen gesprungen. So standen sie in süß beklemmendem Schweigen weiter im Sturmbrausen.

Er spähte nach dem Ausdruck in ihren Zügen; aber sie stand so, daß er nur die weiche Linie ihrer Wange sehen konnte und das rosige Ohr, das die windgelösten Locken umflatterten. Und weiter, wie liebkosend, glitt sein Blick hinab an ihrer schlanken, noch so mädchenhaften Gestalt, die der silbergraue Gummimantel lose umschloß, beim Wehen des Sturmes sich dicht um ihre feinen Formen schmiegend. In einer heißen und doch reinen Verehrung umfing so sein Blick ihre ganze Erscheinung, deren Liebreiz ihm in dieser Stunde zum ersten Male zum Bewußtsein kam.

Bisher hatte sie ihn nur seelisch interessiert, ein inniges, aber ruhiges Freundschaftsgefühl hatte ihn zu ihr hingezogen; jetzt aber merkte er, wie ihre ganze Persönlichkeit, auch ihr äußeres Wesen, ihr holder Frauenreiz, auf ihn wirkten.

Vorhin, unter ihrer flüchtigen, sekundenlangen Berührung – das fühlte er jetzt mit steigender Gewißheit – war in ihm etwas zum Leben erwacht, was er noch nie gekannt hatte. Eine unwiderstehlich treibende Macht, so zart, so süß und doch so sturmgewaltig wie da draußen das aufbrandende Meer!

Seine Brust spannte sich in einem machtvollen endlosen Atemzuge, als wolle sie eherne Banden sprengen, die sie bisher eingeschnürt hatten; in seinen Armen zuckte es, als wollten sie sich blitzschnell ausstrecken, das Neue, Wonnevolle mit starker Hand an sich zu reißen, was da zu seligem Rausch lockte – aber plötzlich flog ein jähes Erblassen über Amthors Züge, und weit geöffnet starrten seine Augen hinaus ins weite, in das Nachtdunkel der Wetterwand hinten am Horizont – als käme von dort aus der düsteren Ferne, von der grauen Insel Thule her, ein bleicher Schemen geflogen, ein grausames Schreckgespenst, das nun mit seinen eiskalten Fittichen plötzlich über sein heißes Herz hinstrich und die zum Licht drängenden Keime im selben Augenblick unbarmherzig erstarren ließ.

Eva Söllnitz sah dieses jähe Erschrecken auf Amthors Zügen nicht; mit geschlossenen Augen bot sie ihr Antlitz dem Sturmwehen hin. Ein weltentrückter, selig-verträumter Ausdruck verklärte ihre Züge. Immer wieder durchlebte sie im Geiste den Moment vorhin, wie ihr seine zärtliche Frage ins Ohr geklungen war und wie dann sein Arm gezittert hatte unter ihrer Berührung. Mein Gott, was hatte das zu bedeuten? Sollte er doch anders als freundschaftlich für sie empfinden? Ihr war plötzlich, als tue sich mit einem Schlage eine ganz neue Welt vor ihr auf, eine Welt voll leuchtenden, flutenden Sonnenscheins, voll jubelnden Glücks. Und plötzlich klangen ihr seine Worte in der Seele, die er neulich abend zu ihr gesprochen, so fest, so zuversichtlich: »Glauben Sie mir, das Leben wird Sie entschädigen für das, was es an Ihnen getan hat!« – Ein heimliches Zittern überfiel sie: War das so gemeint? – Es begann ihr plötzlich zu schwindeln vor dem unwillkürlich über sie hereinbrechenden, überflutenden Glücksgefühle.

»Entschuldigen die Herrschaften, aber Herr Kap'tän lassen bitten, die Back zu räumen. Sie soll wegen des Sturmes ganz für Passagiere gesperrt werden.«

In höflichem Ton überbrachte der unbemerkt hinzugetretene Matrose die Meldung des Kapitäns der »Hamburg« an Dr. Amthor.

Sie leisteten der Aufforderung Folge und kehrten auf das Promenadendeck zurück. Aber es war ihnen beiden nicht danach zu Sinn, unter Menschen zu weilen. So trennten sie sich denn.

Es war ein hastiges, beklommenes Verabschieden, und sie vermieden es, sich dabei in die Augen zu sehen. Sie fühlten es ja beide nur zu gut, daß da zwischen ihnen unausgesprochen etwas war, was des erlösenden Wortes harrte. Eben hatte der Zufall die schon vor der Schwelle stehende Entscheidung noch einmal aufgehalten; aber die nächste Stunde des Alleinseins miteinander würde die Entscheidung bringen!

 


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