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»Ist er zu Hause?« fragte jemand im Vorzimmer laut in grobem Tone.
»Wohin soll er zu dieser Tageszeit gegangen sein«, gab Sachar in noch gröberem Tone zur Antwort.
Der Eintretende war ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, zu einem derben Menschenschlage gehörig, hochgewachsen, breit in den Schultern und im ganzen Rumpfe, mit grobgeschnitzten Gesichtszügen, einem großen Kopfe, einem kräftigen, kurzen Halse, großen, vorstehenden Augen und dicken Lippen. Ein flüchtiger Blick auf diesen Menschen rief die Vorstellung von etwas Grobem, Unsauberem hervor. Es war augenscheinlich, daß er nicht auf Eleganz seines Anzuges bedacht war. Nicht immer glückte es einem, ihn sauber rasiert zu sehen. Aber das war ihm anscheinend auch völlig gleichgültig; er genierte sich nicht wegen seiner Kleidung und trug sie mit einer Art von zynischer Würde.
Das war Michei Andrejewitsch Tarantjew, Oblomows Landsmann.
Tarantjew blickte alles grimmig und halb verächtlich an; er war seiner ganzen Umgebung offenbar feindlich gesinnt und stets bereit, auf alles und alle in der Welt zu schimpfen, als wäre er ein durch Ungerechtigkeit tief gekränkter oder in bezug auf irgendwelche treffliche Eigenschaft nicht anerkannter Mensch, ja schließlich ein vom Schicksal verfolgter starker Charakter, der sich ihm nur widerwillig und trotzig füge. Seine Bewegungen waren immer kühn und schwungvoll; er sprach laut, keck und fast immer in ärgerlichem Tone; wenn man ihn aus einiger Entfernung hörte, so war es, als ob drei leere Bauernwagen über eine Brücke fuhren. Mochte anwesend sein, wer da wollte, er legte sich in seinen Worten keinen Zwang auf, gebrauchte sein Mundwerk ganz gehörig und war überhaupt beständig grob im Verkehr mit allen Leuten, seine Freunde nicht ausgenommen, als wollte er zu verstehen geben, daß, wenn er mit jemandem redete, oder sogar auch, wenn er bei ihm zu Mittag oder zu Abend speiste, er ihm damit eine große Ehre erwiese.
Tarantjew hatte einen lebhaften, klugen Geist; niemand konnte leichter als er eine Frage des gewöhnlichen Lebens beantworten oder eine verwickelte juristische Prozeßsache entscheiden: er stellte sogleich eine Theorie auf, nach der in dem einen oder andern Falle zu handeln sei, und führte sehr scharfsinnig die Beweise dafür an; zum Schlusse aber wurde er fast immer grob gegen denjenigen, der ihn über etwas um Rat gefragt hatte.
Trotzdem bekleidete er noch jetzt, wo er schon graue Haare hatte, in einer Kanzlei dasselbe Amt als Schreiber, das er vor fünfundzwanzig Jahren übernommen hatte. Weder ihm selbst noch sonst jemandem kam je der Gedanke in den Sinn, daß er aufrücken könne.
Die Sache war die, daß Tarantjew nur meisterlich zu reden verstand; mit Worten entschied er alle Fragen klar und leicht, besonders solche Fragen, die andere Leute betrafen; aber sobald es erforderlich war, auch nur einen Finger zu rühren, sich vom Flecke zu bewegen, kurz, die von ihm selbst aufgestellte Theorie auf die Praxis anzuwenden und die Sache in Gang zu bringen, Organisationstalent und Promptheit zu zeigen, da war er ein ganz andrer Mensch, da versagte er: es wurde ihm plötzlich zu schwer, oder er fühlte sich unwohl, oder es war ihm unbequem, oder es kam ihm etwas anderes in den Wurf, das er ebenfalls nicht in Angriff nahm oder, wenn er es ja tat, nicht zu einem ordentlichen Ende führte. Er war dabei wie ein Kind: hier ließ er es an Achtsamkeit fehlen, dort wußte er irgendwelche Kleinigkeiten nicht, da verspätete er sich, und das Ende vom Liede war, daß er die Sache halbvollendet liegen ließ oder sie falsch angriff und alles so verdarb, daß keine Möglichkeit war, es wieder in Ordnung zu bringen; und dann fing er noch an zu schimpfen.
Sein Vater, ein Gerichtsschreiber vom alten Schlage in der Provinz, wollte seinem Sohne seine Geschicklichkeit und Erfahrung in der Betreibung fremder Prozesse und seine klug zurückgelegte Laufbahn beim Gerichte als Erbe hinterlassen; aber das Schicksal fügte es anders. Der Vater, der seinerzeit in russischer Weise selbst nur für wenige Groschen Schulunterricht genossen hatte, wollte nicht, daß sein Sohn hinter der Zeit zurückbleibe, und wünschte, ihn noch außer der schwierigen Kunst der Führung von Prozessen etwas lernen zu lassen. Er schickte ihn daher drei Jahre lang zu einem Geistlichen, damit er bei diesem Lateinisch lerne.
Der von Natur wohlbefähigte Knabe machte sich im Laufe der drei Jahre die lateinische Formenlehre und Syntax zu eigen und sollte gerade anfangen, Cornelius Nepos zu lesen, als sein Vater zu der Ansicht kam, es sei auch an dem, was er nun wisse, genug; auch diese Kenntnisse gaben ihm schon einen gewaltigen Vorsprung vor der alten Generation, und es könne ihm schließlich eine weitere Fortsetzung der Studien vielleicht gar in seiner dienstlichen Laufbahn beim Gerichte schaden.
Der sechzehnjährige Michei, der nicht wußte, was er mit seinem Latein anfangen sollte, vergaß es allmählich wieder im Elternhause; aber dafür nahm er, in Erwartung der Ehre, beim Land- und Kreisgerichte angestellt zu werden, einstweilen an allen von seinem Vater gegebenen kleinen Gastereien teil, und in dieser Schule, bei den offenherzigen Gesprächen der Fachgenossen, schärfte und entwickelte sich der Verstand des jungen Menschen.
Mit jugendlicher Empfänglichkeit lauschte er den Erzählungen seines Vaters und der Kollegen desselben von allerlei Zivil- und Kriminalprozessen und von interessanten Fällen, die durch die Hände aller dieser Gerichtsschreiber alten Schlages gegangen waren.
Aber all das führte zu nichts. Michei bildete sich nicht zu einem praktischen Rechtskundigen und Rechtsverdreher heraus, obgleich alle Anstrengungen des Vaters darauf gerichtet waren und gewiß auch von Erfolg gekrönt worden wären, wenn nicht das Schicksal die Absichten des Alten zunichte gemacht hätte. Michei machte sich tatsächlich die ganze Theorie der väterlichen Unterweisungen zu eigen und brauchte sie nur noch auf die Praxis anzuwenden; aber zur Zeit des Todes seines Vaters war er noch nicht beim Gerichte angestellt, und so wurde er denn von einem Wohltäter nach Petersburg gebracht, der ihm dort eine Schreiberstelle in einem Ministerium verschaffte und ihn dann vergaß.
So blieb Tarantjew sein ganzes Leben über nur Theoretiker. In dem Petersburger Amte konnte er mit seinem Latein und mit seiner feinausgebildeten Theorie, gerechte und ungerechte Prozeßsachen nach seinem Belieben durchzuführen, nichts anfangen; dabei aber war er sich bewußt, daß er eine schlummernde Kraft in sich trug, die durch feindliche Umstände in ihm für immer ohne Hoffnung und Befreiung eingeschlossen lag, so wie in den Märchen böse Geister in enge, verzauberte Mauern eingeschlossen und der Macht zu schaden beraubt sind. Vielleicht war dieses Bewußtsein der in ihm ruhenden ungenutzten Kraft die Ursache, weswegen Tarantjew im Verkehr grob, mißgünstig und stets ärgerlich und zänkisch war.
Mit Bitterkeit und Verachtung blickte er auf seine gegenwärtigen Beschäftigungen: das Abschreiben von Schriftstücken, das Heften von Akten und so weiter. Ihm lächelte in der Ferne nur eine einzige letzte Hoffnung: eine Anstellung bei der Verwaltung der Branntweinpacht zu bekommen. Auf diesem Wege sah er den einzigen vorteilhaften Ersatz für die Karriere, die ihm sein Vater hatte vermachen wollen, und die er nicht erreicht hatte. Und in Erwartung dessen wandte er die ihm von seinem Vater überlieferte gebrauchsfertig daliegende Theorie der Bestechlichkeit und Schlauheit, da ihr die beste und ihrer würdigste Laufbahn in der Provinz entgangen war, auf alle Kleinigkeiten seiner nichtigen Existenz in Petersburg an; und diese seine Kunstfertigkeit stahl sich, in Ermangelung einer Betätigung im amtlichen Leben, in alle seine freundschaftlichen Beziehungen ein.
Er war auf Grund seiner Theorie nach seiner ganzen Denkweise bestechlich und brachte, in Ermangelung von Prozessen und Bittstellern, es durch Schlauheit fertig, von seinen Kollegen und Freunden, Gott weiß wie und wofür, Bestechungen einzuheimsen, veranlaßte sie, wo und wann er nur konnte, bald durch List, bald durch Aufdringlichkeit, ihn zu traktieren, verlangte von allen einen Respekt, den er nicht verdiente, und suchte mit jedem Händel. Über seine abgetragenen Kleider empfand er nie Scham oder Verlegenheit; aber es beunruhigte ihn, wenn ein Tag ihm nicht die Perspektive auf ein tüchtiges Mittagessen mit einer gehörigen Quantität Wein oder Schnaps bot.
Infolgedessen spielte er im Kreise seiner Bekannten die Rolle eines großen Wächterhundes, der alle anbellt und nicht duldet, daß sich jemand rührt, der aber gleichzeitig unfehlbar jedes Stück Fleisch im Fluge auffängt, woher es auch immer geflogen kommt.
Von dieser Art waren die beiden eifrigsten Besucher Oblomows.
Warum kamen diese beiden russischen Proletarier zu ihm? Sie wußten recht gut, warum sie das taten: um zu essen, zu trinken und gute Zigarren zu rauchen. Sie fanden bei ihm ein warmes, ruhiges Obdach und eine wenn auch nicht freudige, so doch immer in gleicher Weise gleichmütige Aufnahme.
Aber warum Oblomow diese Leute zu sich ließ, darüber gab er sich selbst schwerlich Rechenschaft. Wohl aus demselben Grunde, aus welchem noch heutzutage bei uns in jedem abgelegenen wohlhabenden Gutshause sich ein Schwarm solcher Personen beiderlei Geschlechts herumdrängt, ohne Brot, ohne Kunstfertigkeit, sozusagen ohne Hände zur Produktion und nur mit einem Magen zur Konsumtion, aber fast immer mit einem Rang und Titel.
Es gibt noch immer Sybariten, denen im Leben solche Anhängsel unentbehrlich sind; sie langweilen sich in der Welt ohne etwas Überflüssiges. Wer wird eine abhanden gekommene Tabaksdose wieder zur Stelle schaffen oder ein hingefallenes Taschentuch aufheben? Wem kann man mit einem Rechte auf Teilnahme etwas von seinen Kopfschmerzen vorklagen oder einen bösen Traum erzählen und dessen Ausdeutung verlangen? Wer liest einem vor dem Schlafengehen aus einem Buche vor und hilft einem so zum Einschlafen? Manchmal wird ein solcher Proletarier auch nach der nächsten Stadt geschickt, um etwas einzukaufen, oder er hilft in der Wirtschaft – man kann sich doch mit dergleichen nicht selbst abgeben!
Tarantjew machte viel Lärm und rüttelte dadurch Oblomow aus seiner Unregsamkeit und Langenweile auf. Er schrie, stritt, führte eine Art von Theaterstück auf und überhob so den trägen Herrn der Notwendigkeit, selbst zu reden und zu handeln. In das Zimmer, in welchem Schlaf und Ruhe herrschten, brachte Tarantjew Leben und Bewegung und manchmal auch Nachrichten von draußen. Oblomow konnte, ohne einen Finger zu rühren, etwas Lebendiges sehen, das sich vor seinen Augen bewegte und redete. Außerdem besaß er noch die Einfalt zu glauben, Tarantjew sei wirklich imstande, ihm etwas Nützliches zu raten.
Alexejews Besuche ließ sich Oblomow aus einem andern, nicht minder wichtigen Grunde gefallen. Wenn er die Zeit in seiner gewöhnlichen Weise hinbringen, das heißt schweigend daliegen, druseln oder im Zimmer auf und ab gehen wollte, so war Alexejew gewissermaßen nicht anwesend: er schwieg ebenfalls, druselte, oder er sah in ein Buch hinein und betrachtete mit einem trägen Gähnen, das ihm die Tränen in die Augen trieb, die Bilder und Nippsachen. Er konnte nötigenfalls drei Tage in dieser Weise verbringen. Wenn aber Oblomow des Alleinseins überdrüssig wurde und das Bedürfnis verspürte, sich auszusprechen, zu reden, etwas vorzulesen, zu disputieren, eine Erregung zu äußern, dann war er immer ein gehorsamer, bereitwilliger Zuhörer und Partner, der mit stets gleichbleibender Zustimmung an seinem Stillschweigen und an seinem Gespräche und an seiner Erregung und an seiner Anschauungsweise, wie auch immer sie beschaffen war, teilnahm.
Andere Besucher kamen nur selten, nur auf einen Augenblick, wie die ersten drei, die sich an diesem Tage eingefunden hatten; die lebendigen Beziehungen zwischen ihm und ihnen allen starben immer mehr ab. Oblomow interessierte sich manchmal für irgendeine Neuigkeit und führte manchmal gern fünf Minuten lang ein Gespräch; dann aber fühlte er sich dadurch befriedigt und schwieg. Jene Herren jedoch beanspruchten, daß er ihnen die entsprechenden Gegendienste leiste und an dem, was sie selbst interessierte, Anteil nehme. Sie fühlten sich unter den Menschen in ihrem Elemente; jeder von ihnen faßte das Leben auf seine Weise auf, so wie Oblomow es nicht auffassen wollte, aber sie zogen auch ihn in das Leben hinein: all das mißfiel ihm, stieß ihn ab, widerstrebte seinem ganzen Wesen.
Nur ein einziger Mensch sagte ihm zu: auch dieser störte ihn in seiner Ruhe, liebte Neuigkeiten und die Gesellschaft und die Wissenschaft und das ganze Leben, aber in einer tieferen, wärmeren, aufrichtigeren Art als andere – und obgleich Oblomow gegen alle freundlich war, so war dies doch der einzige Mensch, den er von Herzen liebte, der einzige, dem er Vertrauen schenkte, vielleicht deshalb, weil er mit ihm aufgewachsen war, mit ihm zusammen die Schule besucht und mit ihm zusammen gelebt hatte. Das war Andrei Karlowitsch Stolz.
Er war abwesend, aber Oblomow erwartete ihn stündlich.