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Der Eintretende war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren; sein Gesicht strahlte nur so von Gesundheit; seine Backen, seine Lippen und seine Augen lachten. Man wurde neidisch, wenn man ihn ansah.
Er war tadellos frisiert und gekleidet und blendete den Beschauer durch die Frische seines Gesichtes und durch die Schönheit seiner Wäsche, seiner Handschuhe und seines Fracks. Auf der Weste hing eine geschmackvolle Uhrkette mit einer Menge kleiner Anhänger. Er holte ein sehr feines batistenes Taschentuch hervor, zog das orientalische Parfüm ein, fuhr dann damit lässig über sein Gesicht und über den glänzenden Hut und schlug sich damit den Staub von den Lackstiefeln.
»Ah, guten Tag, Wolkow!« sagte Ilja Iljitsch.
»Guten Tag, Oblomow«, sagte der schmucke Herr, indem er näher an ihn herantrat.
»Kommen Sie nicht so nah heran, kommen Sie nicht so nah heran: Sie kommen aus der Kälte!« sagte dieser.
»O Sie Zärtling, Sie Sybarit!« erwiderte Wolkow und sah sich um, wo er seinen Hut hinstellen könnte; aber da er überall Staub sah, so stellte er ihn nirgends hin. Dann machte er seine beiden Frackschöße auseinander, um sich hinzusetzen; nachdem er aber den Lehnstuhl aufmerksam betrachtet hatte, blieb er stehen.
»Sie sind noch nicht aufgestanden! Und was haben Sie denn da für einen Schlafrock an? Solche trägt man ja schon längst nicht mehr«, schalt er Oblomow.
»Das ist ein orientalischer Schlafrock«, erwiderte Oblomow und wickelte sich liebevoll in die weiten Schöße dieses Kleidungsstückes.
»Wie steht's mit Ihrer Gesundheit?« fragte Wolkow.
»Gesundheit ist das gar nicht zu nennen!« antwortete Oblomow gähnend. »Es geht mir schlecht: meine Kongestionen haben mir arg zugesetzt. Und Sie, wie befinden Sie sich?«
»Ich? Oh, es macht sich: ich bin gesund und munter – sehr munter!« fügte der junge Mann offenbar aufrichtig hinzu.
»Von wo kommen Sie denn so früh?« fragte Oblomow.
»Vom Schneider. Sehen Sie mal, ist mein Frack nicht schön?« sagte er und drehte sich vor Oblomow hin und her.
»Vorzüglich! Er ist mit vielem Geschmack angefertigt«, versetzte Ilja Iljitsch; »aber warum ist er hinten so weit?«
»Es ist ein Reitfrack: zum Ausreiten.«
»Ah! Sehen Sie mal an! Reiten Sie denn?«
»Gewiß! Ich habe mir den Frack gerade für heute machen lassen. Heute ist ja der erste Mai; da reite ich mit Gorjunow nach JekateringofPark mit Schloß im Südwesten von Petersburg. Anm. d. Übers.. Ach, Sie wissen von nichts? Mischa Gorjunow ist befördert worden – da wollen wir heute auf dem Korso paradieren«, fügte Wolkow entzückt hinzu.
»Na, so etwas!« sagte Oblomow.
»Er reitet einen Fuchs«, fuhr Wolkow fort. »In seinem Regimente haben sie sämtlich Füchse; ich aber habe einen Rappen. Wie werden Sie denn hinkommen: zu Fuß oder im Wagen?«
»Gar nicht«, erwiderte Oblomow.
»Wie kann jemand am ersten Mai nicht in Jekateringof sein! Was reden Sie, Ilja Iljitsch!« rief Wolkow erstaunt. »Es sind alle da!«
»Na, wie werden denn alle da sein! Nein, alle denn doch nicht!« bemerkte Oblomow träge.
»Kommen Sie mit, teuerster Ilja Iljitsch! Sofia Nikolajewna und Lidija werden im Wagen nur zu zweien sein; gegenüber ist im Wagen noch ein Bänkchen; da könnten Sie mitfahren . . .«
»Nein, auf dem Bänkchen habe ich nicht Platz. Und was sollte ich da auch machen?«
»Nun, dann wird Ihnen Mischa, wenn Sie wollen, ein anderes Pferd geben.«
»Gott weiß, was der für Einfälle hat!« sagte Oblomow, beinahe nur so für sich. »Warum sind Sie denn so hinter den Gorjunows her?«
»Ach!« seufzte Wolkow errötend. »Soll ich es sagen?«
»Sagen Sie es!«
»Werden Sie es auch niemandem wiedersagen – Ehrenwort?« fuhr Wolkow fort und setzte sich zu ihm auf das Bett.
»Schön, meinetwegen.«
»Ich . . . bin in Lidija verliebt«, flüsterte er.
»Bravo! Schon lange? Ich glaube, sie ist ein allerliebstes Wesen.«
»Schon drei Wochen lang!« sagte Wolkow mit einem tiefen Seufzer. »Und Mischa ist in Daschenka verliebt.«
»Wo sind Sie denn her, Oblomow? Kennt der Mensch Daschenka nicht! Die ganze Stadt ist davon enthusiasmiert, wie sie tanzt! Heute will ich mit ihm ins Ballett gehen, und er wird ihr ein Bukett werfen. Ich muß ihm ein bißchen Anweisung geben: er ist noch so schüchtern, ein Neuling . . . Ach, ich muß ja noch hinfahren und Kamelien besorgen . . .«
»Wohin wollen Sie denn noch? Lassen Sie das nur, und kommen Sie zu mir zum Mittagessen; dabei könnten wir miteinander reden. Ich habe in zwiefacher Hinsicht Unglück . . .«
»Ich kann nicht; ich speise beim Fürsten Tjumenew; alle Gorjunows werden da sein, auch sie, sie . . . meine süße Lidija«, fügte er flüsternd hinzu. »Warum haben Sie sich denn von dem Fürsten zurückgezogen? Was ist das für ein lustiges Haus! Wie fein und vornehm geht es da zu! Und das Landhaus! Es versinkt ordentlich in Blumen! Jetzt ist noch eine Galerie in gotischem Stil angebaut. Im Sommer sollen da, wie man hört, Tanzvergnügungen stattfinden und lebende Bilder gestellt werden. Sie werden doch hinkommen?«
»Nein, ich glaube, ich werde nicht hinkommen.«
»Ach, was ist das für ein Haus! In diesem Winter waren Mittwochs immer mindestens fünfzig Personen da, und manchmal fanden sich gegen hundert zusammen . . .«
»Mein Gott, das muß ja höllisch langweilig gewesen sein!«
»Wie können Sie so etwas sagen? Langweilig! Je mehr Leute da sind, um so lustiger ist es. Lidija war öfters da; ich beachtete sie zuerst nicht, und plötzlich . . .
›Vergeblich müh' ich mich, sie zu vergessen,
Die Leidenschaft zu bänd'gen durch Vernunft . . .‹«
sang er und setzte sich in Gedanken auf einen Lehnstuhl; aber plötzlich sprang er wieder auf und wischte sich den Staub vom Anzuge ab.
»Was liegt bei Ihnen überall für ein Staub!« sagte er.
»Daran ist immer dieser Sachar schuld!« klagte Oblomow.
»Na, es ist Zeit, daß ich gehe!« sagte Wolkow. »Ich muß das Kamelienbukett für Mischa besorgen. Au revoir.«
»Kommen Sie doch am Abend nach dem Ballett zum Tee zu mir; dann können Sie mir erzählen, was sich da zugetragen hat«, lud ihn Oblomow ein.
»Ich kann nicht; ich habe den Mussinskis mein Wort gegeben, zu ihnen zu kommen; die haben heute ihren Jour. Kommen Sie doch auch hin! Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie vorstellen.«
»Nein, was soll ich da machen?«
»Bei Mussinskis? Aber ich bitte Sie, da verkehrt die halbe Stadt. Wie können Sie fragen: Was soll ich da machen? Das ist ein Haus, wo über alles mögliche gesprochen wird . . .«
»Das ist ja eben das Langweilige, daß über alles mögliche gesprochen wird«, versetzte Oblomow.
»Nun, dann besuchen Sie Mesdrows«, unterbrach ihn Wolkow. »Da wird nur über einen einzigen Gegenstand gesprochen, über Kunst; da hört man weiter nichts als: Venezianische Schule, Beethoven, Bach, Leonardo da Vinci . . .«
»Immer und ewig dasselbe Thema – wie langweilig! Das müssen rechte Pedanten sein!« sagte Oblomow gähnend.
»Ihnen kann es auch niemand recht machen. Aber wieviele Familien gibt es nicht, und alle haben sie jetzt ihre Jours: bei Sawinows kann man Donnerstags dinieren. Maklaschins haben ihre Freitage, Wjasnikows ihre Sonntage, Fürst Tjumenew seine Mittwoche. Bei mir sind alle Tage besetzt!« schloß Wolkow mit strahlenden Augen.
»Und ist es Ihnen nicht unbequem, so Tag für Tag umherzurennen?«
»Unbequem? Wie kann einem das unbequem sein? Es ist höchst amüsant!« sagte er sorglos. »Am Morgen liest man ein bißchen; man muß auf allen Gebieten au courant sein, die Neuigkeiten wissen. Gott sei Dank ist meine dienstliche Tätigkeit von der Art, daß ich nicht in einem Büro zu sitzen brauche; ich sitze nur zweimal in der Woche ein bißchen beim General und speise bei ihm zu Mittag. Dann aber mach ich Visiten an Stellen, wo ich längere Zeit nicht gewesen bin; und dann . . . da tritt bald im russischen, bald im französischen Theater eine neue Schauspielerin auf. Jetzt beginnt die Opernsaison; da nehme ich ein Abonnement. Und jetzt bin ich verliebt . . . Der Sommer steht vor der Tür; die Vorgesetzten Mischas haben ihm einen Urlaub versprochen; da will ich mit ihm zur Abwechslung für einen Monat aufs Land fahren. Da kann ich auf die Jagd gehen. Ihre Nachbarn dort sind prächtige Leute; da werden bals champêtres veranstaltet. Mit Lidija werde ich im Walde spazierengehen, Kahn fahren, Blumen pflücken . . . Ach! . . .« und er drehte sich vor Freude hin und her. »Aber jetzt muß ich gehen adieu!« sagte er und versuchte vergebens, sich in dem verstaubten Spiegel von vorn und von hinten zu besehen.
»Warten Sie noch einen Augenblick«, hielt in Oblomow zurück; »ich möchte gern mit Ihnen über etwas Geschäftliches reden.«
»Pardon, ich habe keine Zeit«, versetzte Wolkow eilig; »ein andermal! – Aber wollen Sie nicht mit mir Austern essen? Dann können Sie mir ja erzählen, was Sie auf dem Herzen haben. Kommen Sie; Mischa traktiert.«
»Nein, was reden Sie da!« antwortete Oblomow.
»Na, dann adieu!«
Er ging zur Tür und kehrte wieder um.
»Haben Sie das schon gesehen?« fragte er, indem er ihm seine von dem Handschuh glatt umschlossene Hand zeigte.
»Was ist denn das?« fragte Oblomow verständnislos.
»Das sind die neuen lacets! Sehen Sie nur, wie vorzüglich so ein Ding zusammenzieht: man braucht sich nicht zwei Stunden lang mit den Knöpfen abzuquälen; man zieht an dem Schnürchen – fertig! Das ist soeben aus Paris gekommen. Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen ein Paar zur Probe, ja?«
»Schön, bringen Sie mit ein Paar!« antwortete Oblomow.
»Und sehen Sie einmal dies hier an: nicht wahr, allerliebst?« sagte er, während er aus der Menge von Anhängern einen heraussuchte. »Eine kleine Visitenkarte mit umgebogener Ecke.«
»Ich kann nicht erkennen, was darauf geschrieben steht.«
»Pr., das heißt prince; M., das heißt Michel«, sagte Wolkow; »für den Familiennamen Tjumenew hat der Platz nicht ausgereicht. Das hat er mir zu Ostern geschenkt, statt eines Ostereies. Aber nun adieu, au revoir. Ich muß noch nach zehn verschiedenen Stellen. O Gott, wie lustig lebt es sich auf der Welt!«
Und er verschwand.
»Nach zehn verschiedenen Stellen an einem Tage – der Unglückliche!« dachte Oblomow. »Und das nennt man nun ein Leben!« Er zuckte stark mit den Schultern. »Was wird da aus dem Menschen, wenn er sich so zersplittert und zerstückelt? Gewiß, es ist gar nicht so übel, auch einmal ins Theater hineinzusehen und sich in so eine Lidija zu verlieben . . . sie ist sehr nett! Auf dem Lande mit ihr Blumen zu pflücken und Kahn zu fahren, das ist ganz schön; aber nach zehn verschiedenen Stellen an einem Tage – der Unglückliche!« schloß er, drehte sich auf den Rücken und freute sich, daß er keine so nichtigen Wünsche und Gedanken hatte, daß er nicht herumrannte, sondern dalag, seine Menschenwürde aufrecht erhielt und seine Ruhe bewahrte.
Ein neues Läuten unterbrach seine Meditationen.
Es trat ein neuer Besucher ein.
Dies war ein Herr in einem dunkelgrünen Frack mit Wappenknöpfen, glatt rasiert, mit einem dunklen, sein Gesicht gleichmäßig umrahmenden Backenbarte, mit einem abgearbeiteten, aber ruhigen, selbstbewußten Ausdruck in den Augen, mit einem sehr intelligenten Gesichte und mit einem nachdenklichen Lächeln.
»Guten Tag, Sudbinski!« begrüßte ihn Oblomow erfreut. »Siehst du dich endlich auch einmal nach deinem alten Kollegen um? Komm nicht so nah heran, nicht so nah! Du kommst aus der Kälte.«
»Guten Tag, Ilja Iljitsch! Ich hatte schon längst vor, einmal zu dir zu kommen«, sagte der Besucher; »aber du weißt ja, was wir für einen anstrengenden Dienst haben! Da, sieh, ich trage einen ganzen Koffer voll Papiere zum Vortrag; und dem Kurier habe ich jetzt befohlen, wenn dort nach irgend etwas gefragt werden sollte, schleunigst hierher zu eilen. Ich kann auch nicht eine Minute lang über mich verfügen.«
»Gehst du erst jetzt zum Dienst? Warum denn so spät?« fragte Oblomow. »Früher gingst du doch immer um zehn Uhr . . .«
»Ja, früher; aber jetzt ist es eine andere Sache: ich fahre um zwölf hin.« Er legte auf das Wort »fahre« einen besonderen Nachdruck.
»Ah, ich verstehe!« sagte Oblomow. »Du bist Abteilungsvorsteher geworden! Schon lange?«
Sudbinski nickte bedeutsam mit dem Kopfe.
»Zu Ostern«, antwortete er. »Aber wieviel ich zu tun habe, das ist horrend! Von acht bis zwölf arbeite ich zu Hause, von zwölf bis fünf im Büro und abends wieder zu Hause. Von dem Umgange mit Menschen habe ich mich vollständig entwöhnt!«
»Hm! Abteilungsvorsteher – na so etwas!« sagte Oblomow. »Ich gratuliere! So ein Mensch! Und wir hatten zusammen als Kanzleibeamte gedient. Ich glaube, im nächsten Jahre rückst du zum Staatsrat auf.«
»Nicht doch! Was redest du! In diesem Jahre muß ich erst noch die Krone bekommen; ich glaubte, ich würde nur ›zu einer Auszeichnung‹ vorgeschlagen werden; aber jetzt habe ich ein neues Amt erhalten: zwei Jahre hintereinander geht das nicht . . .«
»Komm doch heute zu mir zum Mittagessen; wir wollen deine Beförderung durch ein Gläschen Wein feiern!« sagte Oblomow.
»Nein, heute speise ich beim Vizedirektor. Zum Donnerstag muß ich einen Vortrag vorbereiten; das ist eine höllische Arbeit. Auf die Berichte aus den Gouvernements kann man sich nicht verlassen. Man muß die Tabellen selbst nachprüfen. Foma Fomitsch ist so mißtrauisch: er will alles selbst machen. Da wollen wir uns heute nach Tische zusammen an die Arbeit setzen.«
»Wirklich nach Tische?« fragte Oblomow ungläubig.
»Was denkst du denn? Ich will noch zufrieden sein, wenn ich leidlich früh davon loskomme und wenigstens noch die Spazierfahrt nach Jekateringof mitmachen kann . . . Ja, ich bin herangekommen, um dich zu fragen, ob du nicht mitfahren willst? Ich würde dich abholen . . .«
»Ich bin nicht ganz wohl, ich kann nicht!« antwortete Oblomow, die Stirn runzelnd. »Und ich habe auch viel zu tun . . . nein, ich kann nicht!«
»Schade!« sagte Sudbinski; »es ist ein so schöner Tag. Ich hoffe mich heute zu erholen.«
»Nun, was gibt es bei euch Neues?« fragte Oblomow.
»Vieles, vieles: in den Briefen ist der Ausdruck ›ergebenster Diener‹ abgeschafft; es wird jetzt geschrieben: ›nehmen Sie die Versicherung usw.‹ Es ist verboten worden, die Dienstlisten in zwei Exemplaren vorzulegen. In unserem Büro sind drei Tische und zwei Beamte ›zu besonderen Aufträgen‹ hinzugekommen. Unsere Kommission ist geschlossen worden . . . Viel Neues!«
»Nun, und was machen unsere früheren Kollegen?«
»Da ist einstweilen nichts Besonderes zu sagen; Swinkin hat ein Aktenstück verloren!«
»Wirklich? Was hat denn der Direktor dazu gesagt?« fragte Oblomow mit zitternder Stimme. Er hatte, weil er die Verhältnisse von früher her kannte, einen Schreck bekommen.
»Er hat befohlen, ihm die Gratifikation vorzuenthalten, bis das Aktenstück sich wiedergefunden haben wird. Es ist ein wichtiges Aktenstück: ›über Zwangsvollstreckungen‹. Der Direktor glaubt«, fügte Sudbinski beinahe flüsternd hinzu, »er habe es absichtlich verloren.«
»Nicht möglich!« rief Oblomow.
»Nein, nein! Dieser Verdacht ist unbegründet«, stimmte ihm Sudbinski in würdevollem, gönnerhaftem Tone bei. »Swinkin ist ein windiger Kopf. Weiß der Teufel, was er manchmal für Resultate herausbekommt; er verwirrt alle Rekognitionen. Ich habe mich viel mit ihm abgequält; aber nein, so etwas läßt er sich nicht zuschulden kommen. Das tut er nicht, nein, nein! Er wird das Aktenstück irgendwo verlegt haben, und es wird sich später finden.«
»Also du steckst immer tief in der Arbeit!« sagte Oblomow. »Immer Amtstätigkeit.«
»Ja, es ist schrecklich, schrecklich! Nun freilich, unter einem solchen Manne wie Foma Fomitsch zu dienen ist ein Vergnügen: er läßt niemanden unbelohnt; selbst diejenigen, die nichts tun, vergißt er nicht. Wenn der Termin für die Auszeichnungen da ist, so macht er seine Vorschläge; wer noch nicht an der Reihe ist aufzurücken oder einen Orden zu bekommen, dem erwirkt er eine pekuniäre Zuwendung . . .«
»Wieviel bekommst du denn eigentlich?«
»Das will ich dir sagen: 1200 Rubel Gehalt, außerdem Tafelgeld 750 Rubel, Wohnungsgeld 600 Rubel, Beihilfe 900 Rubel, für Reisen 500 Rubel und an Gratifikationen gegen 1000 Rubel.«
»Donnerwetter!« rief Oblomow, vom Bette aufspringend. »Du hast wohl eine schöne Stimme? Du wirst ja bezahlt wie ein italienischer Sänger!«
»Das ist noch gar nichts! Pereswjetow bekommt Zulagen und arbeitet weniger als ich und versteht auch nichts. Na, allerdings erfreut er sich auch nicht eines so guten Rufes wie ich. Man weiß mich sehr zu schätzen«, fügte er mit niedergeschlagenen Augen bescheiden hinzu. »Der Minister hat kürzlich von mir gesagt, ich sei eine Zierde des Ministeriums.«
»Du bist ein Prachtmensch!« sagte Oblomow. »Aber von acht bis zwölf zu arbeiten und von zwölf bis fünf und dann noch zu Hause – o weh, o weh!«
Er wiegte den Kopf hin und her.
»Aber was sollte ich denn tun, wenn ich nicht meine dienstliche Tätigkeit hätte?« fragte Sudbinski.
»Da gibt es unzählige Dinge! Du könntest lesen, schreiben . . .« sagte Oblomow.
»Ich tue auch jetzt weiter nichts als lesen und schreiben.«
»Aber das ist doch etwas ganz anderes. Du könntest etwas drucken lassen . . .«
»Es können nicht alle Leute Schriftsteller sein. Du selbst schreibst ja auch nicht«, versetzte Sudbinski.
»Dafür habe ich ein Gut zu verwalten«, sagte Oblomow mit einem Seufzer. »Ich entwerfe einen neuen Plan; ich will verschiedene Verbesserungen einführen. Ich quäle mich und quäle mich . . . Aber deine Tätigkeit ist auf Fremdes gerichtet und nicht auf Eigenes.«
»Was soll ich tun? Wenn man Geld dafür bekommt, muß man auch arbeiten. Im Sommer will ich mich erholen: Foma Fomitsch hat mir versprochen, er wolle extra für mich einen auswärts zu erledigenden dienstlichen Auftrag ersinnen . . . da bekomme ich dann Fahrgelder für fünf Pferde, drei Rubel Diäten täglich und außerdem eine Gratifikation . . .«
»Das sind ja schöne Einnahmen!« sagte Oblomow neidisch; dann seufzte er und versank in Gedanken.
»Ich kann das Geld gebrauchen: ich heirate im Herbst«, fügte Sudbinski hinzu.
»Was du sagst! Wirklich? Wen denn?« fragte Oblomow teilnehmend.
»Ohne Scherz, Fräulein Muraschina. Erinnerst du dich, sie wohnten in der Sommerfrische neben mir. Du hast einmal bei mir Tee getrunken und sie dabei gesehen, glaube ich.«
»Nein, ich erinnere mich nicht. Ist sie hübsch?« fragte Oblomow.
»Ja, sie ist sehr nett. Wenn du willst, können wir einmal bei ihnen zu Mittag essen . . .«
Oblomow fing an zu stottern: »Ja . . . schön, nur . . .«
»In der nächsten Woche«, sagte Sudbinski.
»Ja, ja, in der nächsten Woche«, stimmte ihm Oblomow erfreut bei. »Mein Anzug ist noch nicht fertig. Nun, und ist es eine gute Partie?«
»Ja, der Vater ist Wirklicher Staatsrat; er gibt ihr zehntausend Rubel Mitgift, und wir wohnen mit in seiner Dienstwohnung. Er hat eine ganze Hälfte seiner Dienstwohnung für uns bestimmt, zwölf Zimmer; fiskalische Möbel, desgleichen Heizung und Beleuchtung; damit kann man schon leben . . .«
»Ja, das kann man! Und ob! Du bist ein famoser Kerl, Sudbinski!« fügte Oblomow nicht ohne Neid hinzu.
»Ich lade dich zu meiner Hochzeit als meinen Marschall ein, Ilja Iljitsch; vergiß es nicht . . .«
»Wie werde ich; ich werde bestimmt kommen!« sagte Oblomow. »Nun, aber was machen Kusnezow, Wasiljew und Machow?«
»Kusnezow ist schon lange verheiratet; Machow ist in meine frühere Stelle eingerückt, und Wasiljew ist nach Polen versetzt worden. Iwan Petrowitsch hat den Wladimirorden erhalten, und Oleschkin ist Exzellenz geworden.«
»Er ist ein guter Kerl!« sagte Oblomow.
»Das ist er, das ist er; er verdient es.«
»Ein sehr guter Mensch, mit einem weichen, ruhigen Charakter«, sagte Oblomow.
»Und so gefällig«, fügte Sudbinski hinzu. »Und weißt du, es liegt ihm fern, sich durch Kriecherei heraufzuarbeiten, einem andern zu schaden, ihm ein Bein zu stellen, ihm den Rang abzulaufen . . . was er nur kann, tut er einem zuliebe.«
»Ein vortrefflicher Mensch! Hatte man manchmal in einem Schriftstück Konfusion gemacht, etwas übersehen, in einem Berichte eine falsche Meinung vertreten oder ein unrichtiges Gesetz herangezogen, so machte das nichts aus: er ließ es einfach von einem andern in Ordnung bringen. Ein vortrefflicher Mensch!« schloß Oblomow.
»Unser Semjon Semjonowitsch dagegen ist unverbesserlich«, sagte Sudbinski; »der versteht weiter nichts, als den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Hör' nur, was er neulich getan hat: aus den Gouvernements war eine Eingabe eingegangen, es möchten bei den zu unserem Ressort gehörigen Gebäuden Hundehütten gebaut werden zum Schutze des fiskalischen Eigentums gegen Diebstahl; unser Architekt, ein tüchtiger, kenntnisreicher, ehrenhafter Mensch, stellt einen sehr maßvollen Kostenanschlag auf; unserm Semjon Semjonowitsch erscheint der Kostenanschlag auf einmal zu hoch; flugs stellt er Erhebungen darüber an, was die Erbauung einer Hundehütte kosten könne. Er bekommt dreißig Kopeken weniger heraus und reicht sofort ein Memorandum ein . . .«
Die Klingel ertönte von neuem.
»Adieu«, sagte der Beamte. »Ich bin zu sehr ins Plaudern gekommen; man wird mich dort schon nötig haben . . .«
Oblomow suchte ihn zurückzuhalten. »Bleib' doch noch ein Weilchen sitzen«, sagte er. »Ich möchte die Gelegenheit benutzen, um dich um Rat zu fragen: ich habe in zwiefacher Hinsicht Unglück . . .«
»Nein, nein, ich will lieber in den nächsten Tagen wieder herankommen«, erwiderte er und ging fort.
»Er ist im Morast versunken, der liebe Freund, bis über die Ohren im Morast versunken«, dachte Oblomow, während er ihm nachsah. »Für alles Übrige in der Welt ist er blind und taub und stumm. Aber er wird sich in die Höhe arbeiten, mit der Zeit in seinem Ressort eine einflußreiche Persönlichkeit werden, zu Ehren und Würden gelangen . . . Das nennt man bei uns Karriere! Und wie wenig von dem gesamten Menschen ist dazu nötig? Wozu braucht man dabei Verstand, Willen und Gefühl? Das ist Luxus! Er wird sein Leben hinbringen, und vieles, vieles wird in ihm gar nicht rege geworden sein . . . Und dabei arbeitet er von zwölf bis fünf in der Kanzlei und von acht bis zwölf zu Hause – der Unglückliche!«
Er empfand ein Gefühl friedlicher Freude bei dem Gedanken, daß er die Zeit von neun bis drei und von acht bis neun bei sich auf dem Sofa zubringen könne, und war stolz darauf, daß er nicht mit Berichten zu einem Vorgesetzten zu gehen und keine Akten zu schreiben brauchte, sondern seinen Gefühlen und seiner Phantasie freien Lauf lassen konnte.
So philosophierte Oblomow und bemerkte gar nicht, daß neben seinem Bette ein sehr magerer schwarzhaariger Herr stand, dessen Gesicht von einem Backenbarte, einem Schnurrbarte und einer Fliege vollständig zugewachsen war. Er war mit beabsichtigter Nachlässigkeit gekleidet.
»Guten Tag, Ilja Iljitsch.«
»Guten Tag, Penkin; kommen Sie nicht so nah heran, nicht so nah heran; Sie kommen aus der Kälte!« sagte Oblomow.
»Ach, Sie wunderlicher Kauz!« erwiderte dieser. »Immer noch derselbe unverbesserliche sorglose Faulenzer!«
»Jawohl, sorglos!« versetzte Oblomow. »Ich werde Ihnen gleich einen Brief meines Dorfschulzen zeigen; ich zerbreche mir hier unaufhörlich den Kopf, und Sie sagen: ›sorglos‹! Wo kommen Sie denn her?«
»Aus der Buchhandlung. Ich war hingegangen, um mich zu erkundigen, ob die Zeitschriften noch nicht erschienen seien. Haben Sie meinen Artikel gelesen?«
»Nein.«
»Ich werde ihn Ihnen zuschicken; lesen Sie ihn mal!«
»Worüber handelt er denn?« fragte Oblomow und gähnte dabei gewaltig.
»Über den Handel, über die Frauenemanzipation, über die schönen Apriltage, die uns beschieden waren, und über eine neuerfundene Mischung zur Unterdrückung von Feuersbrünsten. Wie kommt es nur, daß Sie gar nichts lesen? Darin besteht ja Tag für Tag unser Leben. Am meisten aber trete ich für die reale Richtung in der Literatur ein.«
»Haben Sie viel zu tun?«
»O ja, ziemlich viel. Ich schreibe wöchentlich zwei Artikel für eine Zeitung, ferner Rezensionen belletristischer Erscheinungen, und hier, sehen Sie, habe ich eine Erzählung verfaßt.«
»Worüber?«
»Darüber, wie in einer Stadt der Polizeimeister die Kleinbürger in die Fresse schlägt . . .«
»Ja, das ist wirklich eine realistische Richtung«, sagte Oblomow.
»Nicht wahr?« stimmte ihm der erfreute Schriftsteller bei. »Ich führe da einen bestimmten Gedanken aus und weiß, daß er neu und kühn ist. Ein Durchreisender wird Zeuge einer solchen Mißhandlung und führt, als er später mit dem Gouverneur zusammenkommt, bei diesem Klage darüber. Dieser befiehlt einem Beamten, der zum Zwecke irgendwelcher Untersuchungen dorthin reist, bei der Gelegenheit auch festzustellen, was daran Wahres sei, und überhaupt Nachrichtenmaterial über die Persönlichkeit und das Benehmen des Polizeimeisters zu sammeln. Der Beamte ruft die Kleinbürger zusammen, als ob er sie über die Handelsverhältnisse des Ortes befragen wollte, erkundigt sich aber dabei auch nach diesem Punkte. Und was tun die Kleinbürger? Sie verbeugen sich lachend und erheben den Polizeimeister mit Lobsprüchen in den Himmel. Der Beamte stellt an anderer Stelle Nachforschungen an, und da wird ihm gesagt, diese Kleinbürger seien schändliche Gauner, sie handelten mit Schundware, betrögen mit falschem Gewichte und Maße, sogar den Staat, und seien sämtlich eine unmoralische Bande, so daß diese Schläge für sie eine gerechte Strafe seien . . .
»Also haben die Schläge, die ihnen der Polizeimeister verabfolgt, in der Novelle ungefähr dieselbe Bedeutung wie das Fatum in der antiken Tragödie?« sagte Oblomow.
»Ganz richtig«, fiel Penkin ein. »Sie besitzen ein sehr feines Verständnis, Ilja Iljitsch; Sie sollten selbst etwas schreiben! Dabei aber ist es mir gelungen, sowohl das eigenmächtige Verfahren des Polizeimeisters als auch die Sittenverderbnis des niederen Volkes als auch die schlechte Organisation der Tätigkeit der untergeordneten Beamten aufzudecken und die Notwendigkeit strenger, aber gesetzlicher Maßregeln nachzuweisen . . . Nicht wahr, dieser Gedanke ist ziemlich neu?«
»Ja, besonders für mich«, erwiderte Oblomow; »ich lese so wenig . . .«
»Man sieht in der Tat keine Bücher bei Ihnen!« sagte Penkin. »Aber ich bitte Sie inständig, lesen Sie ein Werk, das demnächst erscheinen wird; man kann wohl sagen, es ist eine großartige Dichtung; ›Die Liebe eines bestechlichen Beamten zu einem gefallenen Weibe‹. Ich darf Ihnen nicht sagen, wer der Verfasser ist; das ist noch Geheimnis.«
»Was steht denn darin?«
»Es wird darin der ganze Mechanismus unserer sozialen Bewegung bloßgelegt, und alles in poetischen Farben. Alle Triebfedern des Handelns werden aufgewiesen, die gesellschaftliche Stufenleiter von unten bis oben kritisch beleuchtet. Allerlei Leute werden von dem Verfasser gleichsam vor Gericht gerufen: der schwache, aber lasterhafte Würdenträger und der ganze Schwarm der ihn betrügenden bestechlichen Beamten und alle möglichen Kategorien gefallener Frauen, Französinnen, Deutsche und Finninnen, und das stellt er uns alles mit einer geradezu erschreckenden, lebensvollen Naturtreue vor Augen . . . Ich habe nur einzelne Abschnitte daraus gehört – der Verfasser ist großartig! Man hört bei ihm bald Dante, bald Shakespeare . . .«
»Das ist aber viel gesagt!« rief Oblomow erstaunt und richtete sich halb auf.
Penkin verstummte plötzlich, da er sah, daß er tatsächlich im Lobe zu weit gegangen sei.
»Lesen Sie es nur, dann werden Sie ja selbst sehen«, fügte er, jetzt ohne die frühere Hitze, hinzu.
»Nein, Penkin, ich werde es nicht lesen.«
»Warum denn nicht? Das Werk macht Aufsehen; die Leute reden davon . . .«
»Mögen sie davon reden! Manche Leute haben weiter nichts zu tun als bloß zu reden. Das ist ihr Beruf.«
»Lesen Sie es doch wenigstens aus Neugierde.«
»Was werde ich denn Neues darin finden?« erwiderte Oblomow. »Warum schreiben denn die Verfasser so etwas? Doch nur zu ihrem eigenen Vergnügen . . .«
»Wieso zu ihrem eigenen Vergnügen? Wie wahr und naturgetreu ist das alles! Zum Lachen ähnlich. Porträts, die geradezu zu leben scheinen. Nehmen Sie, wen Sie wollen, einen Kaufmann, einen Beamten, einen Offizier, einen Polizeidiener – es ist wie eine lebende Kopie.«
»Warum mühen sich denn diese Autoren ab: doch wohl zum Vergnügen, damit jeder, den man herausgreift, naturgetreu geschildert erscheint? Aber Leben, Leben ist nicht darin, kein Verständnis für das Leben, kein Mitgefühl; es fehlt das, was bei euch Humanität genannt wird. Was da vorliegt, ist weiter nichts als Eigenliebe. Sie stellen die Diebe und die gefallenen Frauen dar, als ob sie sie auf der Straße aufgriffen und ins Gefängnis abführten. In ihrer Erzählung merkt man nicht die ›verborgenen Tränen‹, sondern nur ein offenes rohes Gelächter, einen heftigen Zorn . . .«
»Aber was wollen Sie denn noch weiter? Eben das ist ja gerade schön, Sie haben es selbst ausgesprochen: dieser aufbrausende Zorn, diese erbitterte Verfolgung des Lasters, dieses Lachen der Verachtung über den Gefallenen . . . das ist ja alles, was man nur wünschen kann!«
»Nein, das ist nicht alles!« sagte Oblomow, der plötzlich hitzig wurde. »Man schildere einen Dieb, ein gefallenes Weib, einen aufgeblasenen Dummkopf; aber man vergesse dabei auch nicht den Menschen. Aber wo bleibt bei euch die Menschlichkeit? Ihr wollt nur mit dem Kopfe schreiben!« (Seine Stimme klang beinah zischend.) »Ihr meint, zum Denken habe man das Herz nicht nötig? Nein, das Denken wird durch die Liebe befruchtet. Reicht dem Gefallenen die Hand, um ihn aufzuheben, oder weint bitterlich um ihn, wenn er zugrunde geht; aber verspottet ihn nicht! Liebt ihn; erinnert euch bei ihm an euch selbst und behandelt ihn, wie ihr euch selbst behandelt: dann werde ich anfangen euch zu lesen und werde mein Haupt vor euch neigen«, sagte er und legte sich wieder ruhig auf das Bett. »Aber da schildern sie einen Dieb, ein gefallenes Weib«, fuhr er fort; »aber den Menschen zu schildern, das vergessen sie, oder das verstehen sie nicht. Was soll da das Gerede von Kunst und poetischen Farben? Bekämpft das Laster und den Schmutz, aber, bitte, ohne Anspruch auf Poesie!«
»Wünschen Sie also, daß die Schriftsteller die Natur schildern, Rosen, Nachtigallen oder einen frostigen Morgen, während doch alles um uns herum braust und kreist? Was wir brauchen, ist eine nackte Physiologie der menschlichen Gesellschaft; nach Lyrik ist uns jetzt nicht zumute . . .«
»Gebt mir den Menschen, den Menschen!« sagte Oblomow. »Liebt ihn . . .«
»Einen Wucherer, einen scheinheiligen Frömmler, einen diebischen oder stumpfsinnigen Beamten lieben – hören Sie mal! Was reden Sie da? Man sieht, daß Sie sich nicht mit der Literatur beschäftigen!« sagte Penkin, der nun hitzig wurde. »Nein, man muß sie bestrafen, sie aus der bürgerlichen Gemeinschaft, aus der Gesellschaft ausstoßen . . .«
»Sie aus der bürgerlichen Gemeinschaft ausstoßen!« begann Oblomow plötzlich in Begeisterung, stand auf und stellte sich vor Penkin hin. »Das heißt vergessen, daß in diesem schlechten Gefäße ein höheres Element vorhanden gewesen ist; daß ein solcher Mensch zwar ein verdorbener Mensch, aber doch immer noch ein Mensch ist, das heißt dasselbe wie ihr. Ausstoßen! Aber wie wollt ihr ihn ausstoßen aus dem Kreise der Menschheit, aus dem Schoße der Natur, aus der Barmherzigkeit Gottes?« rief er, fast schreiend, mit flammenden Augen.
»Da gehen Sie aber doch zu weit!« sagte Penkin, nun seinerseits erstaunt.
Oblomow sah ein, daß auch er zu weit gegangen war. Er verstummte plötzlich, blieb noch einen Augenblick stehen, gähnte und legte sich dann langsam auf das Bett.
»Was lesen Sie denn eigentlich?« fragte Penkin.
»Ich? . . . Meist Reisebeschreibungen.«
Wieder Stillschweigen.
»Werden Sie also die Dichtung lesen, wenn sie herauskommt? Ich würde sie Ihnen bringen«, sagte Penkin.
Oblomow machte eine verneinende Kopfbewegung.
»Na, dann werde ich Ihnen meine Erzählung schicken?«
Oblomow nickte zum Zeichen der Zustimmung.
»Aber jetzt muß ich zur Druckerei!« sagte Penkin. »Wissen Sie, warum ich zu Ihnen gekommen bin? Ich wollte Ihnen vorschlagen, mit nach Jekateringof zu fahren; ich habe einen Wagen. Ich muß morgen einen Artikel über den Korso schreiben: da könnten wir zusammen unsere Beobachtungen anstellen; was mir entginge, würden Sie mir mitteilen; die ganze Sache würde vergnüglicher sein. Kommen Sie doch mit . . .«
»Nein, ich bin nicht wohl«, erwiderte Oblomow, die Stirn runzelnd und sich in die Bettdecke wickelnd; »ich fürchte mich vor der Nässe, es ist noch nicht aufgetrocknet. Aber kommen Sie doch heute zum Mittagessen zu mir; wir könnten ein bißchen miteinander reden . . . Ich habe in zwiefacher Hinsicht Unglück . . .«
»Nein, unsere ganze Redaktion speist heute im Restaurant von Saint-Georges, und von da fahren wir zum Korso. Die Nacht über muß ich aber schreiben und bei Tagesanbruch das Manuskript in die Druckerei schicken. Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen, Penkin!«
»In der Nacht schreiben«, dachte Oblomow. »Wann schläft er denn? Aber er verdient sich gewiß so ein fünftausend Rubel jährlich. Davon läßt sich leben! Aber immerzu schreiben, sein Denken und seine Seele auf Kleinigkeiten zu vertändeln, seine Anschauungen fortwährend zu wechseln, mit seinem Verstande und seiner Phantasie Handel zu treiben, seine Natur zu vergewaltigen, sich aufzuregen, immer Feuer und Flamme zu sein, keine Ruhe zu kennen und es immer irgendwo eilig zu haben . . . Und immer zu schreiben, immer zu schreiben, wie ein Rad, wie eine Maschine: er muß morgen schreiben, er muß übermorgen schreiben; und wenn ein Festtag kommt und es Sommer wird, er muß immerzu schreiben. Wann kann er pausieren und sich erholen? Der Unglückliche!«
Er drehte den Kopf zum Tische hin, wo die Tinte eingetrocknet und kein Schreibpapier und keine Feder zu sehen war, und freute sich, daß er sorglos wie ein neugeborenes Kind dalag, keine aufreibende Tätigkeit hatte und nicht für Geld arbeitete . . .
»Aber der Brief des Dorfschulzen, und die Wohnung?« ging es ihm plötzlich durch den Kopf, und er wurde nachdenklich.
Aber da wurde schon wieder geklingelt.
»Na, das ist ja heute bei mir wie auf einem Taubenschlage!« sagte Oblomow und wartete, wer da hereinkommen würde. Der Eintretende war ein Mann von unbestimmtem Alter und mit einer unbestimmten Physiognomie; er befand sich in einem solchen Lebensstadium, wo es schwer ist, die Zahl der Jahre zu erraten; er war weder schön noch häßlich, weder groß noch klein von Wuchs, weder blond noch brünett. Die Natur hatte ihm keinen entschiedenen, bemerkenswerten Zug verliehen, weder nach der guten noch nach der schlechten Seite hin. Viele nannten ihn Iwan Iwanowitsch. andere Iwan Wasiljewitsch, wieder andere Iwan Michailowitsch.
Auch sein Familienname wurde verschieden angegeben: die einen sagten, er heiße Iwanow, andere nannten ihn Wasiljew oder Andrejew, wieder andere meinten, sein Name sei Alexejew. Ein Fremder, der ihn zum erstenmal sah und seinen Namen hörte, pflegte seinen Namen und sein Gesicht sofort wieder zu vergessen und sich nicht zu merken, was er sagte. Seine Anwesenheit war für eine Gesellschaft kein Gewinn, ebenso wie seine Abwesenheit keinen Verlust darstellte. Wie sein Körper keine besonderen Merkmale aufwies, so mangelte es auch seinem Geiste an Scharfsinn, Originalität und anderen Besonderheiten.
Vielleicht hätte er wenigstens verstanden, Gesehenes und Gehörtes zu erzählen und wenigstens dadurch andere Leute zu unterhalten; aber er war nirgends gewesen: seit er in Petersburg das Licht der Welt erblickt hatte, war er nach keinem andern Orte hingekommen; mithin hatte er nur das gesehen und gehört, was auch die andern kannten.
Ist ein solcher Mensch sympathisch? Liebt er, haßt er, leidet er? Man sollte meinen, auch er müsse lieben und hassen und leiden, da ja niemand davon befreit ist. Aber er bringt es Gott weiß wie fertig, alle zu lieben. Es gibt Menschen, bei denen man mit aller Mühe keine Feindschaft, keine Rachsucht usw. erwecken kann. Man mag sie behandeln, wie man will, sie bleiben immer freundlich. Übrigens muß man ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß auch ihre Liebe, wenn man sie in Grade einteilt, nie bis zu wirklicher Wärme steigt. Obgleich man von solchen Menschen sagt, sie empfänden Liebe gegen alle und hätten deshalb einen guten Charakter, so lieben sie doch in Wirklichkeit niemanden und haben nur insofern einen guten Charakter, als sie keinen schlechten haben.
Wenn andere in Gegenwart eines solchen Menschen einem Bettler ein Almosen geben, so wirft auch er ihm seinen Groschen hin; wenn sie aber den Bettler schimpfen oder wegjagen oder verspotten, so schimpft und verspottet auch er ihn mit den andern. Reich kann man ihn nicht nennen, weil er nicht reich, sondern eher arm ist; aber auch als geradezu arm kann man ihn nicht bezeichnen, indes nur deshalb, weil es viele Menschen gibt, die ärmer sind als er.
Er hat von seinem eigenen Vermögen eine Einnahme von etwa dreihundert Rubeln jährlich; außerdem bekleidet er irgendein unbedeutendes Amt und erhält ein unbedeutendes Gehalt. Not leidet er nicht und borgt sich von niemandem Geld; sich aber von ihm Geld zu borgen, dieser Gedanke kommt erst recht niemandem in den Sinn.
In seinem Amte hat er keine spezielle ständige Beschäftigung, weil seine Kollegen und seine Vorgesetzten schlechterdings nicht haben herausbekommen können, was er schlechter und was er besser macht, so daß man sagen könnte, wozu er eigentlich befähigt ist. Wenn man ihm das eine oder das andere zu arbeiten gibt, so macht er es so, daß der Vorgesetzte immer in Verlegenheit ist, wie er über seine Arbeit urteilen soll; er sieht sie längere Zeit an und liest darin und sagt endlich nur: »Lassen Sie sie hier; ich will sie nachher genauer ansehen . . . ja, sie ist beinah so, wie sie sein muß.«
Niemals nimmt man auf seinem Gesichte eine Spur einer Sorge oder einer Träumerei wahr, was ein Anzeichen davon wäre, daß er in diesem Augenblicke mit sich selbst spräche; ebensowenig bemerkt man jemals, daß er irgendeinen äußeren Gegenstand forschend ansähe, den er seinem Wissen einzuverleiben vorhätte.
Es begegnet ihm auf der Straße ein Bekannter und fragt ihn: »Nun, wohin?« – »Ich gehe aufs Büro«, antwortet er oder: »Ich gehe in einen Laden« oder: »Ich will mich nach etwas erkundigen.« – »Kommen Sie doch lieber mit mir mit«, sagt jener, »auf die Post, oder wir wollen zum Schneider herangehen oder einen Spaziergang machen.« Dann geht er mit ihm mit, geht auch zum Schneider mit heran und auf die Post und spazieren, wenn auch die Richtung die entgegengesetzte von derjenigen ist, nach der er selbst gehen wollte. Außer seiner Mutter hat kaum jemand sein Erscheinen auf der Welt bemerkt; sehr wenige bemerken ihn im Laufe seines Lebens; aber gewiß wird niemand sein Verschwinden aus der Welt bemerken; niemand wird nach ihm fragen, niemand ihn bedauern, aber auch niemand sich über seinen Tod freuen. Er hat keine Feinde und keine Freunde, aber eine Menge von Bekannten. Vielleicht wird sein Leichenzug die Aufmerksamkeit eines Passanten auf sich ziehen, der dieser farblosen Persönlichkeit eine ihr zum ersten Male zuteil werdende Ehre erweist, indem er ihr eine tiefe Verbeugung macht; vielleicht wird sogar ein andrer aus Neugier an die Spitze des Leichenzuges laufen, um den Namen des Verstorbenen zu erfahren, ihn aber sofort wieder vergessen.
Dieser Alexejew, Wasiljew, Andrejew, oder wie man ihn sonst nennen will, ist eine Art von unvollständiger, unpersönlicher, andeutungsweiser Kopie der großen Masse, ein dumpfer Widerhall von ihr, ihr undeutlicher Abglanz.
Sogar Sachar, der in offenherzigen Gesprächen bei Zusammenkünften am Haustor oder im Kaufladen alle, die seinen Herrn besuchten, in mannigfaltiger Weise zu charakterisieren pflegte, wurde jedesmal verlegen, wenn dieser, sagen wir, Alexejew an die Reihe kam. Er dachte lange nach, suchte lange in dem Äußern, in dem Benehmen und in dem Charakter dieser Persönlichkeit nach einem hervorstechenden Zuge, an dem die Kritik ansetzen könnte; aber zuletzt machte er eine resignierte Handbewegung und drückte sich so aus: »Der, der ist weder Fisch noch Fleisch noch sonst was.«
»Ah!« sagte Oblomow, als er ihn erblickte. »Sie sind es, Alexejew? Guten Tag. Wo kommen Sie her? Kommen Sie nicht so nahe heran, kommen Sie nicht so nahe heran; ich werde Ihnen nicht die Hand geben: Sie kommen aus der Kälte!«
»Aber was reden Sie? Es ist ja gar nicht kalt! Ich hatte eigentlich gar nicht vor, heute zu Ihnen zu kommen«, sagte Alexejew; »aber Owtschinin begegnete mir und nahm mich mit zu sich nach Hause. Nun komme ich, um Sie abzuholen, Ilja Iljitsch.«
»Wohin denn?«
»Nun, zu Owtschinin, kommen Sie nur mit. Da sind Matwjei Andrejewitsch Aljanow, Kasimir Albertowitsch Pchailo und Wasili Sewastjanowitsch Kolymjagin.«
»Wozu haben sie sich denn da versammelt, und wozu brauchen sie mich dabei?«
»Owtschinin ladet Sie zum Mittagessen ein.«
»Hm! Zum Mittagessen . . .« wiederholte Oblomow eintönig.
»Und dann wollen wir alle nach Jekateringof fahren; er läßt Ihnen sagen, Sie möchten einen Wagen nehmen.«
»Aber was sollen wir denn da anfangen?«
»Welche Frage! Heute ist doch da Korso. Wissen Sie denn nicht, daß heute der erste Mai ist?«
»Setzen Sie sich doch; wir wollen die Sache überlegen . . .« sagte Oblomow.
»Stehen Sie doch auf; es ist Zeit, daß Sie sich ankleiden.«
»Warten Sie doch ein bißchen; es ist ja noch früh.«
»Früh? Bewahre! Er bittet Sie, um zwölf Uhr hinzukommen; wir wollen es so einrichten, daß wir mit dem Mittagessen möglichst früh fertig sind, so gegen zwei Uhr; und dann zum Korso. Kommen Sie schnell! Soll ich Ihrem Diener sagen, daß er Ihnen beim Anziehen behilflich sein möge?«
»Wie kann ich mich denn anziehen? Ich habe mich noch nicht gewaschen.«
»Nun, so waschen Sie sich!«
Alexejew begann im Zimmer auf und ab zu gehen; dann blieb er vor einem Bilde stehen, das er früher schon tausendmal gesehen hatte, warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, nahm irgendeinen Gegenstand von einer Etagere herunter, drehte ihn in den Händen herum, betrachtete ihn von allen Seiten und stellte ihn wieder hin; dann setzte er seinen Spaziergang im Zimmer pfeifend fort – alles, um Oblomow nicht beim Aufstehen und Waschen zu stören. So vergingen etwa zehn Minuten.
»Aber was ist denn mit Ihnen?« fragte er Ilja Iljitsch plötzlich.
»Wieso?«
»Sie liegen ja immer noch?«
»Muß ich denn aufstehen?«
»Gewiß! Wir werden erwartet. Sie wollten doch mitkommen.«
»Wohin denn? Ich wollte nirgendhin mitkommen.«
»Aber, Ilja Iljitsch, wir haben doch diesen Augenblick davon gesprochen, daß wir zum Mittagessen zu Owtschinin gehen und dann nach Jekateringof fahren wollten . . .«
»Wie werde ich denn in dieser Nässe ausfahren! Und was werde ich dort Neues zu sehen bekommen? Es scheint regnen zu wollen; der Himmel ist so trübe«, sagte Oblomow träge.
»Es ist kein Wölkchen am Himmel; Ihre Befürchtung, es könne regnen, ist die reine Einbildung. Trübe ist es deswegen, weil bei Ihnen die Fenster seit wer weiß wie langer Zeit nicht geputzt sind. Was sitzt da für ein Schmutz darauf! Man kann ja gar nicht hindurchsehen, und das eine Rouleau ist auch fast ganz heruntergelassen.«
»Ja, sagen Sie davon mal ein Wort zu Sachar; dann schlägt er sogleich vor, es sollten Reinemachefrauen angenommen werden, und jagt mich für einen ganzen Tag aus dem Hause!«
Oblomow überließ sich seinen Gedanken; Alexejew aber trommelte mit den Fingern auf dem Tische, an dem er saß, und ließ seine Augen zerstreut an den Wänden und an der Decke umherlaufen.
»Also was wird nun aus uns? Was tun wir? Werden Sie sich anziehen oder so bleiben?« fragte er nach ein paar Minuten.
»Was ist denn los?«
»Wir wollten doch nach Jekateringof?«
»Bleiben Sie mir mit diesem Jekateringof vom Leibe!« versetzte Oblomow ärgerlich. »Können Sie denn nicht ruhig hier sitzenbleiben? Ist es etwa kalt im Zimmer, oder ist hier ein schlechter Geruch, daß Sie durchaus wegwollen?«
»Nein, ich fühle mich bei Ihnen immer wohl; ich bin völlig zufrieden«, antwortete Alexejew.
»Aber wenn Sie sich hier wohlfühlen, warum wollen Sie dann anderswohin? Bleiben Sie doch lieber den ganzen Tag über bei mir, essen Sie hier Mittagbrot, und bringen Sie dann in Gottesnamen den Abend dort zu! . . . Ja, das hatte ich ganz vergessen: ich kann ja gar nicht weg! Tarantjew kommt heute zum Mittagessen zu mir; heute ist Sonnabend.«
»Nun, wenn es so ist . . . ich fühle mich hier sehr wohl . . . wie Sie befehlen . . .« sagte Alexejew.
»Und von meinen materiellen Angelegenheiten habe ich Ihnen noch nichts gesagt?« fragte Oblomow lebhaft.
»Von was für materiellen Angelegenheiten? Daß ich nicht wüßte«, erwiderte Alexejew, ihn mit großen Augen ansehend.
»Warum ich so lange nicht aufstehe? Ich habe ja hier immerzu gelegen und darüber nachgedacht, wie ich aus dieser schwierigen Lage herauskommen könnte.«
»Was gibt es denn?« fragte Alexejew, der sich Mühe gab, ein erschrockenes Gesicht zu machen.
»Ich habe in zwiefacher Hinsicht Unglück! Ich weiß nicht, was ich anfangen soll.«
»Wieso denn?«
»Ich werde aus meiner Wohnung hinausgetrieben; stellen Sie sich das nur einmal vor: ich muß ausziehen. Dabei werden mir meine Sachen ruiniert, und was gibt es dabei für Unruhe und Arbeit! Es ist schauderhaft, daran auch nur zu denken! Acht Jahre lang habe ich ja in dieser Wohnung gewohnt. Der Hauswirt hat mir einen bösen Streich gespielt: ›Ziehen Sie aus‹, sagt er, ›ziehen Sie schleunigst aus!‹«
»Und noch dazu schleunigst! Er drängt ja sehr zur Eile; also werden Sie wohl nicht umhin können. Das ist eine sehr unangenehme Geschichte, das Umziehen; mit einem Umzuge ist immer viel Plackerei verbunden«, sagte Alexejew. »Es kommen Sachen abhanden oder werden zerbrochen. So etwas ist sehr verdrießlich! Und Sie haben eine so prächtige Wohnung . . . was bezahlen Sie denn dafür?«
»Wo werde ich eine andere derartige finden?« sagte Oblomow. »Und noch dazu in der Eile? Die Wohnung ist trocken und warm; im Hause geht es ruhig und ordentlich zu: nur ein einziges Mal bin ich bestohlen worden! Sehen Sie, die Zimmerdecke da sieht zwar defekt aus, der Putz ist ganz abgefallen; aber sie stürzt trotzdem nicht ein.«
»Nun sagen Sie um alles in der Welt!« sagte Alexejew, den Kopf hin und her wiegend.
»Wie läßt es sich nur einrichten, daß ich nicht auszuziehen brauche?« sagte Oblomow nachdenklich vor sich hin.
»Haben Sie die Wohnung auf Grund eines Kontraktes gemietet?« fragte Alexejew und musterte dabei mit den Augen das Zimmer von der Decke bis zum Fußboden.
»Ja; aber der im Kontrakt festgesetzte Termin ist schon überschritten; ich habe in der ganzen letzten Zeit monatweise bezahlt . . . ich erinnere mich nur nicht, seit wann.«
»Was beabsichtigen Sie denn nun?« fragte Alexejew nach einigem Stillschweigen. »Wollen Sie ausziehen oder hierbleiben?«
»Ich beabsichtige gar nichts«, erwiderte Oblomow; »ich mag überhaupt nicht daran denken. Mag Sachar etwas ausfindig machen!«
»Manche Leute lieben das Umziehen sogar«, sagte Alexejew, »und finden darin geradezu ein Vergnügen, als ob der Wohnungswechsel ein Genuß wäre . . .«
»Na, dann mögen diese ›manchen Leute‹ umziehen! Ich für meine Person bin ein Feind von Veränderungen. Und das ist noch das wenigste, die Geschichte mit der Wohnung«, fuhr Oblomow fort. »Aber sehen Sie mal, was mir mein Dorfschulze schreibt. Ich werde Ihnen den Brief gleich zeigen . . . wo ist er nur? Sachar, Sachar!«
»Ach, du Königin des Himmels!« rief Sachar in seinem Zimmer mit heiserer Stimme und sprang von der Ofenbank herab. »Wann wird mich Gott zu sich nehmen?«
Er kam herein und blickte seinen Herrn mit trüben Augen an.
»Warum hast du den Brief noch nicht gefunden?«
»Wie soll ich ihn denn finden? Weiß ich etwa, was für einen Brief Sie haben wollen? Ich kann nicht lesen.«
»Ganz egal, suche ihn!« sagte Oblomow.
»Sie selbst haben gestern Abend irgendeinen Brief gelesen«, erwiderte Sachar; »aber nachher habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Wo ist er denn nun?« versetzte Ilja Iljitsch ärgerlich. »Ich habe ihn doch nicht hinuntergeschluckt. Ich erinnere mich ganz genau, daß du ihn genommen und irgendwohin gelegt hast. Also sieh zu, wo er ist!«
Er schüttelte die Bettdecke: der Brief fiel aus den Falten derselben auf den Fußboden.
»Na, da haben wir es; so geben Sie mir immer die Schuld! . . .« – »Na, nun geh, geh!« schrien Oblomow und Sachar einander gleichzeitig an. Sachar ging hinaus; Oblomow aber begann den Brief vorzulesen, der mit braunem Siegellack gesiegelt und auf grauem Papier wie mit Kwaß geschrieben war. Die gewaltig großen Buchstaben zogen sich wie eine feierliche Prozession, ohne einander zu berühren, in steil abfallender Linie von der oberen Ecke zur unteren hin. Ihre Reihe wurde manchmal durch einen großen blassen Tintenklecks unterbrochen.
»Gnädiger Herr«, begann Oblomow, »Euer Wohlgeboren, unser Vater und Ernährer, Ilja Iljitsch . . .«
Hier ließ Oblomow mehrere Begrüßungsphrasen und Wünsche für sein Wohlergehen weg und fuhr aus der Mitte fort: »Ich melde Deiner herrschaftlichen Gnaden, daß auf Deinem Familiengute, Du unser Ernährer, alles in guter Ordnung ist. Seit fünf Wochen hat es nicht geregnet; wir müssen wohl den Herrgott erzürnt haben, daß er uns keinen Regen schickt. Auf eine solche Dürre können sich die ältesten Leute nicht besinnen: die Sommersaat ist wie ein Feuer verbrannt. Die Wintersaat haben an manchen Stellen die Würmer und an anderen die Frühfröste verdorben; wir haben versucht, sie zu Sommersaat umzupflügen, aber man kann nicht wissen, ob etwas Ordentliches wachsen wird. Vielleicht wird der barmherzige Gott mit Deiner herrschaftlichen Gnaden Erbarmen haben; um uns sorgen wir nicht: mögen wir immerhin verrecken. Zu Johannis sind noch drei Bauern davongegangen: Laptew, Balotschow, und für sich allein ist Waska, der Sohn des Schmiedes, davongegangen. Ich habe die Weiber weggejagt, damit sie ihre Männer zurückholen möchten; aber die Weiber sind nicht wiedergekommen, sondern leben, wie es verlautet, in Tschelki. Mein Gevatter aus Werchlowo fuhr nach Tschelki; der Verwalter hatte ihn dorthin geschickt; es hieß, es sei dort ein überseeischer Pflug angekommen, und der Verwalter hatte meinen Gevatter nach Tschelki geschickt, um sich den Pflug anzusehen. Da trug ich meinem Gevatter auf, sich nach den entlaufenen Bauern umzusehen. Dann wandte ich mich in aller Demut an den Bezirkshauptmann; der sagte zu mir: ›Reiche ein Gesuch ein; dann wird jedes Mittel zur Anwendung gebracht werden, um die Bauern nach dem Orte ihrer Ansässigkeit zurückzuschaffen‹, und weiter sagte er nichts. Ich fiel ihm zu Füßen und flehte ihn unter Tränen an; aber er schrie aus voller Kehle: ›Mach, daß du fortkommst! Ich habe dir gesagt, daß alles getan werden wird; reiche nur ein Gesuch ein!‹ Aber ein Gesuch habe ich nicht eingereicht. Es ist niemand hier, den man zur Arbeit annehmen könnte: alle sind sie nach der Wolga gegangen, zur Arbeit auf den Schiffen, – so dumm ist heutzutage hier das Volk geworden, Du unser Ernährer, Väterchen Ilja IIjitsch! Leinewand wird in diesem Jahre von uns keine auf dem Jahrmarkte sein; ich habe den Trockenraum und die Bleichkammer zugeschlossen und Sytschug angestellt, um bei Tage und bei Nacht aufzupassen; er ist ein nüchterner Mensch, und damit er nichts von dem herrschaftlichen Eigentume entwendet, passe ich auf ihn Tag und Nacht auf. Die andern sind arge Trinker und bitten darum, auf Zins gesetzt zu werden. Von den Rückständen ist wenig eingegangen; in diesem Jahre werden wir Dir, Du unser Väterchen und Wohltäter, wohl ungefähr zweitausend Rubel weniger schicken als im vorigen Jahr, vorausgesetzt, daß uns die Dürre nicht ganz und gar zugrunde richtet; sonst werden wir es Dir schicken, wovon wir Deine Gnaden benachrichtigen.«
Dann folgten Versicherungen der Ergebenheit und die Unterschrift: »Dein Dorfschulze und allerniedrigster Sklave Prokofi Wytjaguschkin hat dies eigenhändig unterschrieben.« Wegen Unkunde der Schrift war ein Kreuz hingezeichnet. »Geschrieben hat dies nach dem Diktate des Dorfschulzen sein Schwager Djomka, der Krumme.«
Oblomow blickte auf den Schluß des Briefes.
»Es steht kein Monat und kein Jahr da«, sagte er; »wahrscheinlich hat der Brief bei dem Dorfschulzen seit dem vorigen Jahre herumgelegen; darum redet er auch von Johannis und von der Dürre! Nun endlich ist es ihm eingefallen, ihn abzusenden!«
Er versank in Nachdenken.
»Nun?« fuhr er fort, »was meinen Sie dazu: er stellt mir ungefähr zweitausend Rubel weniger in Aussicht! Wieviel bleibt mir dann noch? Wieviel habe ich doch im vorigen Jahre bekommen?« fragte er, indem er Alexejew anblickte. »Habe ich es Ihnen damals nicht gesagt?«
Alexejew wandte die Augen zur Zimmerdecke und dachte nach.
»Ich muß Stolz danach fragen, wenn er kommt«, fuhr Oblomow fort; »ich glaube sieben- oder achttausend Rubel . . . es ist schlimm, wenn man sich so etwas nicht notiert! Also jetzt will er mich auf sechstausend setzen! Da kann ich ja Hungers sterben! Wovon soll ich da leben?«
»Warum regen Sie sich so auf, Ilja Iljitsch?« sagte Alexejew. »Man muß sich nie der Verzweiflung überlassen; es wird schon alles wieder gut werden.«
»Hören Sie wohl, was er schreibt? Statt mir Geld zu schicken, mich irgendwie zu trösten, bereitet er mir wie zum Hohn nur Unannehmlichkeiten! Und so macht er es jedes Jahr! Ich weiß jetzt gar nicht, wo mir der Kopf steht! Zweitausend Rubel weniger!«
»Ja, das ist ein großer Verlust«, sagte Alexejew; »zweitausend Rubel sind kein Spaß! Alexei Longinowitsch hat, wie es heißt, ebenfalls in diesem Jahre nur zwölftausend bekommen statt siebzehntausend.«
»Also doch zwölftausend und nicht sechstausend«, unterbrach ihn Oblomow. »Dieser Dorfschulze hat mich ganz aus der Fassung gebracht! Und selbst wenn es sich wirklich so mit der Mißernte und Dürre verhält, warum bereitet er mir diesen Schmerz im voraus?«
»Ja . . . das sollte er wirklich nicht tun«, begann Alexejew. »Aber was kann man von einem Bauern für Zartgefühl erwarten? Dieses Volk hat ja kein Verständnis.«
»Na, was würden Sie denn nun an meiner Stelle tun?« sagte Oblomow und blickte Alexejew fragend an, in der schwachen Hoffnung, daß dieser vielleicht etwas ersinnen werde, was zu seiner Beruhigung dienen könne.
»Das muß man sich überlegen, Ilja Iljitsch; so plötzlich kann man da keine Entscheidung treffen«, antwortete Alexejew.
»Soll ich vielleicht an den Gouverneur schreiben?« meinte Ilja Iljitsch zweifelnd.
»Wer ist denn bei Ihnen Gouverneur?« fragte Alexejew.
Ilja Iljitsch gab ihm keine Antwort und dachte nach. Alexejew verstummte und überlegte ebenfalls etwas.
Oblomow knitterte den Brief in den Händen zusammen, stützte den Kopf in die Hände, setzte die Ellbogen auf die Knie und saß so eine Zeitlang da, gequält von den auf ihn einstürmenden unruhigen Gedanken.
»Wenn wenigstens Stolz recht bald käme!« sagte er. »Er schreibt, er werde bald herkommen, und dabei treibt er sich weiß der Teufel wo umher! Der würde alles in Ordnung bringen.«
Er wurde wieder trübsinnig. Lange Zeit schwiegen beide. Oblomow war der erste, der sich endlich aufraffte.
»Das ist's, was man tun muß«, sagte er in entschiedenem Tone und wäre beinahe vom Bette aufgestanden, »und zwar so schnell wie möglich, ohne jede Zögerung . . . Erstens . . .«
In diesem Augenblicke ertönte ein höchst energisches Läuten im Vorzimmer, so daß Oblomow und Alexejew zusammenfuhren und Sachar schleunigst von der Ofenbank heruntersprang.