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Oblomow hatte, wenn er in bequemen Stellungen träge dalag und entweder matt vor sich hindämmerte oder Anfälle von Begeisterung bekam, sich in seiner Phantasie das Weib immer in erster Linie als Gattin, kaum je als Geliebte vorgestellt.
In seinen Träumereien stand ihm das Bild einer hochgewachsenen, schlanken Frau vor Augen, mit ruhig über der Brust verschränkten Armen, mit stillem, aber stolzem Blicke, wie sie lässig in der Efeulaube saß oder mit leichtem Gange über den Teppich oder über den Sand der Allee dahinschritt, sich in den Hüften wiegend, den Kopf graziös auf die Schulter geneigt, mit sinnender Miene – wie ein Ideal, wie die Verkörperung eines ganzen Lebens voll Behaglichkeit und feierlicher Ruhe, wie die Ruhe selbst.
Er sah sie in seinen Träumereien zuerst reich mit Blumen geschmückt am Altar, mit einem langen Schleier, dann am Kopfende des Ehebettes mit schamhaft niedergeschlagenen Augen, endlich als Mutter inmitten einer Gruppe von Kindern.
In seinen Träumereien lag auf ihren Lippen ein Lächeln, das nichts Leidenschaftliches hatte, und ihre Augen schimmerten nicht feucht von allerlei Wünschen: das Lächeln bekundete Zuneigung zu ihm, dem Gatten, und ruhige Freundlichkeit gegen alle andern; und der Blick hatte nur ihm gegenüber etwas Herzliches, während er andern gegenüber schamhaft, ja streng war.
Er wollte sie niemals beben und zittern sehen, niemals sehnsüchtige Zukunftsträumereien aus ihrem Munde hören, niemals an ihr plötzliche Tränen, Qualen, Ermattung und dann einen tollen Übergang zur Freude wahrnehmen. Süße Melancholie und Schwärmerei für den Silbermond waren durchaus entbehrlich. Sie sollte nicht plötzlich blaß werden, in Ohnmacht fallen, aufregenden Gefühlsausbrüchen unterworfen sein.
»Solche Frauen haben Liebhaber«, sagte er sich, »und sie machen einem auch viel Mühe und Umstände: sie brauchen Ärzte und Badereisen und quälen einen mit einer Unmenge der verschiedenartigsten Launen. Dabei kann man nicht ruhig schlafen.
Aber an der Seite einer stolzen, schamhaften, ruhigen Lebensgefährtin, da schläft ein Mann sorglos. Er schläft mit der festen Zuversicht ein, beim Erwachen demselben sanften, freundlichen Blicke zu begegnen. Und noch nach zwanzig, dreißig Jahren begegnet seinem warmen Blicke in ihren Augen derselbe sanfte, still schimmernde Strahl von Zuneigung. Und so bis zum Grabe.
Und ist das nicht das geheime Ziel jedes Mannes und jedes Weibes, an dem Lebensgefährten ein unveränderlich ruhiges Gesicht, ein stets gleichbleibendes Gefühl zu finden? Das ist ja die normale Form der Liebe, und sobald eine Abweichung davon, eine Änderung, eine Abkühlung eintritt, leiden wir: folglich ist mein Ideal das allgemein gültige?« dachte er. »Sind damit nicht die wechselseitigen Beziehungen der beiden Geschlechter vollkommen festgestellt und klargelegt?
Der Leidenschaft einen gesetzlichen Ausgang zu schaffen, ihr einen ordnungsmäßigen Lauf zu weisen, wie man es bei einem Flusse zum Segen für die ganze Gegend tut, das ist eine soziale Aufgabe, das ist der Gipfel des Fortschrittes, zu dem alle diese George Sands emporstreben, von dem sie jedoch seitwärts abirren. Nach der Lösung dieser Aufgabe gibt es keine Untreue und keine Abkühlung mehr, sondern ein stets gleichmäßiges Schlagen des ruhigen, glücklichen Herzens, folglich ein stets inhaltsreiches Leben, eine stete Saftzeit des Lebens, eine stete sittliche Gesundheit.
Es gibt Beispiele eines solchen glücklichen Lebens; aber sie sind selten: man weist auf sie hin wie auf ein Phänomen. Man muß dazu geboren sein, heißt es. Und Gott weiß, ob man nicht auch dazu erzogen sein, nicht mit Bewußtsein auf dieses Ziel losgehen muß . . .
Die Leidenschaft! All das ist ganz schön in Gedichten und auf der Bühne, wo die Schauspieler mit dem Dolch unter dem Mantel umhergehen und dann die Ermordeten und die Mörder zusammen Abendbrot essen . . .
Es wäre gut, wenn auch die Leidenschaften so endeten; aber von denen bleiben nur Rauch und Gestank zurück; Glück aber ist nicht dabei! Und wenn man daran zurückdenkt, so schämt man sich und reißt sich die Haare aus.
Wenn einen aber ein solches Unglück, eine Leidenschaft, betrifft, so ist das gerade, wie wenn man auf eine zerfahrene, holperige, greuliche Landstraße gerät, auf der sowohl die Pferde stürzen als auch der Insasse ganz zermartert wird; aber schon ist das Heimatdorf in Sicht; das darf man nicht aus den Augen lassen, sondern man muß sich so schnell wie irgend möglich aus der gefährlichen Gegend zu ihm hindurcharbeiten . . .
Ja, man muß die Leidenschaft bei der Heirat einschränken, ersticken und ertränken! . . .«
Er wäre erschrocken von einer Frau geflohen, die ihn mit ihren Augen versengt hätte oder selbst aufgestöhnt hätte, ihm mit geschlossenen Augen an die Schulter gesunken wäre und dann nach wiedererlangtem Bewußtsein seinen Hals mit ihren Armen bis zum Ersticken umschlungen hätte . . . »Das ist ein Feuerwerk, die Explosion eines Pulverfasses; und was ist die Folge! Betäubung, Blendung und verbranntes Haar!«
Aber sehen wir nun, was für ein Mädchen Olga war.
Nachdem ihm das Bekenntnis entfahren war, sahen sie einander lange Zeit nicht unter vier Augen. Er versteckte sich wie ein Schulknabe, sobald er Olga erblickte. Sie hatte sich in ihrem Benehmen gegen ihn geändert; aber sie vermied ihn nicht und war auch nicht kalt, sondern sie war nur nachdenklicher geworden.
Es tat ihr, wie es schien, leid, daß etwas geschehen war, wodurch sie gehindert wurde, Oblomow mittels des auf ihn gerichteten neugierigen Blickes zu quälen und ihn in gutherziger Weise wegen seines Umherliegens, seiner Trägheit und seiner Ungeschicklichkeit zu verspotten . . .
Oblomows komische Seiten reizten sie zum Lachen, aber nur in der Weise, wie eine Mutter nicht umhin kann zu lächeln, wenn sie den lächerlichen Anzug ihres Sohnes sieht. Stolz war weggereist, und es war ihr verdrießlich, daß sie niemanden hatte, dem sie etwas vorsingen konnte; ihr Flügel war geschlossen – kurz, auf ihnen beiden lastete ein Zwang, sie fühlten sich in Fesseln geschlagen, es war ihnen unbehaglich zumute.
Und wie schön hatte sich alles zuerst angelassen! In wie einfacher Weise waren sie miteinander bekannt geworden! Wie ungezwungen waren sie einander nähergetreten! Oblomow war schlichter und gutherziger als Stolz, wenn er sie auch nicht so zum Lachen brachte; oder er brachte sie durch seine eigene Person zum Lachen und verzieh ihre Spöttereien so leicht.
Überdies hatte Stolz bei seiner Abreise Oblomow ihrer Obhut anvertraut, sie gebeten, ein Auge auf ihn zu haben und ihn am Stubenhocken zu hindern. In ihrem klugen, hübschen Köpfchen hatte sich schon ein ausführlicher Plan entwickelt, wie sie Oblomow das Schlafen nach Tische abgewöhnen wollte; und damit nicht genug: sie wollte ihm auch nicht einmal erlauben, bei Tage auf dem Sofa zu liegen; er sollte ihr sein Wort darauf geben, dies nicht mehr zu tun.
Sie gefiel sich in dem Gedanken, daß sie ihm »befehlen« werde, die Bücher zu lesen, welche Stolz dagelassen hatte, ferner täglich die Zeitungen zu lesen und ihr die Neuigkeiten daraus zu erzählen, Briefe nach seinem Dorfe zu schreiben, den Plan der Einrichtung des Gutes zu Ende zu bringen, sich zu der Reise ins Ausland vorzubereiten – kurz, er sollte unter ihrer Aufsicht nicht in Halbschlaf versinken; sie wollte ihm ein Ziel zeigen, ihn die einst gern ausgeübten, dann aufgegebenen Tätigkeiten wieder lieben lehren. Stolz sollte ihn bei seiner Rückkehr gar nicht wiedererkennen.
Und dieses ganze Wunder würde sie zustande bringen, die schüchterne, schweigsame Olga, der bisher noch niemand gehorcht hatte, und die noch nicht angefangen hatte zu leben! Sie würde die Urheberin einer solchen Umwandlung sein! Und diese Umwandlung hatte bereits begonnen: sowie sie zu singen angefangen hatte, war Oblomow ein anderer geworden . . .
Er würde leben, wirken, das Leben und sie segnen. Welch ein Ruhm für einen Arzt, wenn er einen hoffnungslosen Kranken rettet, ihn dem Leben wiedergibt! Und einen zugrunde gehenden Geist, eine zugrunde gehende Seele zu retten, war das etwas Geringeres? . . .
Sie zitterte sogar vor stolzer, freudiger Aufregung; sie hielt das für eine ihr von Gott gestellte Aufgabe. Sie machte ihn in Gedanken zu ihrem Sekretär, zu ihrem Bibliothekar.
Und nun sollte das alles plötzlich zu Ende sein! Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte, und schwieg daher, wenn sie mit Oblomow zusammenkam.
Oblomow quälte sich mit dem Gedanken, daß er sie erschreckt und beleidigt habe, erwartete zornfunkelnde Blicke und kalte Strenge, zitterte, sobald er sie sah, und wich ihr aus.
Inzwischen war er schon nach dem Landhause übergesiedelt und schweifte drei Tage lang ganz allein in dem unebenen, sumpfigen Terrain und im Walde umher oder ging ins Dorf, saß müßig am Tore eines Bauernhauses und sah zu, wie die Kinder und die Kälber umherliefen und die Enten im Teiche plätscherten.
In der Nähe des Landhauses befand sich ein See und ein gewaltig großer Park; aber er fürchtete sich dorthin zu gehen, um nicht Olga allein zu treffen.
»Was für eine unverzeihliche Torheit, so herauszuplatzen!« dachte er und fragte sich nicht einmal, ob ihm da wirklich die Wahrheit entfahren war, oder ob das nur die augenblickliche Wirkung der Musik auf die Nerven gewesen war.
Das Gefühl der Unbehaglichkeit oder der Beschämung über den ihr angetanen »Schimpf«, wie er sich ausdrückte, hinderte ihn daran, sich darüber klar zu werden, von welcher Art jene übereilte Äußerung gewesen war, und was Olga ihm überhaupt war. Er bemühte sich nicht, festzustellen, was zu seinem Herzen für ein neues, vorher darin nicht vorhandenes Element hinzugekommen war. Alle seine Gefühle hatten sich zu einem einzigen zusammengeballt – zu dem der Scham. Wenn sie aber für einzelne Augenblicke vor seiner Einbildungskraft erschien, so tauchte in dieser auch jenes Bild, jenes verkörperte Ideal der Ruhe und des Lebensglückes auf: und dieses Ideal war Zug für Zug Olga! Beide Bilder deckten sich und flossen zu einem einzigen zusammen.
»Ach, was habe ich angerichtet!« sagte er. »Ich habe alles zerstört! Gott sei Dank, daß Stolz verreist ist; so hat sie es ihm nicht mehr erzählen können; sonst müßte ich ja vor Scham in die Erde sinken! Liebe, Tränen – steht mir das zu Gesichte? Auch Olgas Tante schickt nicht zu mir, um mich zu sich einzuladen; gewiß hat sie es der erzählt . . . O mein Gott! . . .«
So dachte er, während er sich in die abgelegenste Gegend des Parks, in eine Seitenallee zurückzog.
Olga fand es nur schwer, sich die Frage zu beantworten, wie sie ihm entgegentreten sollte, und wie eine solche Begegnung sich abspielen werde. Sollte sie von dem Geschehenen schweigen, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, oder mußte sie etwas zu ihm sagen?
Aber was sollte sie sagen? Sollte sie ein finsteres Gesicht machen und ihn stolz anblicken? Oder sollte sie ihn überhaupt nicht einmal anblicken, sondern in hochmütigem, trockenem Tone bemerken, sie habe ein solches Benehmen von ihm in keiner Weise erwartet; wofür er sie denn halte, daß er sich eine solche Dreistigkeit herausgenommen habe? So hatte Sonitschka bei der Masurka einem Kornett geantwortet, obgleich sie selbst sich vorher alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, ihm den Kopf zu verdrehen.
»Aber was ist denn daran für eine Dreistigkeit?« fragte sie sich. »Nun, wenn er das wirklich empfindet, warum soll er es nicht aussprechen? – Aber wie konnte er es nur so plötzlich tun, nachdem er mich kaum kennengelernt hatte? . . . Ein anderer würde das unter keinen Umständen gesagt haben, wenn er ein Mädchen erst zum zweiten oder dritten Male gesehen hätte; aber es würde auch niemand so schnell Liebe empfunden haben. Das konnte eben nur Oblomow . . .«
Aber sie erinnerte sich, gehört und gelesen zu haben, daß die Liebe oft ganz plötzlich kommt.
»Es war bei ihm ein Ausbruch der innerlichen Empfindung, ein unwillkürlicher Impuls; jetzt läßt er sich nicht blicken; er schämt sich: also war es keine Dreistigkeit. Aber wer ist schuld daran?« dachte sie weiter. »Bestimmt Andrei Iwanowitsch, weil er mich zum Singen veranlaßte.«
Aber Oblomow hatte sie anfangs gar nicht singen hören wollen; sie hatte sich darüber geärgert, und sie hatte sich Mühe gegeben (sie wurde ganz rot bei dieser Erinnerung), ja, sie hatte sich aus aller Kraft Mühe gegeben, ihn aufzurütteln.
Stolz hatte von ihm gesagt, er sei apathisch und interessiere sich für nichts; es sei alles in ihm erloschen . . . Und da hatte sie sehen wollen, ob wirklich alles erloschen sei, und hatte gesungen, gesungen wie nie zuvor . . .
»O mein Gott! Ich bin ja selbst schuld daran: ich werde ihn um Verzeihung bitten . . . Aber um Verzeihung wofür?« fragte sie dann. »Was werde ich zu ihm sagen? Etwa: ›Monsieur Oblomow, ich bitte Sie um Verzeihung: ich habe Sie verlockt‹? Welche Schande! Das wäre eine Unwahrheit!« sagte sie, von dunkler Röte übergossen, und stampfte mit dem Fuße. »Wer wagt, das zu denken? . . . Habe ich etwa vorhergewußt, was sich ereignen werde? Wenn sich das aber nicht ereignet hätte, wenn ihm diese Äußerung nicht entfahren wäre . . . was dann? . . .« fragte sie sich. »Ich weiß es nicht . . .« dachte sie.
Sie hatte seit jenem Tage so eine seltsame Empfindung am Herzen . . . sie fühlte sich wohl sehr beleidigt . . . sie bekam sogar Hitze, und auf ihren Wangen erschienen zwei rosa Flecke . . .
»Nervosität . . . ein leichtes Fieber«, sagte der Arzt.
»Was hat dieser Oblomow angerichtet! Oh, ich muß ihm eine gehörige Lehre geben, damit sich das in Zukunft nicht wiederholt! Ich werde ma tante bitten, ihm das Haus zu verbieten; er darf sich nicht so vergessen . . . Wie hat er es nur wagen können!« dachte sie, während sie im Parke umherging; ihre Augen brannten . . .
Auf einmal hörte sie, daß jemand kam.
»Es kommt jemand«, dachte Oblomow.
Da standen sie Gesicht gegen Gesicht einander gegenüber.
»Olga Sergejewna!« sagte er, zitternd wie Espenlaub.
»Ilja Iljitsch!« erwiderte sie schüchtern, und beide hielten inne.
»Guten Tag«, sagte er.
»Guten Tag«, versetzte sie.
»Ich gehe nur so spazieren«, antwortete sie, ohne die Augen aufzuschlagen.
»Störe ich Sie?«
»Oh, durchaus nicht . . .« versetzte sie und sah ihn schnell mit einem neugierigen Blicke an.
»Darf ich Sie begleiten?« fragte er, ihr plötzlich einen prüfenden Blick zuwerfend.
Sie gingen schweigend den Steig entlang. Weder aus Furcht vor dem Lineal des Lehrers, noch aus Furcht vor den zusammengezogenen Brauen des Direktors hatte Oblomows Herz jemals in seinem Leben so gepocht wie jetzt. Er wollte etwas fragen, sich dazu zwingen; aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen; nur das Herz schlug ihm übermäßig, wie in Ahnung eines Unglücks.
»Haben Sie keinen Brief von Andrei Iwanowitsch bekommen?« fragte sie.
»Ja, ich habe einen bekommen«, antwortete Oblomow.
»Was schreibt er denn?«
»Er schreibt, ich soll nach Paris kommen.«
»Und was werden Sie tun?«
»Ich werde hinfahren.«
»Wann denn?«
»Gleich . . . nein, morgen . . . sobald ich fertig bin.«
»Warum denn so bald?« fragte sie.
Er schwieg.
»Gefällt Ihnen Ihr Landhaus nicht, oder . . . sagen Sie doch, warum wollen Sie wegfahren?«
»Der dreiste Mensch! Er will sogar wegfahren!« dachte sie.
»Es schmerzt mich etwas; ich fühle mich unbehaglich; es quält mich etwas«, flüsterte Oblomow, ohne sie anzusehen. Sie schwieg, brach einen Fliederzweig ab und roch daran, hielt auch ihm den Flieder an die Nase.
»Aber da sind Maiglöckchen! Warten Sie, ich werde Ihnen welche pflücken«, sagte er, sich zum Boden hinabbiegend. »Die riechen besser, nach Feld und Wald; es ist mehr Natur darin. Der Flieder wächst immer bei den Häusern; die Zweige kriechen ordentlich in die Fenster hinein; sein Geruch hat etwas widerlich Süßes. Sehen Sie nur, auf den Maiglöckchen ist der Tau noch nicht weggetrocknet.«
Er reichte ihr einige Maiglöckchen hin.
»Mögen Sie Reseda gern?« fragte sie.
»Nein, er riecht mir zu stark; ich mag weder Reseda noch Rosen gern. Ich liebe Blumen überhaupt nicht; auf dem Felde geht es noch; aber im Zimmer hat man von ihnen gar zu viel Arbeit . . . auch Schmutz . . .«
»Und Sie haben es gern, daß es in den Zimmern sauber ist?« fragte sie, ihn schelmisch anblickend. »Sie können Schmutz nicht ausstehen?«
»Nein, aber ich habe einen solchen Diener . . .« murmelte er.
»Oh, die Boshafte!« fügte er im stillen hinzu.
»Fahren Sie direkt nach Paris?« fragte sie.
»Ja, Stolz erwartet mich schon lange.«
»Nehmen Sie doch einen Brief an ihn mit; ich werde einen schreiben«, sagte sie.
»Dann geben Sie ihn mir, bitte, heute noch; ich ziehe morgen nach der Stadt.«
»Morgen?« fragte sie. »Warum so bald? Das sieht ja so aus, als ob Sie jemand wegjagte.«
»Das ist auch wirklich der Fall.«
»Wer jagt Sie denn weg?«
»Die Scham«, flüsterte er.
»Die Scham«, sprach sie ihm mechanisch nach. Und im stillen dachte sie: »Jetzt werde ich zu ihm sagen: ›Monsieur Oblomow, ich hätte nie von Ihnen erwartet . . .‹«
»Ja, Olga Sergejewna«, antwortete er, sich endlich mit Gewalt zwingend. »Ich glaube, Sie wundern sich . . . Sie zürnen . . .«
»Jetzt ist es Zeit«, dachte sie; »jetzt ist der richtige Augenblick.« Das Herz klopfte ihr gewaltig. »Ich kann es nicht, o mein Gott!«
Er bemühte sich, ihr ins Gesicht zu blicken, um zu erkennen, wie sie seine Worte aufnahm; aber sie roch an den Maiglöckchen und dem Flieder und wußte selbst nicht, was sie wollte . . . was sie sagen und was sie tun sollte.
»Ach, Sonitschka hätte sich sofort etwas ausgesonnen«, dachte sie. »Aber ich bin so dumm; ich verstehe gar nichts . . . es ist eine Qual!«
»Ich kann mich gar nicht erinnern . . .« sagte sie.
»Glauben Sie mir, es war unwillkürlich . . . ich konnte mich nicht beherrschen . . .« begann er, sich allmählich mit Mut wappnend. »Wäre ein Donnerschlag ertönt, ein Stein mir auf den Kopf gefallen, ich hätte es trotzdem gesagt. Ich konnte es mit keiner Kraft zurückhalten . . . Um Gotteswillen, glauben Sie nicht, daß ich absichtlich . . . Ich selbst hätte einen Augenblick darauf Gott weiß was darum gegeben, wenn ich das unvorsichtige Wort hätte ungesagt machen können . . .«
Sie ging mit gesenktem Kopfe und roch an den Blumen.
»Vergessen Sie es also«, fuhr er fort, »vergessen Sie es um so mehr, da es eine Unwahrheit ist . . .«
»Eine Unwahrheit?« wiederholte sie plötzlich, indem sie sich geraderichtete und die Blumen fallen ließ.
Ihre Augen öffneten sich auf einmal weit; in ihnen leuchtete ein starkes Erstaunen.
»Wieso eine Unwahrheit?« sagte sie noch einmal.
»Ja, um Gotteswillen, zürnen Sie mir nicht und vergessen Sie es! Ich versichere Sie: ich habe mich nur für einen Augenblick hinreißen lassen . . . das kam von der Musik.«
»Nur von der Musik! . . .«
Ihr Gesicht veränderte sich: die beiden rosa Flecke verschwanden, und ihre Augen trübten sich.
»Also es ist gar nichts mehr los! Er hat das unvorsichtige Wort zurückgenommen, und ich habe keinen Anlaß, zornig zu sein! . . . Das ist ja schön . . . jetzt ist alles wieder in Ordnung . . . Ich kann wie früher mit ihm reden und scherzen . . .« dachte sie, brach im Vorbeigehen gewaltsam einen Zweig von einem Baum, riß mit den Lippen ein Blatt davon ab und warf dann gleich sowohl den Zweig als auch das Blatt auf den Weg.
»Sie zürnen nicht? Sie haben es vergessen?« sagte Oblomow, sich zu ihr hinbiegend.
»Aber was ist denn? Um was bitten Sie?« fragte sie in erregtem, beinahe ärgerlichem Tone und wandte sich von ihm ab. »Ich habe alles vergessen . . . ich habe ein so kurzes Gedächtnis!«
Er schwieg und wußte nicht, was er tun sollte. Er sah nur ihren plötzlichen Ärger, ohne seine Ursache zu verstehen.
»O Gott!« dachte sie. »Nun ist alles wieder zurechtgekommen; diese Szene ist so gut wie ungeschehen, Gott sei Dank! Nun gut . . . Ach mein Gott! Was stellt das nur alles vor? Ach, Sonitschka, Sonitschka, wie glücklich bist du!«
»Ich möchte nach Hause gehen«, sagte sie auf einmal, beschleunigte ihre Schritte und bog in eine andere Allee ein.
Sie spürte in der Kehle, daß ihr die Tränen kamen, und fürchtete, sie würde losweinen.
»Nicht dort; hier ist es näher«, bemerkte Oblomow. »Ich Dummkopf!« sagte er niedergeschlagen zu sich selbst. »Wozu brauchte ich ihr das zu erklären? Jetzt habe ich sie nur noch ärger beleidigt. Ich hätte sie gar nicht daran erinnern sollen; es wäre auch so vorübergegangen und von selbst in Vergessenheit geraten. Jetzt ist nichts zu machen; ich muß sie um Verzeihung bitten.«
»Ich habe mich wohl deswegen geärgert«, dachte sie, »weil ich nicht dazu gekommen bin, ihm zu sagen: ›Monsieur Oblomow, ich hätte in keiner Weise erwartet, daß Sie sich erlauben würden . . .‹ Er ist mir zuvorgekommen . . . ›Eine Unwahrheit!‹ Was soll man dazu sagen: er hat sogar noch gelogen! Wie hat er das nur wagen können?«
»Haben Sie es wirklich vergessen?«
»Ja, ich habe es vergessen, habe alles vergessen!« erwiderte sie rasch und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
»Geben Sie mir Ihre Hand zum Zeichen, daß Sie mir nicht böse sind.«
Sie hielt ihm, ohne ihn anzusehen, die Fingerspitzen hin und zog, sowie er sie berührte, die Hand sogleich wieder zurück.
»Nein, Sie sind mir doch böse!« sagte er mit einem Seufzer. »Wie kann ich Sie nur davon überzeugen, daß ich mich nur habe hinreißen lassen, daß ich mir nicht erlaubt haben würde, mich so zu vergessen? . . . Nein, nun ist alles aus; ich werde nie mehr Ihren Gesang anhören . . .«
»Versichern Sie das nicht erst; ich bedarf Ihrer Versicherungen nicht . . .« sagte sie lebhaft. »Ich werde selbst nicht mehr für Sie singen!«
»Gut, ich werde schweigen«, sagte er. »Nur gehen Sie, ich bitte Sie um Gotteswillen, nicht so von mir weg; sonst bleibt auf meinem Herzen ein solcher Stein liegen, daß . . .«
Sie ging langsamer und begann seinen Worten mit gespannter Aufmerksamkeit zu lauschen.
»Wenn es wahr ist, daß Sie geweint haben würden, wenn Sie nicht gehört hätten, wie ich nach Ihrem Gesange: ›Ach!‹ sagte, so muß ich jetzt, wenn Sie so weggehen und nicht lächeln und mir nicht freundschaftlich die Hand reichen . . . Haben Sie Mitleid, Olga Sergejewna! Ich werde krank werden; die Knie zittern mir; ich kann kaum stehen . . .«
»Woher kommt denn das?« fragte sie und blickte ihn an.
»Ich weiß es selbst nicht«, erwiderte er. »Das Gefühl der Scham ist bei mir jetzt vergangen; ich schäme mich meines Wortes nicht . . . ich glaube, es lag darin . . .«
Es lief ihm wieder ein Zittern über das Herz; es war wieder etwas Neues darin vorhanden; ihr freundlicher, neugieriger Blick versengte ihn gleichsam wieder. Sie wandte sich überaus anmutig zu ihm hin und erwartete mit größter Unruhe seine Antwort.
»Was lag darin?« fragte sie ungeduldig.
»Nein, ich fürchte mich, es zu sagen: Sie werden mir wieder böse werden.«
»Reden Sie!« sagte sie in befehlendem Tone.
Er schwieg.
»Nun?«
»Ich möchte wieder weinen, wenn ich Sie anblicke . . . Sehen Sie, ich besitze keinen Ehrgeiz; ich schäme mich meines Herzens nicht . . .«
»Warum möchten Sie denn weinen?« fragte sie, und auf ihren Wangen erschienen wieder die beiden rosa Flecke.
»Ich glaube immer Ihre Stimme zu hören . . . ich fühle wieder . . .«
»Was fühlen Sie?« fragte sie, und die Tränen traten bei ihr wieder zurück; sie wartete mit gespannter Aufmerksamkeit.
Sie waren bis zur Freitreppe des Landhauses gelangt, in welchem Olga wohnte.
»Ich fühle . . .« fuhr Oblomow eilig fort, hielt aber dann wieder inne.
Sie stieg langsam, wie mit Mühe, die Stufen hinan.
»Dieselbe Musik . . . dieselbe . . . Erregung . . . dasselbe . . . Gefühl . . . verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir; bei Gott, ich kann mit mir selbst nicht zurechtkommen . . .«
»Monsieur Oblomow«, begann sie in strengem Tone; aber dann wurde ihr Gesicht auf einmal von dem Strahle eines Lächelns erhellt; »ich zürne Ihnen nicht, ich verzeihe Ihnen«, fügte sie weich hinzu; »nur dürfen Sie in Zukunft . . .«
Sie streckte ihm, ohne sich umzuwenden, nach rückwärts die Hand hin; er ergriff sie und küßte sie auf die innere Seite; sie drückte leise seine Lippen zusammen und schlüpfte schleunigst durch die Glastür. Er aber blieb wie angewurzelt stehen.