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Stolz war mit Oblomow gleichaltrig; auch er war schon über dreißig Jahre alt. Er war im Staatsdienste tätig gewesen, hatte aber dann den Abschied genommen, sich seinen Privatgeschäften gewidmet und sich wirklich ein Haus und Geld erworben. Er war bei einer Gesellschaft beteiligt, welche Waren nach dem Auslande exportierte.
Er war in steter Bewegung: wenn die Gesellschaft einen Agenten nach Belgien oder England schicken mußte, so schickte sie ihn: sollte irgendein Projekt ausgearbeitet oder eine neue Idee für das Geschäft verwertet werden, so wurde er dazu gewählt. Und dabei unterhielt er einen regen Verkehr mit den besseren Kreisen und las viel: wo er die Zeit zu alledem hernahm, das mochte Gott wissen.
Er bestand ganz aus Knochen, Muskeln und Nerven, wie ein englisches Vollblutpferd. Er war mager; Backen hatte er fast gar nicht; das heißt, er hatte Knochen und Muskeln, aber auch nicht eine Spur von einer fetten Rundung; seine Gesichtsfarbe war gleichmäßig bräunlich, ohne jede Röte, die Augen zwar ein wenig grünlich, aber ausdrucksvoll.
Er machte keine überflüssigen Bewegungen. Wenn er saß, so saß er ruhig: wenn er etwas tat, so wandte er nur soviel Mimik an, als eben nötig war.
Wie in seinem Organismus nichts Überflüssiges vorhanden war, so suchte er auch bei den geistigen Funktionen seines Lebens die praktische Seite mit den feineren Bedürfnissen der Seele ins Gleichgewicht zu bringen. Diese beiden Seiten liefen nebeneinander her; sie kreuzten und verschlangen sich wohl miteinander auf ihrem Wege, wirrten sich aber nie zu lästigen, unlösbaren Knoten zusammen.
Er hatte einen festen, energischen Gang; er lebte nach einem bestimmten Budget und bemühte sich, wie bei der Ausgabe eines jeden Rubels, so auch bei der Verwendung eines jeden Tages dauernd und unermüdlich zu kontrollieren, was er an Zeit, an Arbeit und an Kräften der Seele und des Herzens aufwandte.
Er schien auch Leid und Freude so zu beherrschen wie die Bewegung seiner Hände und die Schritte seiner Füße, oder sich gegen Leid und Freude ähnlich zu verhalten wie gegen schlechtes und gutes Wetter.
Er spannte den Schirm auf, solange es regnete, das heißt, er litt, solange der Schmerz dauerte; und zwar litt er ohne schüchterne Fügsamkeit, sondern vielmehr mit einem Gefühle des Ärgers und Stolzes, und er ertrug den Schmerz nur deshalb geduldig, weil er die Ursache jedes Leides in sich selbst suchte und es nicht wie einen Rock an einen fremden Nagel hängte.
Auch die Freude genoß er wie eine unterwegs gepflückte Blume, bis sie in seiner Hand verwelkte, trank aber den Freudenbecher nie einschließlich jenes bitteren Tropfens aus, der auf dem Boden eines jeden Genusses liegt.
Einen einfachen, natürlichen, das heißt geraden, richtigen Blick für das Leben sich zu eigen zu machen, das war die Aufgabe, die er sich beständig stellte, und während er allmählich ihrer Lösung näherkam, begriff er ihre ganze Schwierigkeit und war jedesmal innerlich stolz und glücklich, wenn es ihm gelungen war, auf seinem Wege eine Krümmung zu bemerken und einen Schritt geradeaus zu machen.
»Es ist schwer und mühsam, einfach und natürlich zu leben!« sagte er oft zu sich selbst und suchte mit eiligen Blicken zu erkennen, wo es krumm und schief wurde, und wo der Faden der Lebensschnur sich zu einem unordentlichen, wirren Knoten zusammenzuschlingen begann.
Am meisten fürchtete er die Phantasie, diesen Begleiter mit zwei Gesichtern, mit einem freundlichen auf der einen und mit einem feindlichen auf der andern Seite, diesen um so besseren Freund, je weniger man ihm traut, und diesen Feind, wenn man bei seinem süßen Geflüster vertrauensvoll einschläft.
Er fürchtete jede Träumerei, oder wenn er sich auf ihr Gebiet begab, so tat er das in der Art, wie man in eine Grotte eintritt, über der die Inschrift steht: Ma solitude, mon hermitage, mon repos – man weiß, zu welcher Stunde und Minute man sie wieder verlassen wird.
Für Träumereien und für alles Rätselhafte und Geheimnisvolle war in seiner Seele kein Platz vorhanden. Was sich nicht nach den Regeln der Erfahrung und der praktischen Vernunft prüfen ließ, war in seinen Augen nur eine optische Täuschung, eine so oder so beschaffene Spiegelung von Lichtern und Farben auf der Netzhaut des Sehorgans oder aber höchstens etwas, an das die Erfahrung noch nicht heranreicht.
Fremd war ihm auch jener Dilettantismus, der es liebt, sich auf dem Gebiete des Wunderbaren zu tummeln oder auf dem Felde der Hypothesen und Entdeckungen in der Weise eines Don Quichotte seiner Zeit um ein Jahrtausend vorauszueilen. Er blieb eigensinnig an der Schwelle des Geheimnisses stehen, ohne den Glauben eines Kindes oder den Zweifel eines Gecken zu äußern, und wartete, bis sich das Gesetz kundtun und damit auch zugleich der Schlüssel des Geheimnisses gegeben sein werde.
Ebenso sorgsam und vorsichtig, wie er seine Phantasie beobachtete, tat er es auch mit seinem Herzen. Aber hier mußte er häufig Verzicht leisten und eingestehen, daß das Gebiet der Funktionen des Herzens noch eine terra incognita sei.
Er war dem Schicksal innig dankbar, wenn es ihm auf diesem unbekannten Gebiete gelang, die ungeschminkte Lüge rechtzeitig von der blassen Wahrheit zu unterscheiden; er klagte nicht einmal in Fällen, wo er sich von dem mit Blumen verhüllten Betruge losgemacht hatte ohne zu fallen, wenn sein Herz lediglich fieberhaft und heftig geschlagen hatte, und war seelenfroh, wenn es nicht qualvoll blutete, wenn ihm nicht kalter Schweiß auf die Stirn trat und sich dann für lange Zeit ein weit reichender Schatten auf sein Leben legte.
Er hielt sich schon deswegen für glücklich, weil er imstande war, sich auf ein und derselben Höhe zu halten und beim Umhergaloppieren auf dem Steckenpferde des Gefühls diesseits der feinen Grenzlinie zu bleiben, welche die Welt des Gefühls von der Welt der Lüge und der Sentimentalität, die Welt der Wahrheit von der Welt des Lächerlichen trennt, oder beim Zurückgaloppieren den trocknen Sandboden der Härte, des Vernünftelns, des Mißtrauens, der Kleinlichkeit und der Entmannung des Herzens zu vermeiden.
Er fühlte auch mitten im Affekt den Boden unter den Füßen und fühlte Kraft genug in sich, um sich schlimmstenfalls loszureißen und freizumachen. Er ließ sich nicht durch Schönheit blenden und vergaß darum seine Manneswürde nicht, entehrte sie nicht, war nicht der Sklave schöner Frauen und lag nicht zu ihren Füßen, wenn ihm auch dadurch glühende Freuden entgingen.
Er hatte keine Götzen; aber dafür erhielt er sich auch die Kraft der Seele und die Festigkeit des Körpers, dafür war er auch von einer stolzen Keuschheit; es ging von ihm ein solcher Hauch der Frische und der Kraft aus, daß demgegenüber auch Frauen, die sonst nicht schüchtern waren, verlegen wurden.
Er kannte den Wert dieser seltenen, kostbaren Eigenschaften und verausgabte sie so geizig, daß man ihn egoistisch und gefühllos nannte. Seine Zurückhaltung von Leidenschaften und seine Kunst, innerhalb der Grenzen eines natürlichen, freien Zustandes der Seele zu bleiben, machte man ihm zum Vorwurf und erklärte zugleich, manchmal mit Neid und Bewunderung, das Verhalten eines andern für entschuldbar, der sich Hals über Kopf in den Sumpf stürzte und seine eigene und eine fremde Existenz zerstörte.
»Die Leidenschaft, die Leidenschaft ist für alles eine Entschuldigung«, sagte man um ihn herum; »aber Sie in Ihrem Egoismus sparen sich nur auf; wir wollen einmal sehen, für wen.«
»Ich spare mich allerdings für jemand auf«, antwortete er nachdenklich, wie wenn er in die Ferne sähe, und beharrte bei seinem Unglauben an den poetischen Wert der Leidenschaften, ließ sich durch ihre stürmischen Äußerungen und zerstörenden Folgen nicht zur Bewunderung hinreißen, sondern wollte das Ideal des menschlichen Daseins und Strebens immer in einer ernsten Auffassung und Verwendung des Lebens sehen.
Und je mehr man ihm seine Thesen bestritt, um so hartnäckiger hielt er an ihnen fest, ja, er geriet sogar, wenigstens während der Disputationen, in einen puritanischen Fanatismus hinein. Er sagte, es sei die normale Bestimmung des Menschen, die vier Jahreszeiten, das heißt die vier Lebensalter, ohne wilde Sprünge zu verleben und das Gefäß des Lebens bis zum letzten Tage einherzutragen, ohne auch nur einen Tropfen unnütz zu verschütten. Ein gleichmäßig und langsam brennendes Feuer sei besser als heftige Feuersbrünste, wie poetisch deren Lodern auch sein möge. Zum Schlusse fügte er hinzu, er würde glücklich sein, wenn es ihm gelänge, die Richtigkeit seiner Anschauung an seiner eigenen Person zu beweisen; aber er wage nicht zu hoffen, daß er das erreichen werde, da es sehr schwer sei.
Er selbst aber schritt immer unbeirrt auf dem Wege dahin, den er sich erwählt hatte. Man sah ihn nie über etwas schmerzlich und selbstquälerisch grübeln; anscheinend nagte an ihm kein Weh infolge von Ermüdung des Herzens; er krankte nicht an der Seele, verlor in verwickelten, schwierigen oder neuen Verhältnissen nie die Fassung, sondern trat an sie heran wie an ehemalige Bekannte, als ob er zum zweitenmal lebe und durch bekannte Örtlichkeiten wandere.
Was auch immer ihm im Leben begegnete, er wandte stets sofort dasjenige Mittel an, das für die betreffende Situation erforderlich war, so wie eine Wirtschafterin aus der Menge der an ihrem Gurte hängenden Schlüssel ohne weiteres gerade den herausfindet, der zu dieser oder jener Tür paßt. Am allerhöchsten schätzte er die Beharrlichkeit im Streben nach einem Ziele; diese war in seinen Augen ein Zeichen von Charakterfestigkeit, und einem Menschen, der solche Beharrlichkeit bewies, versagte er niemals seine Achtung, wie gering dessen Ziele auch an sich sein mochten.
»Das ist ein Mensch, wie er sein muß!« sagte er.
Brauchen wir erst noch hinzuzufügen, daß er selbst bei der Verfolgung seines Zieles kühn über alle Hindernisse hinwegschritt und nur dann von einer Aufgabe Abstand nahm, wenn er auf seinem Wege eine Mauer aufragte oder ein unüberschreitbarer Abgrund klaffte?
Aber er war unfähig, sich mit jener Kühnheit zu wappnen, die mit geschlossenen Augen den Sprung über den Abgrund wagt oder aufs Geratewohl gegen die Mauer anstürmt. Er maß den Abgrund oder die Mauer, und wenn es kein verläßliches Mittel zur Überwindung des Hindernisses gab, so ging er weg, mochten die Leute von ihm reden, was sie wollten.
Damit ein solcher Charakter zustande kam, war vielleicht die Mischung gerade derjenigen Elemente notwendig gewesen, aus denen sich Stolzens Wesen gebildet hatte. Diejenigen Männer, die die wirkende Kraft sein sollen, wurden bei uns von jeher sozusagen in fünf oder sechs stereotype Formen gegossen, blickten träge mit einem halben Auge um sich, legten die Hand an die Maschine des sozialen Lebens und bewegten dieselbe schläfrig in dem gewohnten Geleise weiter, indem sie die Füße in die von den Vorgängern hinterlassenen Stapfen setzten. Aber nun machten sich die Augen von dem Halbschlafe los; man hörte mutige, weite Schritte und lebhafte Stimmen . . . Wieviele Männer von Stolzens Art, aber mit russischem Namen, werden noch erscheinen müssen, damit alles gut wird!
Wie konnte ein solcher Mensch mit Oblomow nahe befreundet sein, bei dem jeder Charakterzug, jeder Schritt, das ganze Dasein in schreiendem Widerspruche zu Stolzens Leben standen? Aber es ist wohl nicht mehr strittig, daß entgegengesetzte Extreme, wenn sie auch nicht als Veranlassung zur Sympathie dienen, wie man früher meinte, der Sympathie wenigstens in keiner Weise hinderlich sind. Außerdem verband sie die Kindheit und die Schule, zwei starke Momente; ferner die russischen gutmütigen, herzlichen Liebkosungen, die in der Familie Oblomow dem deutschen Knaben reichlich gespendet wurden; ferner die Stellung als Stärkerer, die Stolz Oblomow gegenüber in physischer und in geistiger Hinsicht einnahm. Endlich aber lag (und das war das Wichtigste) im Grunde von Oblomows Natur ein reines, lichtes, gutes Element voll tiefer Sympathie für alles, was gut war und sich auf den Ruf dieses schlichten, harmlosen, stets vertrauensvollen Herzens auftat und auf ihn antwortete.
Wer zufällig oder absichtlich einen Blick in Oblomows lichte, kindliche Seele warf, mochte er auch ein finsterer, böser Mensch sein, der konnte ihm Gegenliebe nicht versagen oder mußte, wenn die Umstände eine Annäherung verhinderten, ihm wenigstens ein gutes, dauerndes Andenken bewahren.
Andrei riß sich oft von seinen Geschäften oder von einer gesellschaftlichen Veranstaltung, einer Abendgesellschaft, einem Balle, los und fuhr zu Oblomow, um auf dessen breitem Sofa zu sitzen, in lässigem Gespräche sich das Herz zu erleichtern und die aufgeregte oder ermüdete Seele zu beruhigen, und empfand jedesmal jenes sanfte, friedliche Gefühl, das man empfindet, wenn man aus prächtigen Sälen wieder unter das eigene bescheidene Dach tritt oder von den Schönheiten der südlichen Natur in den Birkenhain zurückkehrt, in dem man sich als Kind ergangen hat.