Iwan Gontscharow
Oblomow
Iwan Gontscharow

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Vierter Teil

 

I.

Seit Ilja Iljitschs Krankheit war ein Jahr vergangen. Viele Veränderungen hatte dieses Jahr an verschiedenen Stellen des Erdballs hervorgerufen: hier war ein Land in Auffuhr geraten, dort hatte sich ein andres beruhigt; hier war ein leuchtendes Gestirn der Welt untergegangen, dort hatte ein anderes zu strahlen begonnen; hier hatte die Welt ein neues Geheimnis des Daseins erkannt, und dort waren Häuser und ganze Geschlechter in den Staub gesunken. Wo das alte Leben zusammengestürzt war, da drängte sich wie junges Grün neues Leben hindurch . . .

Auf der Wyborger Seite im Hause der Witwe Pschenizyna waren zwar die Tage und Nächte friedlich dahingeflossen, ohne in das einförmige Leben plötzlich stürmische Veränderungen hineinzutragen, und die vier Jahreszeiten hatten ihre Funktionen genau so wiederholt wie im vorhergehenden Jahre; aber doch war auch hier das Leben nicht stehen geblieben; es hatte sich in seinen Erscheinungsformen verändert; aber diese Veränderungen hatten sich so langsam und allmählich vollzogen, wie die geologischen Umwandelungen unseres Planeten: hier zerfällt sachte ein Berg; dort führt das Meer ganze Jahrhunderte lang Schlamm heran, oder es tritt vom Ufer zurück, so daß ein Zuwachs an Erdboden entsteht.

Ilja Iljitsch war wieder gesund geworden. Der Bevollmächtigte Saterty hatte sich auf das Gut begeben und das für das Getreide eingenommene Geld vollzählig übersandt; aus dieser Summe waren ihm die Reisekosten, die Diäten und eine Gratifikation für seine Mühe gezahlt und er so befriedigt worden.

Was den Pachtzins anlangte, so hatte Saterty geschrieben, es sei unmöglich, dieses Geld einzutreiben; die Bauern seien zum Teil ganz heruntergekommen, zum Teil nach verschiedenen Orten davongegangen, und man wisse nicht, wo sie sich befänden; er stelle eifrige Nachforschungen nach ihnen an.

Über die Fahrstraße und die Brücken schrieb er, das habe noch Zeit; die Bauern fuhren lieber mühsam über den Berg und durch die Schlucht nach dem Marktflecken, als daß sie bei dem Bau der neuen Fahrstraße und der Brücken arbeiteten.

Kurz, Ilja Iljitsch war von den empfangenen Nachrichten und dem empfangenen Gelde befriedigt, sah keine zwingende Notwendigkeit selbst hinzufahren, und fühlte sich in dieser Hinsicht bis zum nächsten Jahre beruhigt.

Der Bevollmächtigte traf auch Anordnungen in betreff des Hausbaues. Nachdem er in Gemeinschaft mit dem Gouvernements-Baumeister die Quantität der erforderlichen Materialien festgesetzt hatte, erteilte er dem Dorfschulzen den Befehl, zu Beginn des Frühlings das Holz anzufahren, und ließ einen Schuppen für die Ziegelsteine bauen, so daß Oblomow weiter nichts zu tun brauchte, als im Frühling hinzureisen und den Bau mit Gottes Hilfe in seiner Gegenwart beginnen zu lassen. Es war in Aussicht genommen, zu dieser Zeit den Pachtzins einzutreiben, und außerdem war die Aufnahme einer Hypothek auf das Gut ins Auge gefaßt worden; mithin war dann zur Bestreitung der Ausgaben Geld vorhanden.

Nach der Krankheit war Ilja Iljitsch lange Zeit düster; er überließ sich ganze Stunden lang einem krankhaften Vorsichhinbrüten, antwortete manchmal nicht auf Sachars Fragen und bemerkte es nicht, wenn dieser Geschirr auf den Fußboden fallen ließ und den Staub nicht vom Tische abwischte. Und wenn die Wirtin an Festtagen mit einer Pastete bei ihm erschien, traf sie ihn nicht selten weinend an.

Dann trat an die Stelle des lebhaften Schmerzes allmählich eine stumme Gleichgültigkeit. Ilja Iljitsch sah stundenlang zu, wie es schneite, und wie der Schnee auf dem Hofe und der Straße große Wehen bildete, wie er das Brennholz, die Hühnerställe, die Hundehütte, das Gärtchen, die Gemüsebeete bedeckte, wie aus den Zaunpfählen Pyramiden wurden, und wie alles erstarb und sich in ein Leichentuch hüllte.

Lange konnte er zuhören, wie die Kaffeemühle rasselte, wie der Hund an der Kette hin und her sprang und bellte, wie Sachar die Stiefel putzte, und wie das Pendel gleichmäßig tickte.

Wie früher kam manchmal die Wirtin zu ihm herein mit der Frage, ob er nicht dies oder das kaufen oder eines ihrer Gerichte probieren wolle; auch die Kinder der Wirtin kamen hereingelaufen. Er redete mit der ersteren gleichmütig-freundlich, stellte den letzteren Aufgaben, hörte zu, wie sie lasen, und lächelte matt und gezwungen zu ihrem kindlichen Geplauder.

Aber der Berg sank allmählich zusammen, das Meer trat vom Ufer zurück oder stieg an ihm in die Höhe, und Oblomow kehrte nach und nach wieder zu seiner früheren gewöhnlichen Lebensweise zurück.

Der Winter verging müde und langweilig. Aber Oblomow wartete wieder auf den Frühling und malte sich seine beabsichtigte Reise nach dem Gute aus.

Im März wurden Lerchen gebacken; im April wurden bei ihm die Doppelfenster herausgenommen, und man teilte ihm mit, daß die Newa aufgegangen sei und der Frühling anbreche.

Er wanderte im Garten umher. Dann fing man auf dem Gemüsefelde zu pflanzen an; es kamen verschiedene Feiertage. Der erste Mai, der Semik, Pfingsten: alle wurden durch Kränze und Birkenzweige hervorgehoben, auch trank man im Wäldchen Tee.

Zu Anfang des Sommers begann man im Hause von zwei großen bevorstehenden Festtagen zu sprechen: von dem Johannistage, dem Namenstage des Bruders, und von dem Eliastage, dem Namenstage OblomowsD. i. der 24. Juni bezw. der 20. Juli. Johannes – Iwan, Elias – Ilja. Anm. d. Übers. das waren zwei wichtige bevorstehende Ereignisse. Und so oft die Wirtin auf dem Markte eine recht schöne Kalbskeule kaufte oder zu sehen bekam oder ihr eine Pastete besonders gut geriet, pflegte sie zu sagen: »Ach, wenn ich doch am Johannis- oder am Eliastage eine solche Kalbskeule bekäme oder eine solche Pastete zustande brächte!«

Man begann von dem Eliasfreitage und von dem alljährlich an diesem Tage unternommenen Spaziergange nach der Pulvermühle und von dem Feste auf dem Smolensker Kirchhofe in Kolpino zu sprechen.

Vor den Fenstern ließ sich von neuem das laute Glucksen der Henne und das Piepen einer neuen Generation von Küchlein vernehmen; es kam die Zeit der mit jungen Hühnern und frischen Pilzen gefüllten Pasteten und der frischen Salzgurken; bald erschien auch das Beerenobst.

»Das Gekröse ist jetzt nicht mehr gut«, sagte die Wirtin zu Oblomow; »gestern verlangten sie für ein kleines siebzig Kopeken. Dagegen gibt es frischen Lachs; man kann, wenn man will, jeden Tag Botwinja machen.«

Die wirtschaftliche Abteilung im Hause der Frau Pschenizyna stand auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe, nicht nur weil Agafja Matwjejewna eine ideale Hausfrau war und dies ihren Beruf ausmachte, sondern auch deshalb, weil Iwan Matwjejewitsch Muchojarow in gastronomischer Hinsicht ein großer Epikureer war. In seiner Kleidung und Wäsche war er mehr als nachlässig: seine Anzüge trug er viele Jahre lang und gab für die Anschaffung eines neuen nur mit Widerstreben und Ärger Geld aus; er hängte seine Kleider nicht sorgsam auf, sondern warf sie in einem Haufen in die Ecke. Die Wäsche wechselte er wie ein gewöhnlicher Arbeiter nur Sonnabends; aber was Essen und Trinken anlangte, so kargte er nicht mit dem Gelde.

Er ließ sich dabei zum Teil von einem Axiom leiten, das er selbst sich seit seinem Eintritt in den Staatsdienst zurechtgemacht hatte: »Was man im Bauche hat, sehen die Leute nicht und können daher auch keine Dummheiten darüber reden; eine schwere Uhrkette dagegen, ein neuer Frack, glänzende Stiefel, all dergleichen ruft überflüssiges Gerede hervor.«

Infolgedessen erschien bei Pschenizyns Kalbfleisch von bester Qualität, bernsteinfarbener Stör, vorzügliche Schneehühner. Er ging manchmal selbst auf dem Markte oder in den Delikatessenläden umher und beschnüffelte alles wie ein Hühnerhund; unter dem Rockschoße brachte er die beste Poularde, die er finden konnte, nach Hause, und ließ sich vier Rubel für eine Pute nicht leid sein.

Wein nahm er von der »Börse«, verwahrte ihn selbst und holte ihn selbst hervor; aber auf dem Tische bekam von Getränken nie jemand etwas anderes zu sehen als eine Karaffe mit Schnaps, der auf Johannisbeerblättern angesetzt war; der Wein aber wurde in der Giebelstube getrunken.

Wenn er mit Tarantjew zu den Fischern ging, so steckte in seinem Paletot immer eine Flasche feiner Madeira, und wenn sie im »Etablissement« Tee tranken, so brachte er seinen eigenen Rum mit.

Das allmähliche Sinken oder Steigen des Meeresbodens und das Zerfallen des Berges vollzog sich an allem und unter andrem auch an Anisja: die gegenseitige Zuneigung Anisjas und der Wirtin verwandelte sich in eine unzerreißbare Verbindung, in eine einzige Existenz.

Da Oblomow sah, wie sehr sich die Wirtin für seine Angelegenheiten interessierte, machte er ihr einmal in Form eines Scherzes den Vorschlag, alle Sorgen um seine Beköstigung auf sich zu nehmen und ihn so von all diesen Verdrießlichkeiten und Scherereien zu befreien.

Ein Ausdruck von Freude breitete sich über ihr Gesicht aus; sie lächelte sogar mit Bewußtsein. Wie erweiterte sich dadurch der Kreis ihrer Tätigkeit: statt einer Wirtschaft bekam sie nun zwei Wirtschaften, oder vielmehr eine gewaltig große! Außerdem gewann sie dadurch Anisja als offizielle Helferin.

Die Wirtin besprach die Sache mit dem Bruder, und am andern Tage wurde aus Oblomows Küche alles in die Küche der Frau Pschenizyna hinübergeschafft; sein Silberzeug und sein Geschirr wanderte in ihr Büfett; Akulina aber wurde aus einer Köchin zu einer Hühner- und Gemüsemagd degradiert.

Alles wurde nun auf einen großen Fuß gebracht; der Einkauf von Zucker, Tee und allen sonstigen Lebensmitteln, das Einsalzen der Gurken, das Einlegen von Äpfeln und Kirschen, das Einkochen von Obst, alles nahm großartige Dimensionen an. Agafja Matwjejewna wuchs bedeutend, und Anisja bewegte ihre Arme wie ein Adlerweibchen die Flügel; das Leben brauste und strömte wie ein Fluß.

Oblomow aß mit der Familie um drei Uhr zu Mittag; nur der Bruder aß besonders, später, meist in der Küche, weil er erst sehr spät aus dem Bureau kam.

Tee und Kaffee wurden Oblomow von der Wirtin selbst gebracht und nicht von Sachar.

Der letztere wischte, wenn er wollte, Staub, und wenn er es nicht wollte, so kam Anisja wie ein Wirbelwind ins Zimmer hereingeflogen; zum Teil mit der Schürze, zum Teil mit der bloßen Hand, ja beinah mit der Nase blies und wedelte und wischte sie in einem Augenblicke alles ab, räumte auf und verschwand wieder; oder es blickte auch die Wirtin selbst, wenn Oblomow in den Garten gegangen war, in sein Zimmer hinein, wiegte, wenn sie Unordnung fand, den Kopf tadelnd hin und her, brummte etwas vor sich hin, schüttelte die Kissen auf, so daß sie wie ein Berg dalagen, musterte zugleich die Überzüge, flüsterte wieder vor sich hin, daß sie gewechselt werden müßten, und zog sie ab, wischte die Fenster, schaute hinter die Sofalehne und ging wieder hinaus.

Das allmähliche Sinken des Meeresbodens, das Zerfallen des Berges, die Anhäufung von Schlamm mit einer Beigabe von leichten vulkanischen Ausbrüchen, alles dieses vollzog sich am allermeisten in Agafja Matwjejewnas Schicksal, und niemand bemerkte das, am wenigsten sie selbst. Es machte sich nur durch die bedeutenden, unerwarteten und endlosen Folgen wahrnehmbar.

Woher kam es, daß sie seit einiger Zeit sich so leicht aufregte? Woher kam folgendes: wenn früher der Braten anbrannte oder der Fisch in der Fischsuppe zu sehr gekocht war oder kein Grünzeug an die Suppe getan war, so erteilte sie Akulina zwar in strengem Tone, aber doch mit Ruhe und Würde einen Verweis und vergaß die Sache wieder; wenn aber jetzt etwas Ähnliches vorkam, sprang sie vom Tische auf lief in die Küche, überschüttete Akulina mit einer ganzen Flut der bittersten Vorwürfe und schmollte nachher sogar eine Weile mit ihr; am nächsten Tage aber paßte sie selbst auf, ob auch Grünzeug hinzugetan sei und der Fisch nicht zerkochte.

Man wird vielleicht sagen, sie habe sich geschämt, auf wirtschaftlichem Gebiete, also auf demjenigen, auf welches sich ihre Tätigkeit und ihr Ehrgeiz konzentrierten, in den Augen eines Fremden als nachlässig zu erscheinen!

Gut! Aber warum fielen ihr früher meist um acht Uhr abends die Augen zu, und warum legte sie sich um neun, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht und revidiert hatte, ob auch das Feuer in der Küche ausgelöscht, die Schornsteine geschlossen und alles aufgeräumt sei, selbst schlafen, worauf dann kein Kanonenschuß sie vor sechs Uhr hätte wecken können?

Jetzt aber, wenn Oblomow ins Theater gefahren war oder sehr lange bei Iwan Gerasimowitsch saß und spät abends noch nicht zurück war, konnte sie nicht schlafen; sie wälzte sich von einer Seite auf die andre, bekreuzte sich, seufzte, schloß die Augen – aber der Schlaf kam nicht, schlechterdings nicht!

Sowie auf der Straße etwas polterte, hob sie den Kopf in die Höhe; manchmal sprang sie sogar aus dem Bette, öffnete die Luftscheibe und horchte, ob er da sei.

Wenn an das Tor geklopft wurde, warf sie einen Unterrock über, lief in die Küche, weckte Sachar und Anisja auf und schickte sie hin, um das Tor zu öffnen.

Man wird vielleicht sagen, darin habe sich die gewissenhafte Hauswirtin dokumentiert, die nicht gewollt habe, daß in ihrem Hause Unordnung herrschte, daß der Mieter bei Nacht auf der Straße warte, bis der betrunkene Hausknecht höre und öffne, und man wird vielleicht sagen, das andauernde Klopfen habe die Kinder aufwecken können . . .

Gut! Aber warum ließ sie, als Oblomow krank geworden war, niemanden zu ihm ins Zimmer, belegte es mit Filzdecken und Teppichen, verhängte die Fenster und geriet in Zorn (sie, eine so gutmütige, sanfte Frau!), wenn Wanja oder Mascha aufschrien oder laut lachten?

Warum saß sie nachts, ohne sich auf Sachar und Anisja zu verlassen, bis zur Frühmesse an seinem Bette, verwandte kein Auge von ihm, warf dann einen Mantel um, schrieb mit großen, ungeschickten Buchstaben auf einen Zettel: »Ilja«, lief in die Kirche, reichte den Zettel in das Allerheiligste hinein, damit für seine Gesundheit gebetet werde, ging dann in eine Ecke, fiel auf die Knie und lag dort lange, mit dem Kopfe den Fußboden berührend, ging dann eilig auf den Markt, kehrte ängstlich nach Hause zurück, blickte in die Tür hinein und fragte Anisja flüsternd: »Nun?«

Man wird sagen, daß das nichts weiter war als Mitleid und Teilnahme, diese hauptsächlichsten Triebfedern im Wesen eines Weibes.

Gut! Aber als Oblomow während seiner Rekonvaleszenz den ganzen Winter über düster war, kaum mit ihr redete, nicht zu ihr ins Zimmer hereinblickte, sich für das, was sie tat, nicht interessierte, nicht mit ihr scherzte und lachte, warum magerte sie da ab und zeigte eine solche Gleichgültigkeit und Unlust allem gegenüber? Sie mahlte Kaffee und war sich gar nicht dessen bewußt, was sie tat; oder sie warf eine solche Menge Zichorie hinein, daß der Kaffee nicht zu trinken war, und merkte es nicht, gerade als ob sie keine Zunge hätte. Wenn Anisja den Fisch nicht gar gekocht hatte und der Bruder darüber brummte und vom Tische wegging, schien sie, wie wenn sie von Stein wäre, es gar nicht zu hören.

Früher hatte niemand sie nachdenklich gesehen, und das hatte auch gar nicht zu ihrem Wesen gepaßt: sie war immer umhergegangen, in Bewegung gewesen, hatte für alles einen scharfen Blick gehabt und alles gesehen: aber jetzt schien sie manchmal mit dem Mörser auf den Knien plötzlich einzuschlafen, sie bewegte sich nicht; und dann auf einmal begann sie so mit der Mörserkeule zu stampfen, daß sogar der Hund losbellte, in der Meinung, es klopfe jemand an das Tor.

Aber sobald Oblomow wieder auflebte, sobald sich auf seinem Gesichte wieder ein gutmütiges Lächeln zeigte, sobald er wieder anfing, sie wie früher freundlich anzusehen, zu ihr durch die Tür zu blicken und zu scherzen, da nahm sie wieder an Körperfülle zu, und ihre Wirtschaft nahm wieder ihren lebhaften, munteren, lustigen Gang, aber mit einem kleinen, charakteristischen Unterschiede. Früher hatte Agafja Matwjejewna sich den ganzen Tag über bewegt wie eine gut konstruierte Maschine, akkurat und gleichmäßig; ihre Schritte hatten etwas Ruhiges, Gleitendes gehabt; sie hatte weder besonders leise noch besonders laut gesprochen; sie hatte Kaffee gemahlen, Zucker geschlagen, etwas durchgesiebt und sich an ihre Näharbeit gesetzt; die Nadel war gleichmäßig vorgerückt wie ein Uhrzeiger; dann war sie ohne Hast aufgestanden, auf dem halben Wege nach der Küche stehengeblieben, hatte den Schrank aufgemacht, etwas herausgeholt und mitgenommen – alles wie eine Maschine.

Aber jetzt, wo Ilja Iljitsch ein Mitglied ihrer Familie geworden war, stieß sie anders im Mörser und siebte anders. Ihre Spitzen hatte sie beinah vergessen. Sie setzte sich ruhig hin und fing an zu nähen: auf einmal rief Oblomow Sachar zu, er solle den Kaffee hereinbringen. Da erschien sie denn in drei Sätzen in der Küche und beaufsichtigte alles so scharf, als ob sie auf etwas zielte; sie nahm einen Löffel und ließ gegen das Licht drei Löffel voll Kaffee herablaufen, um zu sehen, ob der Kaffee auch genug gekocht und sich abgeklärt habe, ob er nicht mit Bodensatz aufgetragen werde, und revidierte, ob auch die Sahne eine Fetthaut habe.

Wenn eines seiner Lieblingsgerichte gekocht wurde, beaufsichtigte sie die Kasserolle, nahm den Deckel ab, roch hinein, kostete, nahm dann die Kasserolle selbst in die Hand und hielt sie über dem Feuer. Wenn sie für ihn Mandeln rieb oder etwas im Mörser stieß, so rieb und stieß sie mit solchem Eifer, daß sie in Schweiß geriet.

Ihre ganze Wirtschaft, das Stoßen im Mörser, das Plätten, das Sieben und so weiter, das alles gewann eine neue, lebendige Bedeutung: es zielte auf Ilja Iljitschs Ruhe und Bequemlichkeit ab. Früher hatte sie in dieser Tätigkeit eine Pflicht gesehen; jetzt war sie ihr zu einem Genusse geworden. Das Leben begann für sie in ihrer Art einen Inhalt zu haben, einen vollen, mannigfaltigen Inhalt. Aber sie wußte nicht, was mit ihr vorging, und fragte sich nie, sondern begab sich unter dieses wonnige Joch bedingungslos, ohne Widerstand und ohne Begeisterung, ohne Zittern, ohne Leidenschaft, ohne trübe Ahnungen und Qualen, ohne daß ihre Nerven zu spielen und zu musizieren angefangen hätten.

Sie war gleichsam zu einem andern Glauben übergegangen und hatte angefangen ihn zu bekennen, ohne darüber nachzudenken, was das für ein Glaube sei, aus was für Dogmen er bestehe, sondern in blindem Gehorsam gegen seine Gesetze.

Das war ganz von selbst über sie gekommen, und sie war wie unter eine Wolke geraten, ohne daß sie zurückgewichen oder vorwärts gelaufen wäre; sie hatte Oblomow einfach liebgewonnen, als ob sie sich erkältet und sich ein unheilbares Fieber zugezogen hätte.

Sie selbst ahnte nicht einmal etwas; wenn es ihr jemand gesagt hätte, so wäre es für sie etwas ganz Neues gewesen: sie hätte gelächelt und sich geschämt.

Sie hatte die Pflichten inbezug auf Oblomow stillschweigend übernommen, kannte die Physiognomie eines jeden seiner Hemden auswendig, zählte die durchgescheuerten Fersen an seinen Strümpfen, wußte, mit welchem Beine er aus dem Bette aufstand, merkte es, wenn sich ein Gerstenkorn an seinem Auge bilden wollte, achtete darauf, welches Gericht und wieviel davon er aß, ob er vergnügt oder verstimmt war, ob er viel oder wenig schlief, als ob sie das ihr ganzes Leben lang getan hätte, und fragte sich nicht, warum sie es tue, was Oblomow für sie sei, und warum sie sich so abmühe.

Wenn man sie gefragt hätte, ob sie ihn liebe, so würde sie wieder gelächelt und bejahend geantwortet haben; aber sie würde dieselbe Antwort auch schon damals gegeben haben, als Oblomow erst eine Woche lang bei ihr gewohnt hatte.

Um welcher Eigenschaften willen oder aus welchem Grunde hatte sie gerade ihn liebgewonnen? Warum hatte sie ohne zu lieben geheiratet und ohne zu lieben bis zu ihrem dreißigsten Jahre gelebt, und warum war es nun jetzt plötzlich über sie gekommen?

Obgleich man sagt, die Liebe sei ein launenhaftes, unberechenbares Gefühl und entstehe wie eine Krankheit, so hat doch auch sie, wie alles, ihre Gesetze und ihre Ursachen. Und wenn diese Gesetze bis jetzt nur wenig erforscht sind, so kommt dies daher, daß einem von der Liebe infizierten Menschen nicht danach zumute ist, mit dem Auge eines Gelehrten zu verfolgen, wie sich die Empfindung in die Seele einschleicht, wie sie die Sinne gleichsam in die Fesseln des Schlafes schlägt, wie zuerst die Augen erblinden, von welchem Augenblicke an der Puls und nach ihm das Herz stärker zu schlagen anfängt, wie vom gestrigen Tage an plötzlich eine Ergebenheit bis zum Grabe, ein Verlangen, sich selbst aufzuopfern, in die Erscheinung tritt, wie das eigene Ich allmählich verschwindet und in »ihn« oder in »sie« übergeht, wie der Verstand ungewöhnlich stumpf oder ungewöhnlich scharfsichtig wird, wie der Wille in dem Willen des anderen Teiles aufgeht, wie der Kopf sich senkt, die Knie zittern, die Tränen hervorquellen, ein Fieber ausbricht . . .

Agafja Matwjejewna hatte bisher nur wenige solche Menschen wie Oblomow gesehen, und wenn sie welche gesehen hatte, so doch nur von weitem. Sie hatten ihr vielleicht gefallen, aber sie lebten in einer Sphäre, welche verschieden war von derjenigen, in der sie selbst lebte, und sie hatte keine Gelegenheit gehabt, ihnen näherzutreten.

Ilja Iljitsch hatte einen andern Gang als ihr verstorbener Mann, der Kollegiensekretär Pschenizyn, der immer in kurzem Geschäftstrabe gelaufen war; er schrieb nicht unaufhörlich Akten, zitterte nicht vor Furcht, daß er zu spät zum Dienst kommen werde, sah nicht einen jeden so an, als wolle er ihn bitten, ihn zu satteln und auf ihm zu reiten, sondern blickte alle so mutig und frei an, als ob er von einem jeden verlange, daß er ihm gehorche.

Sein Gesicht war nicht grob und rötlich, sondern weiß und zart; seine Hände glichen nicht denen des Bruders; sie zitterten nicht und waren nicht rot, sondern weiß und klein. Wenn er sich hinsetzte, die Beine übereinanderschlug und den Kopf in die Hand stützte, so tat er das alles in einer so freien, ruhigen, schönen Art; er sprach so, wie weder ihr Bruder noch Tarantjew sprachen noch ihr Mann gesprochen hatte; vieles verstand sie nicht einmal; aber sie fühlte, daß es etwas Kluges, Schönes, Außerordentliches war; und auch das, was sie verstand, sprach er in anderer Weise als andere Leute.

Er trug feine Wäsche, wechselte sie täglich, wusch sich mit parfümierter Seife, reinigte sich die Nägel: er war am ganzen Leibe so sauber und schön. Er brauchte nichts zu tun und tat auch nichts; alles verrichteten für ihn andere Leute: er hatte seinen Sachar und noch dreihundert Sachars . . .

Er war ein »gnädiger Herr«, er strahlte und glänzte! Außerdem war er so gutherzig! Was hatte er für einen weichen Gang, für weiche Bewegungen; wenn er einem die Hand berührte, so war es wie Samt; aber wenn früher ihr Mann sie mit der Hand angefaßt hatte, so war das immer so gewesen, als schlüge er sie! Und ebenso weich bückte und redete er auch, mit solcher Herzensgüte . . .

Sie dachte nichts von alledem und war sich alles dessen nicht bewußt: aber wenn irgendein andrer auf den Einfall gekommen wäre, den Eindruck zu beobachten und zu schildern, den Oblomows Erscheinen in ihrem Leben auf ihre Seele gemacht hatte, so hätte er ihn so und nicht anders schildern müssen.

Ilja Iljitsch verstand, welche Bedeutung er in diesem Haushalte gewonnen hatte, vom Bruder angefangen bis zum Kettenhunde, der seit seinem Einzüge dreimal soviel Knochen bekam; er aber wußte nicht, wie tiefe Wurzeln seine Persönlichkeit im Herzen der Wirtin geschlagen und welchen unerwarteten Sieg er über dieses Herz davongetragen hatte. In ihrer geschäftigen Sorge für seine Beköstigung, für seine Wäsche und für seine Zimmer sah er nur eine Betätigung ihres hauptsächlichen Charakterzuges, den er schon bei seinem ersten Besuche bemerkt hatte, als Akulina plötzlich den zappelnden Hahn ins Zimmer gebracht und die Wirtin, trotz ihrer Verlegenheit über den deplacierten Eifer der Köchin, ihr doch noch schnell gesagt hatte, sie solle dem Krämer nicht diesen, sondern den grauen Hahn geben.

Der Wirtin selbst kam es gar nicht in den Sinn, etwa mit Oblomow zu kokettieren oder ihm irgendwelche Andeutungen über das, was in ihrem Innern vorging, zu machen; sie war sich vielmehr, wie schon gesagt, dieses Vorganges gar nicht bewußt und verstand ihn nicht; ja sie hatte sogar vergessen, daß vor einiger Zeit noch nichts davon in ihrem Innern vorhanden gewesen war, und ihre Liebe äußerte sich nur in einer grenzenlosen Ergebenheit bis zum Grabe.

Oblomows Augen waren blind für das wahre Wesen der Beziehungen der Wirtin zu ihm, und er fuhr fort, ihr Benehmen nur als eine Äußerung ihres gesamten Charakters aufzufassen. Und daher blieb das so normale, natürliche, selbstlose Gefühl der Frau Pschenizyna ein Geheimnis für Oblomow, für ihre Umgebung und für sie selbst.

Dieses Gefühl war tatsächlich selbstlos; denn wenn sie in der Kirche eine Kerze aufstellte und für Oblomows Gesundheit beten ließ, so tat sie das lediglich, damit er gesund werden möchte, und er erfuhr nie etwas davon. Sie saß die Nacht über am Kopfende seines Bettes und ging bei Tagesgrauen weg, und nachher wurde darüber nicht gesprochen.

Sein Verhältnis zu ihr war viel einfacher: in Agafja Matwjejewna, in ihren sich stets bewegenden Armen, in ihren sorglich auf allem ruhenden Augen, in ihrem festen Umhergehen vom Schranke in die Küche, von der Küche in die Speisekammer, von da in den Keller, in ihrer lückenlosen Kenntnis alles dessen, was im Hause und in der Wirtschaft angenehm und nützlich war, in alledem verkörperte sich für ihn das Ideal jener wie der Ozean unübersehbaren und durch nichts zu störenden Ruhe des Lebens, deren Bild sich unter dem väterlichen Dache in seiner Kindheit unauslöschlich seiner Seele eingeprägt hatte.

Ebenso wie dort sein Vater, der Großvater, die Kinder, die Enkel und die Gäste in träger Ruhe dagesessen oder dagelegen hatten, in dem Bewußtsein, daß es im Hause Augen gab, die stets um sie herumwanderten und für alles sorgten, und unermüdliche Hände, die für sie nähten, ihnen zu essen und trinken gaben, ihnen die Kleider und Schuhe anzogen und sie schlafen legten, beim Sterben aber ihnen die Augen zudrückten, so sah auch hier Oblomow, wenn er ohne sich zu rühren auf dem Sofa saß, daß sich etwas Lebendiges, Flinkes zu seinem Nutzen bewegte, und er wußte, daß, mochte auch am nächsten Tage die Sonne nicht aufgehen, Wirbelwinde den Himmel verdunkeln, ein Sturm vom einen Ende der Welt zum andern dahinbrausen, die Suppe und der Braten dennoch bei ihm auf dem Tische erscheinen würden, und seine Wäsche rein und frisch sein würde, und die Spinnweben von der Wand würden abgenommen werden und er nicht erfahren würde, wie das geschehe, und sich nicht die Mühe geben würde zu überlegen, worauf er Appetit habe, sondern dies schon von jemand würde erraten und das betreffende Gericht ihm zum Zulangen gebracht werden, nicht mit Trägheit und Grobheit, nicht von Sachars schmutzigen Händen, sondern mit einem munteren, sanften Blick, mit einem Lächeln tiefer Ergebenheit, von reinen, weißen Händen und nackten Armen.

Er freundete sich von Tage zu Tage mehr mit der Wirtin an: von Liebe aber kam ihm nichts in den Sinn, das heißt von jener Liebe, die er kürzlich durchgemacht hatte wie Pocken, Masern oder ein Fieber, und an die er nicht denken konnte ohne zusammenzufahren.

Er näherte sich seiner Wirtin, wie wenn er an ein Feuer heranrückte, das einen immer mehr erwärmt, je näher man kommt, das man aber nicht lieben kann.

Nach dem Mittagessen blieb er gern in ihrem Zimmer, rauchte dort eine Pfeife und sah zu, wie sie das Silberzeug und das Geschirr in das Büfett einräumte, wie sie die Tassen herausnahm und den Kaffee eingoß, wie sie eine bestimmte Tasse mit besonderer Sorgfalt auswusch und abtrocknete, sie zu allererst vollgoß, ihm hinreichte und ihn ansah, ob er auch zufrieden sei.

Er heftete seine Augen gern auf ihren vollen Hals und ihre runden Arme, wenn sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, und wenn sie sich lange Zeit nicht geöffnet hatte, so stieß er sie selbst sachte mit dem Fuße auf und scherzte mit ihr und spielte mit den Kindern.

Aber er langweilte sich nicht, wenn der Vormittag verging, ohne daß er sie gesehen hätte; und nach dem Mittagessen ging er, statt bei ihr zu bleiben, häufig weg, um ein paar Stunden zu schlafen; aber er wußte, daß, sowie er aufwachen würde, sein Tee bereit sein würde, ja sogar im Augenblicke des Aufwachens selbst.

Und was die Hauptsache war, all das vollzog sich in Ruhe: er hatte weder eine Geschwulst am Herzen, noch empfand er jemals Unruhe und Aufregung darüber, ob er die Wirtin sehen werde oder nicht, was sie denke, was er zu ihr sagen und wie er auf ihre Frage antworten solle, wie sie ihn anblicken werde – nichts dergleichen, gar nichts.

Bekümmernis, schlaflose Nächte, wonnige und bittere Tränen, nichts von der Art hatte er durchzumachen. Er saß da und rauchte und sah zu, wie sie nähte; manchmal sagte er etwas, oder er sagte auch nichts, und dabei fühlte er sich so ruhig; er hatte keine Wünsche, es verlangte ihn nirgendhin, als ob er alles, was er nur wünschen könnte, schon da hatte.

Agafja Matwjejewna trieb ihn nicht an und stellte keine Forderungen an ihn. Und in ihm entwickelten sich keine ehrgeizigen Wünsche und Bestrebungen, kein Verlangen nach Großtaten, und er peinigte sich nicht mit dem Gedanken, daß die Zeit vergehe, daß seine Kräfte dahinschwänden, daß er nichts getan habe, weder Gutes noch Böses, daß er müßig sei und nicht lebe, sondern nur vegetiere.

Es hatte ihn gleichsam eine unsichtbare Hand wie ein kostbares Gewächs aus der Sonnenglut in den Schatten verpflanzt, geschützt vor Regen, und hegte und pflegte ihn nun dort.

»Wie flink Ihre Nadel immer an der Nase vorbeigeht, Agafja Matwjejewna!« sagte Oblomow. »Sie fahren so schnell damit von unten hinauf, daß ich wirklich fürchte, Sie könnten sich einmal die Nase an den Rock annähen.«

Sie lächelte.

»Ich will nur noch diese Naht zu Ende bringen«, sagte sie wie vor sich hin, »dann wollen wir Abendbrot essen.«

»Was gibt es denn zum Abendbrot?« fragte er.

»Sauerkohl mit Lachs«, antwortete sie. »Geräucherter Stör ist nirgends zu haben; ich bin schon in allen Läden herumgelaufen, und auch der Bruder hat sich erkundigt: aber es gibt keinen. Vielleicht bekomme ich aber frischen Stör; ein Kaufmann in der Karetraja-Straße hat sich welchen bestellt und mir versprochen, mir ein Stück abzuschneiden. Dann Kalbfleisch mit Pfannengrütze . . .«

»Das ist ja wunderschön! Wie liebenswürdig von Ihnen, Agafja Matwjejewna, an meine Lieblingsgerichte zu denken! Wenn nur Anisja es nicht vergißt!«

»Wozu bin ich denn da? Hören Sie wohl, wie es zischt?« erwiderte sie, indem sie die Tür zur Küche ein wenig öffnete. »Es brät schon.«

Dann hörte sie auf zu nähen, biß den Faden ab, wickelte ihre Arbeit zusammen und trug sie in die Schlafstube.

So rückte er näher an sie heran wie an ein wärmendes Feuer, und einmal kam er ihr besonders nah; beinah wäre eine Feuersbrunst entstanden, wenigstens erfolgte ein leichtes Aufflammen.

Er ging in seinem Zimmer auf und ab und sah, als er sich zur Tür der Wirtin hinwandte, daß ihre Arme sich mit ungewöhnlicher Hurtigkeit bewegten.

»Sie sind aber auch unaufhörlich beschäftigt!« sagte er, zu ihr hereintretend. »Was machen Sie denn da?«

»Ich stoße Zimt«, antwortete sie, indem sie in den Mörser wie in einen Abgrund hineinblickte und unbarmherzig mit der Mörserkeule zustieß.

»Aber wenn ich Sie nun festhalte?« fragte er, faßte sie bei den Ellbogen und ließ sie nicht weiterstoßen.

»Lassen Sie mich los! Ich muß noch Zucker stoßen und Wein zum Pudding herausgeben.«

Er hielt sie immer noch an den Ellbogen fest, und sein Gesicht war dicht an ihrem Nacken.

»Sagen Sie mal, ei, wenn ich mich nun in Sie . . . verliebte?«

Sie lächelte.

»Würden Sie mich wiederlieben?« fragte er weiter.

»Warum sollte ich Sie nicht lieben? Gott hat uns befohlen, alle Menschen zu lieben.«

»Aber wenn ich Ihnen nun einen Kuß gebe?« flüsterte er, sich zu ihrer Backe hinbiegend, so daß sein warmer Atem ihre Backe streifte.

»Jetzt ist nicht die Osterwoche«, erwiderte sie lächelnd.

»Na, geben Sie mir doch einen Kuß!«

»Wenn Gott gibt, daß wir bis Ostern leben, dann können wir uns ja küssen«, sagte sie, weder verwundert, noch verlegen, noch schüchtern; sie stand gerade aufgerichtet und regungslos da, wie ein Pferd, dem man das Kummet umlegt.

Er küßte sie leicht auf den Hals.

»Passen Sie auf, ich werde noch den Zimt verschütten; dann haben Sie nichts auf den Pudding zu streuen«, bemerkte sie.

»Das schadet nichts!« antwortete er.

»Haben Sie denn da auf dem Schlafrock schon wieder einen Fleck?« fragte sie bedauernd und nahm den Schoß des Schlafrocks in die Hand. »Es scheint Öl zu sein.« Sie roch an dem Flecke. »Wie sind Sie nur zu dem gekommen? Es wird doch nicht von dem Lämpchen vor dem Heiligenbilde ein Tropfen heruntergefallen sein?«

»Ich weiß nicht, wo ich mir den Fleck geholt habe.«

»Sie haben wohl an eine Tür gestreift?« Diese Vermutung fiel ihr plötzlich ein. »Gestern sind die Angeln geschmiert worden, sie knarrten immer so. Ziehen Sie den Rock schnell aus und geben Sie ihn mir; ich will den Fleck auswaschen; morgen wird nichts mehr davon zu sehen sein.«

»Wie gut Sie sind, Agafja Matwjejewna!« sagte Oblomow, während er den Schlafrock lässig von den Schultern warf. »Wissen Sie was: wir wollen auf das Gut fahren und dort wohnen; da ist erst eine Wirtschaft! Was gibt es da nicht alles: Pilze und Beeren und Eingemachtes und einen Geflügelhof und einen Viehhof . . .«

»Ach nein, wozu sollen wir das tun?« versetzte sie seufzend. »Hier sind wir geboren, hier haben wir unser ganzes Leben verbracht, hier müssen wir auch sterben.«

Er sah sie mit einer leichten Erregung an; aber die Augen fingen ihm nicht an zu glänzen und füllten sich nicht mit Tränen; er fühlte keinen Drang nach Höherem, nach großen Taten. Es verlangte ihn nur danach, sich auf das Sofa zu setzen und die Augen unverwandt auf ihre Arme zu richten.

 


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