Paul Grabein
Der König von Thule
Paul Grabein

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III.

»Nun, gnädigste Frau, gute Nachrichten?«

Leutnant von Kreßmann fragte es Frau Söllnitz, die aus dem Postamt in Reykjavik herauskam. Er hatte sie, nach vielem Herumfragen, mit dem Regierungsrat glücklich hierher geführt.

»Gar keine.«

Enttäuscht und ein wenig besorgt kam die Antwort von ihren Lippen.

»O!« bedauerten die Herren.

»Mein Junge war nicht ganz wohl, als ich fortfuhr,« erklärte Frau Söllnitz ihre Besorgnis. »Es hätte mich daher sehr beruhigt, wenn ich ein Telegramm bekommen hätte. Sein Lehrer hatte mir auch fest versprochen, hierher zu depeschieren.«

»Sein Lehrer?« staunte der Leutnant im Weitergehen, und starrte die jugendliche, schlanke Frau ganz ungläubig an. »Haben gnädigste Frau denn schon einen schulpflichtigen Sohn?«

Frau Söllnitz mußte über sein verdutztes Gesicht lachen.

»Sogar einen, der bald in die Sexta kommt.«

»Wa–as?!« Dem Regierungsrat entfiel vor Entsetzen das Augenglas. Ja, nicht denkbar! Er hätte sie höchstens auf drei- oder vierundzwanzig taxiert. »Dann müssen Sie ja aber unglaublich früh geheiratet haben, Gnädigste!«

»Wahrscheinlich,« erwiderte sie nur ironisch.

Gedankenversunken gingen beide Herren schweigend neben ihr her. Sie hatte schon ein Kind, und dazu einen ganz großen Jungen! An den Gedanken mußten sie sich erst gewöhnen. Sie aber war wieder mit ihrem Sinnen daheim.

»Ich meine immer, es müßte hier doch noch irgendwo eine Nachricht für mich sein,« entfuhr es ihr unwillkürlich.

»Auf dem Schiff, beim Briefsteward haben Sie schon nachgefragt?« erkundigte sich Herr von Kreßmann, auf ihren Gedankengang eingehend.

»Natürlich, gleich heute morgen – aber nichts!«

»Hm!«

Auch der Regierungsrat sann nun nach.

»Hören Sie – ein Gedanke!« durchfuhr es ihn. »Wenn wir mal beim deutschen Konsul nachfragten?« wandte er sich an seine Begleiterin.

»Ja, das ist wahr! Vielen Dank. – Wenn sich die Herren noch mit mir dahin bemühen wollten –?«

»Aber mit Vergnügen!« versicherten beide eifrig, und so machte man sich von neuem auf die Suche.

Endlich war es gelungen, deutsch, englisch, dänisch radebrechend – was Anlaß zu viel Heiterkeit bot, sich auf den Straßen und in Kaufläden zurecht zu fragen. Der »tyske Konsul« war aufgefunden in Gestalt eines Kohlen-, Eisenwaren- und Tranhändlers en gros, namens Thorsten Gudbrandson; aber auch hier keine Depesche! Statt dessen die überraschende Mitteilung, daß eine solche auch noch gar nicht hier sein konnte, da nach Island kein Kabel führt, und Telegramme vom letzten schottischen Hafen aus weiter mit dem Postschiff befördert werden. Dieses war aber erst in vierzehn Tagen in Reykjavik zu erwarten.

»Donnerwetter, ja tadellose Verkehrsverhältnisse hier!« lachte Kreßmann, als sie wieder draußen waren. »Und das im zwanzigsten Jahrhundert! Einfach unglaublich!«

Die Heiterkeit und die Zusprache der Herren half Frau Söllnitz schließlich über ihre Besorgnis hinweg. Ihre Begleiter hatten gewiß recht: Es würde zu Hause schon alles in bester Ordnung sein. Der Junge war doch auch kein Baby mehr, sogar von einer recht robusten Gesundheit im allgemeinen. Da würde die kleine Erkältung oder Magenverstimmung bei ihrer Abreise ja längst wieder behoben sein. Der Lehrer, bei dem er in Pension war, war ja auch ein sehr sorgsamer, zuverlässiger Mann, ein guter Arzt war auch zur Hand – sie konnte also wirklich wohl wieder ganz ruhig sein.

So scheuchte denn also Frau Söllnitz alle Besorgnisse hinweg, und eilig schritt man nun dem Pferdedepot zu, wo der Aufbruch zum Ritt nach den heißen Quellen erfolgen sollte. Allerdings hatten sie sich durch ihre Wege eben stark verspätet; aber hoffentlich war die übrige Gesellschaft auch nicht so pünktlich gewesen.

Diese Hoffnung trog indessen. Als die drei am Rendezvous ankamen, war die Reiterkavalkade längst davon; nur ein Dutzend der isländischen Ponys stand noch in dem Gehege, daneben eine Gruppe von Männern, die sie bewachten.

»Was nun?«

Fragend sah der Regierungsrat die Leidensgefährten an.

»Das ist mir aber furchtbar peinlich, daß ich die Herren nun noch um das Vergnügen gebracht habe,« bedauerte Frau Söllnitz.

»Aber bitte!« beruhigte sie Görtz. »Doch was fangen wir nun an in dem Stumpfsinnsnest Reykjavik?«

Gelangweilt sah er die in der Tat nicht sehr amüsante, schnurgerade, ungepflasterte Straße hinab, zu beiden Seiten die niedrigen, barackenförmigen Wellblechhäuschen mit ihren unansehnlichen Fassaden.

»Wir wollen doch erst mal sehen, ob wir nicht noch nachreiten können. Ich werde einfach hier mal nach dem Weg fragen,« meinte der Leutnant. Er wollte doch seine eleganten breeches und gelben, lackledernen Reitgamaschen nicht umsonst angezogen haben; auch hatte er sich bereits mit einem hübschen Isabellenpferdchen streichelnd vertraut gemacht.

»Holla!« wandte er sich an die Leute, die, ohne sich um die Fremden zu kümmern, bei den Tieren standen, »wär so god – wer ar den vej til warme Killen?« redete er sie mit seinem eigenartigen Dänisch an, das er an Bord aus einem kleinen Reiseführer gelernt hatte, und auf das er nun nicht wenig stolz war.

Aber die Leute verstanden ihn nicht. Nach einigen weiteren resultatlosen Versuchen gab er, ärgerlich werdend, die Sache auf.

Suchend blickte er um sich. Seine schnarrende Leutnantsstimme hatte mit ihren ungewohnten Lauten noch einige Personen aus dem Laden des Hauses gelockt, vor dem sich das Pferdegehege befand. Es waren drei Männer oder Herren, von denen namentlich der eine, ein hochgewachsener Mann, in seinem englischen Touristenanzug mit Kniehose und Reitgamaschen ganz »zivilisiert« aussah.

»Ob ich den fremden Etranger da mal frage?« wandte sich Kreßmann halblaut an Frau Söllnitz. »Aber es ist offenbar ein Englishman, und Englisch kann ich nicht, würden Sie nicht so liebenswürdig sein, gnädige Frau?« Er wußte, daß sie sehr gut englisch sprach.

Frau Söllnitz fühlte sich als Reisekameradin zur Aushilfe verpflichtet; um so mehr, als die Herren ihretwegen um den Ritt zu kommen drohten. So näherte sie sich denn den drei Herren auf der Schwelle des Geschäfts, die, offenbar von ihnen sprechend, herübersahen, und redete den mutmaßlichen Engländer in seiner Muttersprache an.

Dieser aber zog, unter höflicher Verbeugung, seine Reitmütze und erwiderte, die Stufen herunterkommend:

»Ich spreche nur mangelhaft englisch; aber ich sehe, Sie sind ja Deutsche; so verständigen wir uns wohl so am besten. – Sie wünschen den Weg zu wissen, den Ihre Reisegefährten geritten sind? Ich könnte ihn Ihnen wohl sagen, aber Sie würden sich kaum zurechtfinden. Doch wenn es Ihnen recht ist, geleite ich Sie bis an die ›Warmen Quellen‹ – ich wollte ohnehin selbst jetzt aufbrechen.«

Höchst angenehm überrascht, einen so gut deutsch sprechenden Helfer in der Not gefunden zu haben, der sich sogar gleich als Führer anbot, dankte Frau Söllnitz herzlich. »Aber, wenn wir Ihre Zeit nur nicht zu sehr in Anspruch nehmen,« fügte sie hinzu.

»Auf Island hat man mehr Zeit, als einem oft lieb ist,« erwiderte aber der Fremde mit ernstem Lächeln. »Übrigens ist der Umweg über die Quellen für mich nur klein. Dort werden Sie ja dann wohl Ihre Gesellschaft einholen, denk' ich.«

Mit stummem Gruß trat nun der Fremde an den beiden Herren vorüber zu den Pferden, wo er zu des Leutnants starkem Verdruß sich gerade den Isabellenhengst herausholte – offenbar sein eigenes Pferd. Auch im Sattel- und Zaumzeug sah es stattlicher als die übrigen ziemlich struppigen Gäule aus. Ärgerlich suchte Kreßmann nach einem anderen Leibroß. Zu dumm! grollte er bei sich. Auf dem Isabellen hätte er eine so gute Figur gemacht vor Frau Söllnitz' kritischen Augen, die ja eine perfekte Reiterin sein sollte.

Auch die junge Frau war zwischen die Pferde getreten, von denen mehrere einen Damensattel trugen. Prüfend sah sie sich um; da trat der Fremde zu ihr.

»Hier nehmen Sie den Fuchs. Es ist ein gutes Tier,« riet er.

Dankend nahm Frau Söllnitz das Pferd, mit Hilfe des schnell herbeigeeilten Leutnants sich in den Sattel schwingend.

Nun waren auch die beiden Herren aufgesessen, und der Leutnant wollte recht forsch abreiten; aber sein Schimmel rührte sich nicht vom Fleck, drängte vielmehr dichter an die anderen Tiere heran. Kreßmann stieg das Blut zum Kopf, daß hier seine Reitkunst so diskreditiert werden sollte, wütend stieß er dem hartnäckigen Gaul die Absätze in die Rippen und hieb mit der Gerte; aber der schüttelte nur phlegmatisch den dicken Kopf.

Frau Söllnitz lachte hell auf.

»Infamer Schinder! Merkt natürlich, daß man keine Eisen hat!« wetterte der Leutnant.

»Hierzulande reitet niemand mit Sporen, und es geht auch so,« belehrte der Fremde, und in der Tat ging auf einen leisen Zuruf sein Pferd alsbald anstandslos aus dem Haufen heraus.

Wütend sah ihm Kreßmann zu; der Kerl war ihm höchst unsympathisch! Inzwischen hatten zwei der Leute sein und des Regierungsrats Pferd ergriffen und führten sie aus dem Gehege heraus. Frau Söllnitz' Tier schloß sich darauf freiwillig den aufbrechenden Gefährten an.

Der Fremde ritt an ihrer Seite, alsbald mit ihr die Spitze des kleinen Zuges nehmend.

»Die Ponys gehen ungern aus der Gesellschaft ihrer Kameraden,« erklärte er. »Es sind eben noch halbe Herdentiere, und sie werden meist im größeren Trupp geritten, da man auf Reisen hier immer Reserve- und Packpferde mitnimmt. Aber Sie werden sehen – sie gehen gut.«

Und er hatte recht. Auf einen neuen, hellen Zuruf setzten sich alsbald alle Tiere in Galopp, ein äußerst geschwindes, aber angenehmes Tempo. Es war wirklich zum Verwundern, wie die halbgroßen Pferde so fördernde Gänge hatten.

»Famos! Und man sitzt wie in der Wiege!« lobte, in Ritterlust erstrahlend, Frau Söllnitz. Sie saß in der Tat vorzüglich im Sattel, und, lange Zügel gebend, drängte sie, mit dem Absatz anklopfend, ihren Fuchs noch schneller vorwärts.

So kam der kleine Zug, in gestrecktem Galopp durch die Straße jagend, bald vor die Stadt hinaus und ritt nun über eine langgestreckte Bodenwelle, wo zwischen kleinem Felsgetrümmer auf dem spärlichen Graswuchs allenthalben Ponys in kleinen Trupps weideten.

»Sie sind gut bekannt hier,« wandte sich Frau Söllnitz nach längerer Pause wieder an ihren Begleiter. »Sie halten sich wohl schon längere Zeit in Island auf?«

»Ich bin hier ansässig.«

»Wie – immer?« staunend sah die junge Frau ihn an.

Ein leises Lächeln hellte das ernste Gesicht des Fremden für einen Moment auf.

»Ja – wundert Sie das?«

»Allerdings! Ich stelle es mir tödlich vor, hier zu leben.«

»Wenn man einen Beruf hat, läßt sich's überall leben.«

»Für einen Mann – vielleicht! Und was sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Arzt.«

Bei der kurzen Antwort huschte es wie ein Schatten über das Gesicht des Fremden.

»Arzt? Ja, dann freilich!«

Eine kurze Pause trat ein; dann nahm Frau Söllnitz wieder das Wort.

»Sie sprechen ein so ausgezeichnetes Deutsch; Sie haben sich gewiß längere Zeit in Deutschland aufgehalten? Wohl als Student?«

»Ich bin Deutscher von Geburt.«

Abermals traf ein staunender Blick der jungen Frau ihren Begleiter.

»Aber wie in aller Welt sind Sie denn hierher verschlagen worden? In diesen letzten Winkel der Welt?«

Diesmal entging die Verfinsterung seines Gesichtes Frau Söllnitz nicht. Sie merkte, daß ihre harmlos-neugierige Frage den Fremden offenbar peinlich berührte.

»Pardon!« bat sie, mit einem Lächeln sich und ihm über die Situation hinweghelfend. »Ich bin sehr inquisitorisch. Aber ich bitte natürlich, meine Frage nicht ernst zu nehmen.«

»O bitte –« beschwichtigte er. »Ihre Verwunderung ist ja durchaus berechtigt. Und ich säße auch nicht hier, wenn mich nicht besondere Umstände hergeführt hätten. Meine Mutter war eine Dänin, und so habe ich Beziehungen nach hier bekommen.«

»Ah so,« leichthin sagte sie es; aber dann schwieg sie, gleich ihm. Sie hatte das Empfinden, daß da doch noch etwas Besonderes hinter diesen nichtssagenden Beziehungen stecken müsse. Aber sie wollte natürlich nicht indiskret sein, und was ging es sie auch schließlich an?

So ritten sie lange Zeit schweigend nebeneinander her. Die Gegend ringsum war trostlos eintönig; eine dürre Ebene ohne Strauch und Baum. Nur dann und wann erhob sich vor ihnen eine Terrainwelle aus der Ebene, und man sah, wie sich auf ihrem Kamm als scharfe Silhouetten, frei gegen die Luft stehend, die Gestalten einzelner Reiter oder kleiner Trupps entlang bewegten.

»Hier auf Island reitet wohl alles?« nahm Frau Söllnitz das Gespräch wieder auf.

»Ja,« bestätigte ihr Begleiter. »Bei dem völligen Mangel an Holz auf der Insel – Sie wissen doch, Bäume kennt man hier bei uns nicht – hat man keine Wagen. Das Pferd ist daher das einzige Transportmittel. Männer, Frauen, Kinder – alles reitet hier. Es ist zugleich auch das einzige Vergnügen, das man hier hat.«

»Mein Gott, entsetzlich! Sterben Sie denn hier nicht vor Langerweile? Kein Theater, Konzert – nichts! Was fangen denn die Menschen hier bloß mit ihren langen Abenden an, namentlich im Winter?«

Der Fremde lächelte leise vor sich hin.

»Man besucht sich, musiziert und plaudert, oder liest zu Hause. Freilich – für verwöhnte Großstadtmenschen ist es hier ein zweites Sibirien, das glaub' ich wohl.«

»Ich stürbe hier binnen vier Wochen, oder würde verrückt! Das weiß ich ganz gewiß.« Ein wirklicher Schauder überlief die junge Frau.

Der Fremde sah sie mit seinen ernsten, prüfenden Blicken an.

»Für eine Natur wie die Ihre wäre das Leben hier freilich Gift. Auf Island weht eine rauhe Luft; nur das Gesunde und Starke dauert hier.«

Die Worte trafen sie. Lebhaft wandte sie sich ihm zu.

»Sie halten mich also für krankhaft und schwach?«

»Ja. Wie alle Großstadtmenschen.«

Ruhig hielt er ihren Blick stand. Das rief ihren Widerspruch nur noch mehr wach.

»Gewiß! Ich bin nervös, sensibel – ich geb' es zu. Unser Gesellschaftsleben bringt es mit sich. Aber muß darunter auch die Gesundheit der Gesinnung leiden?«

»Ich sage: Ja!«

»Sie sind sehr sicher in Ihrem Urteil!« warf sie ihm hinüber.

Die sarkastische Schärfe ihres Tones traf ihn nicht.

»Man geht nicht umsonst in die Wüste,« erwiderte er ernst und ruhig. »Man lernt in der Einsamkeit das Leben und die Menschen leidenschaftslos bewerten.«

Es wehte sie aus seinen Worten eine stille Resignation an, die ihre Gereiztheit wieder verfliegen ließ.

»Sie haben früher auch in der Großstadt, in der Gesellschaft, gelebt?« Eine leise Teilnahme sprach aus ihrer Frage.

»Ja – und ich war kulturkrank wie Sie. Sie sehen: ich habe daher vielleicht ein gewisses Recht, so zu sprechen.«

Wieder stockte das Gespräch. Die junge Frau hing ihren Gedanken nach. Ein merkwürdiger Mensch! Was mochte ihn aus dem vollen Leben hinausgetrieben haben in die Einsamkeit hier? Bei seinen doch noch jungen Jahren! Sie schätzte ihn höchstens Ende dreißig.

»Und Sie sind nun glücklich geworden, hier in Ihrer Wüste?« fragte sie nach einer Weile, zu ihm aufsehend.

Er antwortete nicht gleich.

»Glücklich?« gab er dann langsam zurück. »Davon sprach ich nicht. Aber die Kraft, über alles Leid des Lebens mit stillem Lächeln hinwegzuschreiten, das ist ja wohl ebenso gut – vielleicht sogar noch besser.«

Wieder erschauerte die junge Frau im Innersten.

»Eine trostlose Anschauung!« rief sie impulsiv aus. »Nein, nein – ohne den Sonnenschein des Glücks gibt es kein wahres Leben! Was Sie da preisen, ist die traurige Weisheit des Alters, dem alle Lebensfrische schon verdorrt ist. Aber solang das Herz noch jung ist, schreit es nach Glück – nach etwas, an das es sich hängen kann mit seinem Sehnen und Hoffen, mit seinen innersten Fasern!«

Es war etwas geheim Leidenschaftliches in ihrer Stimme, so daß er nun teilnehmend forschend den Blick auf sie heftete, auf ihr feines Gesicht, in dem es da eben so schmerzlich aufzuckte. Das war der leise Aufschrei einer suchenden Seele, die dem Glück in blindem Irren nachjagte. Mochte es sie noch nie berührt – mochte es sie schon betrogen haben? Er hatte sie erst für unverheiratet gehalten; nun aber glaubte er, eine Frau in ihr sehen zu sollen, eine Frau, die in ihrer Ehe vielleicht schwer enttäuscht worden war.

»Sie haben wohl recht,« ging er leiser auf ihre Worte ein; sie mochten ein Echo des Empfindens auch bei ihm wachgerufen haben. »Das Herz schreit nach seinem Glück; aber es lernt still werden – und es ist besser so. Denn das Glück trügt.«

»Ich weiß es nur zu wohl.« Eine tiefe Bitterkeit klang aus ihrer Stimme. »Aber trotzdem – wer das Hoffen verlernt hat, ist ein verlorener!«

»Ein Verlorener.« Langsam und schwer wiederholte er die Worte, wie zu sich selbst, und versank dann wieder in ein ernstes, fast düsteres Schweigen.

Dann senkte sich das Gelände zu einer flachen Talmulde hinab, und vor ihnen tauchten, dort unten auf dem Grunde, einige flache Schuppen auf, vor denen sich Menschen zu schaffen machten. Dichte, weiße Wolken, wie aus einer Waschküche, stiegen bei ihnen aus dem Erdboden auf. Der Fremde wies darauf hin und wandte sich an Frau Söllnitz:

»Ihr Ziel – die heißen Quellen.«

»Ah, wirklich!« Interessiert trieb die junge Frau ihr Tier schneller an, näher an den Ort zu kommen. Das aus dem vulkanischen Erdinnern hier hervorbrechende heiße Wasser, das die weißen Dämpfe in die Luft sandte, floß als ein kleiner Bach am Tageslicht weiter, nun so weit abgekühlt, daß die Frauen da vor ihnen darin waschen konnten.

»Eine Naturwaschküche!« lachte Frau Söllnitz, sich zu den Herren wendend. »Island ist uns in der Beziehung also voraus.«

»Ganze Insel mit Warmwasserheizung versehen – einfach tadellos!« trieb der Leutnant den Scherz noch weiter und ritt dicht an die waschenden Frauen und Mädchen heran, die kichernd auf den monokeltragenden Fremdling sahen, »Was waschen denn die Ladies übrigens? Zeugs sieht ja merkwürdig aus!«

»Schafwolle,« gab ihr Führer kurz Auskunft und wies auf die in langen Reihen auf dem Rasen ausgebreiteten gelbweißen Strähnen hinter dem Schuppen.

»Also das wären die berühmten Warmen Quellen,« sagte der Regierungsrat, sein Pferd an das der jungen Frau treibend. »Aber wo ist unsere Reisegesellschaft geblieben? Offenbar schon über alle Berge!« und er schickte seinen Blick suchend am Horizont herum.

»Ihre Schiffsgefährten sind schon vor einer halben Stunde etwa hier gewesen und in jener Richtung weitergeritten, wie ich eben von den Frauen höre,« ging der Fremde auf des Regierungsrats Worte ein und wies nach links hinüber, »vermutlich zu dem kleinen Wasserfall da drüben.«

Frau Söllnitz folgte mit den Augen seiner Hand. Keine Spur eines Wegs war zu sehen.

»Ja – wie finden wir aber dahin?« Fragend blickte sie ihren Gefährten an.

Der Fremde aber zog überlegend seine Uhr; dann wandte er sich wieder den unschlüssig dastehenden drei zu.

»Wenn Sie meine Führung noch weiter annehmen wollen – ich stehe gern zu Diensten.«

Die Herren zögerten mit der Antwort. Sie wären viel lieber allein mit der jungen Frau gewesen; aber diese erwiderte schon statt ihrer:

»O, Sie sind wirklich zu liebenswürdig, wenn wir wirklich noch länger Ihre Zeit in Anspruch nehmen dürfen!«

»Ich versäume nichts,« erklärte ihr Führer, und schon begann er die Richtung zum Wasserfall hin einzuschlagen.

»Übermäßige Höflichkeit drückt diesen edlen Isländer, oder was er sonst ist, auch gerade nicht!« meinte Kreßmann, ziemlich mißvergnügt mit seinem Freunde Görtz den beiden anderen nachreitend. Es ging steil bergan, daher im Schritt. »Übrigens spricht der Kerl für einen Ausländer ein ganz phänomenales Deutsch.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Er scheint aber doch hier zu Haus zu sein. Er redet ja isländisch wie Wasser und kennt jeden Winkel hier. Für was taxieren Sie den Menschen?«

Der Leutnant zuckte geringschätzig die Schulterm

»Tran en gros oder Hering! Was anders jibt's ja hier oben nicht.«

»Wahrhaftig, eine gottverlassene Gegend!« bestätigte der Regierungsrat und ließ den Blick über die Steinfelder rechts und links schweifen. »Die reine wüste Sahara! Ich verstehe nicht, was die Leute von Island immer für 'nen Summs machen, von Poesie – Stimmung doch keine Spur!«

Die Gegend blieb lange unverändert eintönig, dann belebte sie sich etwas für das Auge durch einen kleinen Flußlauf, der sich durch den steinigen Boden gefressen und so steile, wild zerrissene Ufer geschaffen hatte. An einer flacheren Stelle kam eine Furt, wo sie durch den Fluß hindurchreiten mußten. Das Wasser spritzte unter den Hufen der hindurchstampfenden Tiere bis an die Gurten, zum Vergnügen der drei Neulinge.

»Brücken gibt es in Island nicht,« bemerkte der Fremde zu Frau Söllnitz. »So durchqueren wir hier alle Ströme, die tieferen im Schwimmen der Pferde.«

»Nun, der Bach hier ist ja harmlos genug,« lächelte Frau Söllnitz, aufs Trockene reitend.

»Nicht immer! Ein Wolkenbruch droben auf den Bergen, wie er hier keine Seltenheit ist, und Sie erkennen eine Stunde darauf dieses zahme Wasser nicht wieder. Ein donnernder, tosender Fluß braust dann hier dahin, alles überflutend und schweres Geröll mit sich wälzend. An einen Übergang ist dann gar nicht zu denken. Mitunter, bei unseren großen Regenperioden sogar recht häufig, hält das Hochwasser wochenlang an. Dann ist man eben drüben vom Verkehr völlig abgeschnitten. – Da haben Sie so eine kleine Vorstellung vom wahren Charakter der Natur hier. Ihre phlegmatische Physiognomie, wie Sie sie heut' sehen, trügt. Es steckt ein innerlich loderndes Wesen in diesem feuergeborenen Lande.«

»Eine Natur also, die man lieben lernen kann,« entgegnete Frau Söllnitz. »Ich wenigstens habe eine Vorliebe für verhaltene Temperamente.«

»Lieben und fürchten zugleich,« ergänzte ihr Begleiter ihre Worte. »Denn die Natur hier ist schrecklich in den Ausbrüchen ihrer Leidenschaft, wenn der Leib dieser alten Insel, von vulkanischen Wehen zerrissen, zuckt, wenn die Feuerströme aus Bergschlünden ihre Lohe, Verderben und Tod bringend, weithin ins Land wälzen, wenn furchtbare Orkane, rasende Sandstürme den einsamen Wanderer in der Einöde niederwerfen oder in heulender Gier das Schiff draußen an den Klippen zerschmettern – dann gehört ein starker Mut dazu, dieser Natur ruhig ins Antlitz zu sehen!«

Frau Söllnitz blickte in sein ernstes, männliches Gesicht. Sie hatte in diesem Moment das Empfinden: Er war einer, der es konnte. Er war in seiner Seele dieser Natur verwandt. Sie konnte ihn sich vorstellen, wie er mit seiner hohen, kraftvollen Gestalt unerschüttert gegen das Toben des Wirbelsturmes ankämpfte, immer den gleichen, unveränderten Ausdruck selbstsicherer Ruhe und Stärke in seinen Zügen – kein Ermatten, kein Verzagen kennend.

»Sie sprechen schön von diesem rätselhaften Lande,« erwiderte sie ihm. »Seine Schrecken haben Ihre Liebe zu ihm nicht beeinträchtigt.«

»Ja, ich liebe es!« Seine Stimme nahm einen wärmeren Klang an. »Wie man eben jemand unter Schmerzen lieb gewinnt – doppelt lieb! Sie als Frau werden es ja am ersten verstehen: Schmerzenskinder sind uns die liebsten.«

Ein Schatten flog, ihm unbemerkt, über ihre Züge, und sie antwortete nicht.

Dann waren sie zu dem Wasserfall gekommen, ein paar breiten, doch niedrigen Kaskaden des Flußlaufs; aber die Schiffsgesellschaft war auch hier schon wieder verschwunden. So beschloß man denn, nach Reykjavik umzukehren.

Der Ritt brachte den kleinen Trupp wieder der Meeresbucht nahe. Allmählich gelangte man auf gebahntere Wege zurück, und die beiden, bis dahin zurückgebliebenen Herren setzten sich neben Frau Söllnitz und ihren Begleiter. Die Unterhaltung wurde allgemein und geriet bald auf den üblichen scherzhaft-leichten Ton; nur der Fremde verstummte, ihm lag offenbar die spielend dahingleitende, weltmännische Konversation nicht. Die beiden Herren kümmerten sich indessen wenig darum; im Gegenteil, es kam ihnen das so ganz in der Ordnung vor. Sie waren ja lange genug durch ihn in das Hintertreffen gedrückt worden; nun geschah ihm mit Recht das Gleiche.

Das Gespräch drehte sich um die Reisegesellschaft.

»Na, ich möchte ja bloß den teuren Gottesmann den Gaul klemmen sehen!« witzelte der Leutnant zu dem Regierungsrat. Er meinte den Superintendenten Morhaas, der mit seiner Frau auch die Reise mitmachte.

»Erlaubt ihm denn überhaupt die bessere Hälfte, das Streitroß zu besteigen?«

»Sie wird ihm schon ein frommes Rößlein ausgesucht haben, das nicht wider den Stachel löckt.«

»Gleich ihm selber! Die Gestrenge führt über den Seelenhirten ja ein christlich Regiment.«

»Beschreien Sie's nur nicht!« scherzte Frau Söllnitz. »Wer weiß, wie bald Sie den Pantoffel küssen!«

»Wenn's ein süßes Seidenpantöffelchen ist – gar nicht abgeneigt!« warf keck der Leutnant ein und sah nach dem kleinen Fuß der jungen Frau im Bügel, der unterm Saum ihres Kostümrocks hervorlugte.

»Sie waren gar nicht gefragt!« verwies sie ihn, anscheinend scherzhaft; aber eine kleine Falte zwischen den Brauen wurde sichtbar, während sie den Fuß anzog und zugleich mit der Gerte seinem Pferd unversehens einen leichten Hieb versetzte, daß es erschreckt zur Seite sprang.

Vor ihnen tauchte dann aus einer kleinen Talsenkung ein Gehöft auf; Frau Söllnitz' Blick fiel zufällig darauf. Es war ein im Viereck gebauter größerer Hof, und sie hätte ihn für einen Gutssitz gehalten, wenn nicht die kahlen, hohen Mauern ringsum diesen Eindruck wieder zerstört hätten. Das sah ja eher nach einem Gefängnis aus. Merkwürdig!

Der Weg, den sie eingeschlagen hatten, führte gerade auf diese Baulichkeit zu.

»Was ist das da vorn für ein sonderbares Gebäude?« wandte sie sich fragend an ihren Begleiter zur Rechten.

»Ein Haus der Trübsal,« kam sehr ernst seine Antwort. »Dort wohnen lebendig Begrabene.«

Mit großen Augen sah sie ihn an. Sie verstand den Sinn seiner dunklen Worte nicht; aber doch kroch sie in diesem Augenblick ein geheimes Grauen an. Dann flog ihr Blick wieder zu dem Haus nach vorn, dem sie immer näher kamen.

»Sie meinen ein Gefängnis – Zuchthaus?«

Er schüttelte schweigend den Kopf.

»Was dann aber?« Immer größer ward ihre unheimliche Spannung.

»Forschen Sie nicht,« bat er. »Die sich des Lebens in Freiheit freuen, tun besser, nicht danach zu fragen. Zudem – es könnte Sie reuen, in meiner Gesellschaft gewesen zu sein.«

Ein finsteres Lächeln spielte um seinen Mund.

»Sie und das Haus gehören zusammen?«

Wieder nur ein stummes Bejahen.

»So lüften Sie nur ruhig Ihre Maske!« bat sie scherzend, mit einem Lächeln. »Mit dem Tod in Person werde ich ja wohl nicht spazieren geritten sein.«

»So ungefähr doch!« ging er mit etwas grimmigem Scherz auf ihren Ton ein. »Sie werden meine Gesellschaft kaum noch schätzen, wenn Sie wissen, wer ich bin.« Eine tiefe Bitterkeit klang aus seiner Stimme.

»Sie verkennen mich ganz,« antwortete sie fest. »Und nun reizen Sie meine Neugier nicht länger – bitte!«

Da wandte er sich zu ihr, und ein durchdringender, tief-ernster Blick traf sie:

»Dies Haus da ist das Lepraheim, und ich bin sein Arzt.«

Er sah, wie sie unwillkürlich zusammenzuckte, als wolle sie von ihm wegweichen.

»Lepra? – Pfui Deibel!« schüttelte sich der Leutnant. »Angenehme Sache das!«

Das grimmige Lächeln trat wieder auf die Züge des Fremden.

»Sagte ich's Ihnen nicht?« wandte er sich zu Frau Söllnitz. »Es wäre besser gewesen, wenn Sie nicht gefragt hätten.« Schneller trieb er sein Pferd vorwärts. »Nun, ich werde Sie ja gleich von meiner Gesellschaft befreien.«

Aber auch Frau Söllnitz beschleunigte nun ihr Tempo; sie war wieder an seiner Seite. Sie schämte sich ihrer momentanen Anwandlung von Schwäche.

»Pardon, Herr Doktor,« bat sie. »Sie tun mir unrecht. Ich bitte, bleiben Sie noch bei uns!«

Doch sie waren nun schon vor dem Haus angelangt. Starr und hoffnungslos blickte die junge Frau die hohen, kahlen Mauern an, die die Welt abschlossen von jenen Unglückseligen, die dahinter hausten als verlorene – Todgeweihte. Sie besann sich jetzt, ja auch in einem Reisebuch gelesen zu haben, daß auf Island noch der Aussatz herrscht – jene düstere Hinterlassenschaft des Mittelalters, die alle europäischen Länder sonst glücklich ausgerottet haben.

Ihr Begleiter war inzwischen schon vom Pferd gesprungen.

»Es ist besser, ich verabschiede mich,« beharrte er auf seinem Entschluß. »Sie können nun auch nicht mehr fehlgehen. Dort sehen Sie schon die Häuser von Reykjavik vor sich.«

Er wies in die Ferne, wo in der Tat am Strand der Bucht kleine Baulichkeiten sichtbar wurden.

»Also hier hausen Sie!«

Der Blick der jungen Frau schweifte über das Gehöft hin und dann zu ihm; ein warmes Mitleid überkam sie plötzlich mit dem ernsten, vereinsamten Mann. Was mochte er erfahren haben in seinem Leben, daß er hierhin geflüchtet war, um unter den lebendig Begrabenen zu weilen, selbst fast wie einer von ihnen? Und plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. Sie wollte das gut machen von vorhin.

»Ist Fremden der Zutritt zu diesem Heim gestattet?«

»Gewiß, unter meiner Führung. Aber es begehrt niemand danach – außer bisweilen einer von den Angehörigen.«

»So möchte ich die Anstalt sehen!«

Überrascht sah er zu ihr auf. Dann aber wurde seine Miene ernst und streng. Er hielt ihren Wunsch nur für eine exzentrische Laune. Eben noch in tändelndem Geschwätz mit diesen Laffen, reizte es sie nun einmal, neugierig einen Blick in diese Stätte des Elends zu tun. Aber sie irrte sich in ihm; er war für solche Anwandlungen nicht zu haben.

»Ich bedaure sehr,« lehnte er daher ihren Wunsch kurz ab. »Der Eintritt ist nicht möglich.«

»Wieso?« staunte sie. »Sie sagten doch eben –«

»Ganz recht! Für Besucher mit ernstem Interesse, Ärzte und Behörden, steht die Besichtigung offen. Aber das Unglück dieser Armen ist kein Schaustück für die Neugier.«

In Frau Söllnitz' Antlitz schoß eine tiefe Röte. Ihr das zu sagen! Daß ihre gutherzige Rührung so gelohnt wurde! Und mit kaltem Ton antwortete sie, ihr Pferd an den Zügel nehmend:

»Sie irren sich völlig in meinem Motiv, Herr Doktor. Ihre Belehrung war also am falschen Platze. – Besten Dank im übrigen für Ihre Führung!« –

Etwas betroffen sah er zu ihr auf.

Aber mit einer stolzen Neigung des Kopfes verabschiedete sie sich schnell und galoppierte zu den beiden Herren hin, die eben herankamen.

 


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