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»Mutter, was fandest du am allerschönsten, als du klein warst?«
»Theaterspielen.«
»Was ist das, Theater?«
»Das ist Kunst.«
»Ja, aber was ist denn Kunst – eigentlich?«
»Was Kunst ist – eigentlich? Ja, wer das sagen könnte, Küken. Doch das ist fast unmöglich – mit so ein paar Worten.«
Es ist natürlich das Küken, welches so fragt. Sie und Bubi fragen am meisten. Das Küken war gerade im Begriff, seine Schularbeiten nach dem Nachmittagskaffee zu machen, und meinte wohl, daß einige Aufklärungen über Kunst und über das, was Mutter am schönsten fand, als sie klein war (was unzweifelhaft keine Schularbeiten waren), recht angenehm sein könnten, um sie mit nach oben zu nehmen und dort in den Pausen zwischen jeder Schularbeit in behaglicher Ruhe darüber nachzudenken. In der Regel werden diese Pausen sonst mit kleinen Besuchen bei der Puppenmutter und Gerda im Spielzimmer auf dem Boden ausgefüllt. Dies Zimmer und die Puppen sind eine große Versuchung nachmittags während der Schularbeiten. Wie manches Mal klopft »Mölla« von ihrem Zimmer nebenan an die Wand und fragt, ob die kleinen Mädchen schon alle ihre Schularbeiten gemacht haben.
»Mölla« ist die Lehrerin, der die Puppenmutter diesen Namen gegeben hat. Aber »Mölla« bekommt nie Antwort auf solche Fragen; nur tiefes Schweigen, einige kleine, trippelnde Schritte über den Flur und eine Tür, die leise geschlossen wird, beweisen, daß die wissenschaftlichen Studien noch nicht völlig beendet sind, sondern bis auf weiteres fortgesetzt werden.
»Holt die Weisheitsquelle,« sagt Mutter plötzlich.
Die Weisheitsquelle ist ein dickes Buch, das ganz unten im Bücherschrank steht, und das alles zwischen Himmel und Erde wissen soll.
Wenn Mutter daher nicht alles ausdrücken kann, was sie weiß, so nimmt sie ihre Zuflucht zur Weisheitsquelle.
»Kunst ist Übung in einer Fähigkeit,« sagt die Weisheitsquelle.
»Das ist dummes Zeug,« sagt Mutter und wirft die Weisheitsquelle weg. »Da weiß ich es trotzdem viel besser, denn ich weiß das, wofür ich keine Worte finde, aber die Weisheitsquelle findet Worte für das, was sie nicht weiß – das ist eine dumme Weisheitsquelle.
»Kunst ist – nein, aber seht hinaus! Seht, wie wunderschön!«
Alle Kinder laufen zum Fenster, um die Beleuchtung zu sehen. Die Sonne ist im Begriff, unterzugehen, es flammt wie Feuer auf den höchsten Firnen, im Süden ist der Himmel wie ein einziges Feuermeer, unten in den Tälern ist es blau und schattenhaft, aber über dem See liegt der Sonnennebel wie ein feiner Schleier, und alles, was wir sehen, spiegelt sich ganz deutlich da unten ab, als wäre es ein einziges Wunderland – herrlich, herrlich ist es da draußen!
»Wenn du das da draußen malen könntest, so wie du es jetzt siehst, mein Kind, und wie du es liebst, dann würdest du ein Kunstwerk geschaffen haben. Etwas, das nach dir leben und mehr als alles andre in der Welt von dem Leben der Natur und deiner Liebe zu ihr reden würde. Denn das tut die Kunst. Kunst ist das, was besser als irgend etwas anderes uns das Leben des Menschen und der Natur und unsre Liebe zu beiden schildert. Das können Bücher tun – das können auch Gemälde und Statuen, sowie lebende Menschen, die selbst das lebendige Leben mit allen seinen Leiden und Freuden darstellen.
Dies nennt man Schauspielkunst.
Aber geht jetzt schnell hinauf und lernt, dann will ich euch nachher von Tora und Dina und Jöja und vom Theater und dem Schönsten, was ich kenne, erzählen.« – Und da geht's im Sprung die Treppe hinauf, und drei hellblonde Köpfe tauchen in der Bücherlade im Korridor unter, um Material zu gewaltigen Grammatik- und Rechenstudien und andern schrecklichen Dingen hervorzunehmen, die nur erfunden sind, um kleine Knaben und kleine Mädchen zu quälen.
* * *
Als Daniel Schiötz und Jonas Lie aus unserm Hause ausgezogen waren, kam der Vogt mit seiner Familie hinein.
Sie hatten drei reizende Mädchen, Tora, Dina und Jöja. Tora war eine meiner besten Freundinnen. Sie war groß und schmal und hatte braune Augen. Dina war kleiner, fein und blaß, mit großen, ernsten Madonnenaugen. Und Jöja war ein kleiner schelmischer Lockenkopf mit blauen Augen und Bäckchen wie ein Borsdorfer Apfel.
Die Mutter dieser kleinen Mädchen war Dänin. Sie war hoch und schlank und fein, kleidete sich sehr hübsch und schwebte beständig in einer Wolke von Spitzen. Oben in ihrer Wohnung war alles leicht und elegant. Sie war stets sehr freundlich gegen mich. Einmal stand ich draußen im Schnee mit bloßem Hals und kurzen Ärmeln, während der Schnee mir um die Ohren wirbelte. Da wurde das Fenster oben schnell geöffnet.
»Mein Gott, Kind, warum stehst du da, ohne etwas anzuhaben?«
»Ich will sehen, wie lange es dauert.«
»Was denn?«
»Bis ich steif gefroren bin.«
»Da hört sich aber alles auf, willst du wohl machen, daß du hereinkommst!«
Aber das wollte ich nicht. Es sah so reizend aus, wenn die großen Schneesterne heruntertanzten und auf meinen Armen, meinem Hals und meinem Kleide liegen blieben, und ich stand so lange da, bis ich schließlich ganz wie eine Schneefigur aussah und die alte Karen kam und mich hereinholte. Eine andere kleine Erinnerung taucht ebenfalls in mir auf, während ich euch dies erzähle.
Mutter war so außerordentlich bange, uns in ein Boot oder aufs Eis zu lassen, denn wir konnten ja ertrinken. Das Eis konnte an der einen oder andern Stelle unsicher sein, denn hier und da gab es warme Strömungen im Meere, sagte Mutter, und dort fror das Wasser also nicht zu. Ich glaube übrigens nicht, daß dies in der Naturgeschichte steht, aber das ist ja einerlei, es stand in Mutters – und damit Punktum. Aber auf Schneeschuhen durfte ich laufen, dabei ertrank ich nicht, und der ganze Hügel war wundervoll geeignet zum Herunterlaufen, meinte Mutter, da konnte mir nichts begegnen. Wenn ich aber den Hügel herunterlief, begegnete mir häufig genug etwas, was gerade nicht so wundervoll war – bald war es ein Pferd, bald etwas anderes, und dann, plumps, lag ich eins, zwei, drei auf der Nase. Ich hatte nie Lust, einer Schwierigkeit auszuweichen, sondern meinte, ich müßte sie um jeden Preis überwinden. Wenn es nun derartiges galt, war das gerade nicht so angenehm für mich, aber das nahm ich nicht so genau.
Einmal sollte Mutter herauskommen und sehen, wie schön ich den Hügel herabsausen konnte, aber ich stolperte fünfmal über einen Zigarrenstummel.
»Du kannst es ja nicht,« sagte Mutter und ging wieder herein.
Aber ich wollte es können, allen Zigarrenstummeln der Welt zum Trotz, und ich lief immer wieder über ihn hinweg, bis ich schließlich ganz sicher würde. Als ich nachsah, hatte ich den Zigarrenstummel ganz zerquetscht.
»Jetzt ging es, Mutter,« sagte ich strahlend, als ich hereinkam. »Ich bin so lange darübergelaufen, bis der Zigarrenstummel ganz zerdrückt war.«
»Du hättest ihm ja aus dem Wege gehen oder ihn zur Seite werfen können,« sagte Mutter. »Das wäre ja viel einfacher gewesen.«
Jawohl, – aber dann hätte er ja bis nächstesmal dagelegen, und ich wäre ihn nicht für immer los gewesen, aber jetzt hatte ich ihn ein für allemal aus der Welt geschafft.
Ja, an diesen Zigarrenstummel auf dem Hügel habe ich oft seitdem gedacht, wenn bisweilen ein Hindernis im Wege lag, wie es wohl ab und zu passieren kann. Es nützt nichts, es beiseite zu schieben oder ihm aus dem Wege zu gehen, nein, weit gefehlt, immer von neuem drauf los, und du wirst sehen, daß solch ein kleines, elendes Hindernis, welcher Art es auch sein möge, einem ordentlichen Willen nicht lange standhalten kann – aber ein fester Wille ist natürlich dazu nötig.
* * *
Einmal, als ich Tora besuchte, war ihre Mama krank. Alles war so hübsch im Schlafzimmer, sie selbst lag so fein mit Spitzen und Stickereien im Bett, und das helle, lockige Haar umgab sie wie ein Glorienschein; vor ihrem Bett hatte sie ein niedliches Tischchen mit einer Flasche Eau de Cologne, einem Blumenglase und andern kleinen Sachen. Ich meinte, es müßte reizend sein, krank zu liegen, wenn man es so herrlich mit Wohlgerüchen, Spitzentaschentüchern und allem, was luftig und fein war, um sich her haben könnte. Als ich abends nach Hause kam, wünschte ich nur, daß ich ein wenig krank werden möchte – nur so viel, daß Mutter Limonade und Zwieback anwenden könnte, um mich zu kurieren. Dann würde ich vielleicht auch ein kleines, niedliches Tischchen mit Blumen und andern Dingen vor das Bett bekommen. Aber leider wurde ich nicht krank.
Als ich mich abends zu Bett legte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ein kleines hübsches Arrangement zu treffen. Ich nahm ein niedliches Tischchen aus dem Salon, setzte es vor mein Bett und einige von Mutters feinsten kleinen Nippessachen und eine Flasche Eau de Cologne darauf – o, wie köstlich war das, im Bett zu liegen und das alles zu sehen.
Plötzlich hörte ich Mutters Stimme im Salon:
»Aber wo ist denn das Tischchen geblieben – und wer ist hier gewesen und hat auf der Etagere und der Kommode alles in Unordnung gebracht?«
Die Tür wurde geöffnet.
»Was in aller Welt – hast du das Tischchen und alle meine feinen Nippessachen vor deinem Bett? In meinem ganzen Leben habe ich kein Kind mit solchen Einfällen gesehen!«
Und schnell veränderte sich die Szene; das Tischchen kam wieder an seinen rechten Platz, die Nippessachen ebenso, und ich lag allein im Dunkeln und weinte in ein Stückchen alter Tüllgardine hinein, welches das Spitzentaschentuch vorstellen sollte.
* * *
Eines Tages geschah das Wunderbare!
Kristine, das Kindermädchen, die immer etwas höchst Merkwürdiges zu berichten hatte, kam herauf und sagte, jetzt hätte sie mir aber etwas Schönes zu erzählen; es wäre eine Theatertruppe nach dem Skullerudsaal gekommen, und die würde ein Stück spielen, das Saprise hieß, mit Gesang und Tanz und allem möglichen Pläsierlichen.
Theater? Ja – was war das denn eigentlich? So fragte ich auch einmal; aber obgleich ich gar nicht wußte, was das war, tat ich doch nichts anderes als Theater spielen, dichtete, sang und tanzte den ganzen Tag. Jetzt würde ich auch zu wissen bekommen, was es war, denn nun waren ja Leute gekommen, die richtig Theater spielen konnten. O, ich brannte vor Begierde, es zu sehen und zu erfahren, wie es wirklich zuging.
»Mutter, was ist eine Saprise?« fragte ich – »was sie spielen wollen.«
»Was eine Saprise ist?« Mutter mußte laut lachen. »Das ist genau so eine wie du,« sagte Mutter, »denn du steckst auch voller Launen und Einfälle vom Morgen bis zum Abend.«
So eine wie ich – nein – das begriff ich nicht.
»Aber wir werden doch hingehen und es sehen, Mutter.«
»Nein, gewiß nicht – du jedenfalls nicht – du hast schon genug Faxen im Kopf, und wenn du dahin kämst, würdest du noch närrischer werden, als du es jetzt schon bist, – daraus wird nichts, das merke dir!«
Ja, das merkte ich mir schon.
Vater und Mutter würden also nicht ins Theater gehen, und ich noch weniger – das war klar. Ich mußte mich deshalb damit begnügen, den Theatersaal von außen zu besehen und von allen Herrlichkeiten zu träumen, die darin waren. Nun war ich also dem Theater so nah und würde doch nichts davon sehen.
O, wie traurig die ganze Welt mit einem Male aussah! Nichts war lustig mehr, weder daß es Sonntag war, noch daß ich mein hübsches Schottisches anhatte.
Es wurde mir plötzlich klar, daß Theater jenes Entzückende in der Welt sein müßte, was ich stets so weit wegträumte; nun war es mir so nahe gerückt, beinahe Wand an Wand, und ich würde es doch nicht sehen dürfen.
Ich wollte nicht mehr spielen, ich wollte nicht mehr mit Emma hinkeln oder nach der Festung gehen, auch nicht zu Tante Marinette hinüber, die uns gegenüber wohnte, und die einen langen überbauten Gang hatte, in welchem in schmalen Kästen Kresse wuchs, deren gelbrote Blüten sich so reizend an der Wand emporrankten. Ich kehrte mich gar nicht daran, ob nachmittags Dessert drüben stand und auf mich wartete, ich wollte nie mehr Dessert essen, ich wollte mich tot trauern, weil Mutter sagte, ich wäre eine Saprise und dürfte nicht ins Theater gehen.
»Guten Tag!« sagte eine helle Stimme. Tora stand plötzlich in der Tür in einer weißen schönen Schürze und schwarzem Samtbande im Haar.
»Ich sollte fragen von Papa und Mama, ob Ågot heute mittag Fischklöße und Kurrysauce bei uns essen und heute abend mit uns ins Theater gehen dürfte.«
Niemals, weder früher noch später, hat ein kleines Mädchen in weißer Schürze und schwarzem Samtbande im Haar alle Leiden und Sorgen eines andern kleinen Mädchens ohne weiße Schürze und schwarzes Samtband schneller verjagt, als Tora damals, als sie kam und mich zu Fischklößen und zum Theater einlud! Fischklöße war ja das herrlichste, was ich kannte, und Theater das Herrlichste, was ich nicht kannte.
Jetzt wußte ich plötzlich weder aus noch ein vor Freude, die ganze Welt lachte mir entgegen. Ach, Fischklöße, ins Theater gehen und Kurrysauce! Ich konnte nichts sagen, alles ging mit mir rund, und ich schwebte wie in einer hellen Wolke von Glück zu Tora hinüber.
Ja, das wurde ein unvergeßlich herrlicher Tag, ich konnte kaum essen vor lauter Erwartung.
Toras Eltern waren natürlich mit im Theater. Als wir auf die Straße heraustraten, kamen viele Menschen über den Markt und den Hügel hinunter, alle steuerten dem Skullerudsaal zu. O, ich meinte, es läge etwas Feierliches und Geheimnisvolles über ihnen allen; auf der Treppe war es voll von Menschen. Ich ging so still und andächtig wie möglich – ganz vorne auf der ersten Bank sollten wir sitzen. Da waren so viele Lichter, eine ganze Reihe vor uns auf dem Fußboden, und Lampen rings an den Wänden. Ich fuhr ordentlich in die Höhe, als jemand in demselben Augenblick auf dem »Portepino«, wie die alte Karen zu sagen pflegte, zu spielen begann. Die Leute kamen und gingen suchend vor und zurück. Ich konnte nicht begreifen, daß sie so wenig andächtig waren, ich wußte die ganze Zeit nicht recht, ob ich es selbst war oder nicht und war nur bange, daß ich aus einem schönen Traum erwachen würde. O, daß ich nun wirklich im Theater war! Aber wo war das Theater eigentlich? O ja, dort hinter dem großen Vorhang, der über den halben Saal gezogen war, dort würde gespielt werden. Endlich hörte die Musik auf, die Tür wurde geschlossen und der Vorhang zur Seite gezogen.
Es sah durchaus nicht ungewöhnlich dahinter aus – ein Zimmer wie jedes andere mit einigen einfachen Stühlen. Aber dann kam ein kleiner, sehr dicker Mann herein und fing an zu singen. Er hieß Bjerkebaek. Ich verstand nicht viel davon, was es vorstellen sollte, aber singen konnte er – und prahlen auch – denn hier zu Hause war alles schöner als anderwärts – der Himmel, die Bauern und alles. Ich fand, er sah aus wie die meisten Bauern, die im Herbst zur Kirchweih kommen, nur daß diese nicht sangen, wenn sie prahlten – das taten sie in Prosa.
Dann kam eine Dame herein! Eine große, starke Dame mit schwarzem Haar, schwarzen Augen, noch schwärzeren Augenbrauen und einen großen, schwarzen Schleier um den Kopf.
Jetzt fing es wohl erst richtig an.
Von dem, was sie sagte, verstand ich nur wenig, denn sie sprach meist französisch, und dann machte sie so viele Zeichen und wunderliche Gesten. Es waren die merkwürdigsten Gebärden, die ich gesehen hatte, und dann verdrehte sie die Augen, legte die Hand aufs Herz und stampfte mit den Füßen auf; sie sah ganz verwirrt aus; aber Bjerkebaek war hingerissen, lachte und klatschte in die Hände, als wenn er verrückt gewesen wäre.
»Was bedeutet das?« flüsterte ich Tora zu.
Diese ließ meine Frage weiter gehen.
Nach einer Weile flüsterte sie zurück: »Das ist Mimik. Sie tut so, als ob sie verrückt wäre – aber sie ist Tänzerin.«
Gott wie wunderlich – Mimik und verrückt und Tänzerin – ja, das war doch ganz gewiß ein richtiges Theater.
Doch jetzt sollte sie Ballett tanzen, und gleich darauf kam sie als Ballettänzerin gekleidet herein. Ich hatte die ganze Zeit im stillen gedacht, daß sie eigentlich doch recht alt und dick aussähe, aber jetzt, als sie im Ballettkostüm hereinkam, vergaß ich alles. Das war entzückend! Etwas so Wunderschönes hatte ich nicht einmal im Traum gesehen.
Sie trug ein weißes Tarlatankleid, welches Hals und Arme freiließ und mit einer Menge großer roter Rosen besetzt war. Um den Hals und im Haar, das jetzt in langen schweren Locken herabfiel, hatte sie viele große Wachsperlen. Schrecklich schwarze Augenbrauen und schrecklich rote Backen und wenigstens fünfzig dünne Tarlatanunterröcke, die bis zum Kopf um sie herschwebten, wenn sie sich verneigte und auf einem Bein tanzte.
Und dann fing sie an zu tanzen! Der ganze Saal erschütterte, wenn sie sich herumschwang, und die Lampen klirrten; aber bald hörte ich nur die Kastagnetten, die im Takt mit der Musik erklangen. Das waren einige kleine Holzklemmer, die sie in den Händen verborgen hielt.
Aber über eins war ich doch mächtig erschrocken – sie hatte nackte, rote Beine; ich wagte kaum aufzusehen und fragte Tora flüsternd, ob sie keine Strümpfe und Hosen hätte; aber Tora flüsterte zurück, das müsse so sein, sie hätte hellroten Seidentrikot an. Ich atmete erleichtert auf und wagte umherzuschauen, und da niemand sich etwas merken ließ, so tat ich ebenso und sah jetzt nur den Tanz, hörte die Musik und die Kastagnetten, und man lachte und klatschte in die Hände und rief bravo, und Bjerkebaek war im siebenten Himmel. Zum Schluß tanzte er auch, und sie kam hereingetanzt und winkte und strahlte und blinkte wie ein großer Stern, der auf die Erde herabgefallen war und über uns allen im Skullerudsaal schwebte.
»Ågot, jetzt ist es zu Ende, jetzt müssen wir gehen!«
Alle gingen heraus, aber ich saß da wie gebannt, sah nichts und hörte nichts, bis ich schließlich von Tora mit herausgezogen wurde.
Musik, Tanz, Kastagnetten, Tarlatan, Rosen und Wachsperlen, alles war wie ein Chaos in mir, wirr durcheinander! Jetzt wußte ich also, was Theater war, und von dem Tage an wurde alles Theater für mich. Ich tanzte Ballett, und ich tanzte auf dem Seil. Mutter mußte mit all ihren alten Ballblumen herausrücken. Im Winter war das Theater in den kleinen Vorratskammern, im Sommer oben im Gartenhäuschen. Alles, was ich las, wurde zu Theaterstücken umgedichtet, und Mutter erklärte, ich wäre ganz theatertoll geworden, was auch gewiß der Fall war.
* * *
»Ja, aber Mutter,« fragt jemand nach einer Weile, »war das, was du tatest, wenn du Theater spieltest, denn gerade so?«
»Was ich tat? ja – nein – gerade so war es ja nicht,« sagt Mutter und lacht.
»Das war wohl kein richtiges Theater spielen – eigentlich?«
»Nein, das war es natürlich nicht – nicht, wie Theater sein kann und soll, aber das begriff ich ja damals nicht. Ich meinte nur, es wäre das Herrlichste gewesen, was ich gesehen hatte; alles, was ich so fern geträumt hatte, war mir jetzt mit einem Male so nahe gerückt, daß ich es fassen und fühlen konnte, daß ich wußte, es war wirklich vorhanden, und deshalb wurde es so unauslöschlich für mich, denn jetzt verstand ich ja, daß das Entzückendste und Schönste von allem wirklich existierte. Es war nicht bloß in der Zauberwelt der Phantasie und leuchtete von fern. Von dem Tage an sehnte ich mich nach etwas wirklich Bestehendem. Nach dem Theater – das es wirklich gab.
In Christiania, als Vater mich dorthin mitnahm, sah ich zum ersten Male ein richtiges Theaterstück. Es war im Theater zu Christiania, wo ich später selbst auftrat. Wir sahen: »Die Reise nach China« und ein großes französisches Ballett, das »der Waldfee Macht« hieß.
Ja, das war unzweifelhaft etwas andres als »eine Saprise« auf dem Skullerudsaal. Da gab es keine alten, dicken, mit Wachsperlen geschmückten Madames, die tanzten, als wollten sie mitten durch den Fußboden gehen. Nein, dies hier war ein Märchenballett, und es waren einige berückend schöne, französische Tänzerinnen, die damals ganz Christiania bezauberten – Marie Gouffard und Madame Grédely.
Ich fand, sie sahen in ihren silberschimmernden Gewändern wie verkörperte Mondesstrahlen aus. Nie habe ich auf der Bühne etwas so Schlankes und Luftiges wie Marie Gouffard gesehen, es war wirklich, als schwebte sie nur so über die Bühne hin. Und wie leicht und graziös und entzückend sie war in allen ihren Bewegungen!
Seht, es verhält sich nämlich so, daß auch der Tanz zu einer Kunst erhoben und so schön und lebensvoll werden kann, daß wir ihn lieben müssen und ihn wie Schönheitsfreude empfinden. Aber das ist schwer und erfordert sehr viel Schönheit und Anmut und andre äußere Eigenschaften, die sonst eine mehr untergeordnete Rolle spielen müssen.
Jetzt wird das Ballett meist zur Ausschmückung großer Opern verwendet, und übrigens kümmern sich die Menschen heutzutage nicht besonders um diesen Kunstzweig, denn es ist so, daß, je mehr das Menschengeschlecht wächst und sich entwickelt, um so mehr wächst auch die Kunst, versteht ihr, und die Anforderungen an sie. Jetzt will man in der Kunst menschliches Leben haben, sehen, wie die Menschen leben und denken, und das ist ja das Größte natürlich.
»Wer ist der Allergeschickteste von allen, die du gesehen hast, die Kunst können, Mutter?«
»Die Kunst können? – Hm – ja, das ist unmöglich zu sagen, mein Kind, denn es sind viele, die ganz außerordentlich geschickt sind, siehst du – jeder in seiner Weise. Meinst du Schauspielkunst?
Ja, das war Johannes Brun. Er war der Allertüchtigste hier bei uns; seinesgleichen bekommen wir, glaube ich, nie wieder. Wenn er auf die Bühne kam, mußte ich lachen und weinen zugleich und ihn mehr als alle andern gern haben. Gott, was war er für ein prachtvoller Schauspieler! Alles, was er sagte und berührte, wurde wie vergoldet von Leben, Humor und Herzensgüte. Wenn ich an ihn denke, finde ich es so traurig, daß er tot ist, daß ihr ihn nie mehr spielen sehen könnt.«
»Aber, Mutti, du hast doch sein Bild!«
»Ja, das habe ich, und ich sah ihn, wie gesagt, an jenem ersten Abend, wo ich im Theater zu Christiania war, spielen, und das Schönste von allem ist, daß ich selbst mit ihm zusammen spielte, als ich zum ersten Male auftrat, und das werde ich nie vergessen.«
»War er nett gegen dich, Mutter? Erzähle!«
Nett! – Ja, darauf könnt ihr euch verlassen, keiner konnte netter sein. Er umarmte mich und nannte mich seine Rose im Walde, und dann nahm er mich mit auf die Bühne, als sie applaudierten. Liebenswürdiger konnte er unmöglich sein. Jetzt steht seine Statue vor dem »Nationaltheater«, und das ist sehr schön, denn niemand darf vergessen, wer und was Johannes Brun war.
»Mehr, Mutter – mehr!«
Ja, mehr ist es nicht.
»Das ist es doch, Mutti! Besinn dich einmal, wer in der ganzen Welt, in Schweden und in Dänemark und überall, wo du gewesen bist, der Beste ist?«
Ja, wenn ich euch das erzählen wollte, dann müßte ich euch eine ganze Kunstgeschichte erzählen, und daran denke ich nun wirklich nicht. Aber in Schweden war ein Maler, der ganz hervorragend war, und in den ich mich geradezu verliebte.
In Stockholm haben sie das stolzeste Nationalmuseum in ganz Skandinavien. Das ist ein großes Haus, wo sie ihre gesamte Kunst, das Beste davon, versteht ihr, aufbewahren; der Staat kauft es von den Künstlern und bewahrt es in seinem eigenen Hause auf; es sind Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen.
Schon der Aufgang, die ganze Vorhalle zu dem schwedischen National heim – so, meine ich, müßte es eigentlich heißen, denn die Kunst hat ja dort ihre Heimstätte – war wie ein großes Tempelgewölbe über die besten Gedanken des Menschen – so hoch und frei, wo man nicht anders als groß denken kann, hier sah ich eine Menge wundervoller Sachen, herrlicher Gemälde; aber dann war ein kleines Zimmer £a, wo ich doch zuletzt blieb, und zu dem ich immer wieder zurückkehren mußte, das war Karl Larssons Zimmer, das mit den eigenen kleinen Gemälden seines eigenen Heims angefüllt war.
Alles war derart, daß jeder es lieben mußte, denn auf diesen Bildern war das dargestellt, was uns allen das Liebste ist, und hier fand ich alles verkörpert wiedergegeben, was ich vom häuslichen Leben in Schweden gesehen und liebgewonnen hatte.
Das ganze Zimmer war, wie gesagt, voll von seinen Bildern. Da war sein Haus und waren die Kinderchen, die Küche, das Schlafzimmer und der Garten, der Hund und die Katze und zuerst und zuletzt Mutter selbst – und alles, was die Menschen am meisten lieben, hatte er in einer Weise verewigt, die besser als alles andre von dem Glück und der Frische des schwedischen Familienlebens Kunde gab und erzählte, wie herrlich es in Wald und Feld ist.
Denn seht, was solchen Gemälden eine dauernde Bedeutung für alle Zeiten verleiht, ist nicht nur, daß sie schön gemalt und gedacht sind, auch nicht, daß sie das Leben des einzelnen Menschen schildern, sondern daß sie uns einen Einblick in die Denkungsweise, Phantasie und das Herzensleben des ganzen Volkes geben.
Darum ist derjenige, der so malen kann, ein großer Künstler. Mit der ihm innewohnenden Eigentümlichkeit verleiht er dem, was aller Eigentum in Leid und Freude ist, Ausdruck.
In Dänemark haben sie auch einen großen Künstler gehabt, der Thorwaldsen hieß. Er war Bildhauer. Er hat seinem Lande ein stolzes Denkmal erbaut, ein ganzes, großes Haus, ganz voll von seinen eigenen Arbeiten – das ist das Thorwaldsenmuseum. Du könntest wohl acht Tage darin umhergehen und hättest doch noch nicht alles gesehen. Es ist wie eine ganze Welt von Schönheit in lauter Marmor. Die schönsten Engel und Kinder und eine Menge Figuren aus der nordischen und griechischen Götterlehre, eine herrliche Christusgestalt, alle Apostel – und das alles in einer Formenschönheit, die unser Herz mit Begeisterung erfüllt.
Ja, ein großartigeres Denkmal als dieses haben nicht viele Künstler sich selbst und ihrem Lande errichtet.
Wenn man sieht, was ein einziger Mensch mit seinem Geiste und seiner Hand alles hat schaffen können, ja, dann wird man ganz beschämt über sich selbst, daß man nichts anderes getan hat, als seine große Dankbarkeitsschuld zu empfinden.
Eines ist in der Tat recht traurig, wenn man daran denkt, daß die Menschen oft erst spät verstehen, was sie einem so großen Künstler schulden. Denn er ist gleichsam meilenweit allen andern voraus, versteht ihr. Das Gedankenleben seines ganzen Volkes ergreift er mit Wacht und hebt es zu einer höheren Welt empor, in der es früher nicht gewesen ist, wo es aber jetzt all das herrliche sieht,' für welches das Alltagsleben keine Zeit oder keinen Platz hat. Und wenn die Menschen erst alles gesehen haben, was der Künstler ihnen von seiner Welt gezeigt hat, dann nehmen sie stets etwas davon in ihre eigene Welt mit hinüber, und je mehr sie sehen, desto mehr eignen sie sich an, und schließlich setzt der Künstler und der Dichter gewissermaßen seinen Stempel auf das Gedankenleben des ganzen Volkes und erhebt es zu einer klareren, schöneren Welt. Kein Land, das ich kenne, hat ein so feines Kunstverständnis wie Dänemark. Glaubt nur, die können auch anderes als Buttermachen, da unten.
Es nützt nichts, daß jetzt jemand kommt und sagt Thorwaldsen wäre gar nicht groß gewesen, er hätte nur den Geschmack verdorben und derartiges mehr.
Das ist nur Rederei.
Thorwaldsen verstand, dem Geschmack und der Schönheitssehnsucht seiner Zeit den schönsten und vollkommensten Ausdruck zu geben, und er hat dies in einer Weise getan, die den damaligen Geschmack für alle Zeiten verklärt, und deshalb durch alle Zeiten fortbestehen wird. Denn alles, was wahr und schön ist, verbleibt doch stets echt, schrieb mir einmal ein Kritiker, und an die Worte habe ich oft gedacht.
Jetzt ist ein französischer Bildhauer, mit Namen Rodin, weltberühmt und erregt das Staunen der Menschen. Er ist auch einer von denjenigen, der den andern meilenweit voraus ist. Wenn er seine Statuen meißelt, denkt er gewiß vor allem daran, was die Menschen gedacht, gefühlt und gewollt haben, und weniger daran, ob sie so ausgesehen haben; ihr inneres Leben ist für ihn das Wesentlichste. Das ist natürlicherweise den Menschen sehr schwer verständlich, aber über hundert Jahre verstehen sie es und freuen sich über all das Neue, das er hervorgebracht hat. Es ist nur traurig, daß Rodin sich dann nicht mehr selbst darüber freuen kann, denn keiner weiß wohl, wie schwer es für einen Künstler ist, von seiner Mitwelt nicht verstanden zu werden. Und Rodin hat wohl besonders viel darunter gelitten.
In Finnland habe ich eine Arbeit von Rodin gesehen. Das finnische Nationalmuseum war das einzige Museum in Skandinavien, was damals die Ehre hatte etwas von ihm zu besitzen. Die Nationalgalerie in Christiania hat jetzt auch einige Arbeiten von Rodin bekommen.
O, wenn ihr es doch hättet sehen können, wenn es doch alle hätten sehen können, denn es war so wunderbar schön – und der Gedanke, der darin lag, – daß man es nicht beschreiben kann! Es war eine Gruppe, zwei Gegner, die miteinander gekämpft haben, und indem der eine den andern überwindet, hebt er ihn in jubelnder Freude hoch von der Erde empor. Nie habe ich menschliche Glieder soviel Glück, Stolz und angeborene Freiheit ausdrücken sehen. Es war eine solche Kraft und ein solcher Adel in jeder Linie, daß man selbst miterhoben wurde, hoch über alle Gegner hinweg.
Schon allein der strahlende Gedanke: seinen Gegner von der Erde zu heben, wenn man ihn besiegt, nicht ihn zu Boden zu werfen, nicht auf ihn zu treten, wie viele tun würden – das verrät den genialen Blick und die große Denkungsart des großen Künstlers.
Das wird Rodin auch schließlich tun. Er wird seine Gegner auch von der Erde emporheben, indem er sie besiegt. Und davon können wir alle etwas lernen.
Diesen großen menschlichen Gedanken, seinen Gegner empor zu heben, indem man ihn besiegt, hat mich Rodin im finnischen Nationalmuseum gelehrt. Und das werde ich nie vergessen.
Ich meine, es war eine eigentümliche Erscheinung, dies Kunstwerk gerade in Finnland zu sehen. Die ganze Welt weiß ja, welch ein furchtbarer Gegner jeden Tag des edlen, finnischen Volkes Glauben, Gesetze und alles, was ihm lieb ist, mit Füßen tritt. So etwas ist ganz schrecklich, wenn man daran denkt. Ich war nicht lange in Finnland gewesen, als ich fühlte und sah, welch ein glimmendes Feuer in allen finnischen Herzen gegen die Unterdrücker brannte. Aber wenn der Tag kommt – und er wird kommen – wo das finnische Volk seinen ungerechten Gegner überwunden hat, dann wird es ihn, indem es ihn besiegt, so sicherlich von der Erde emporheben, wie es nur ein starkes geisteskräftiges Volk vermag, das durch seine Ausdauer die Ungerechtigkeit überwunden hat, das seiner gerechten Sache gewiß ist und deshalb nie zugrunde gehen kann.
Ja – und da ich euch nun dies Wenige von der Kunst erzählt habe und von allem, was ich lieb hatte, seitdem ich so klein war, daß ich eigentlich nicht wußte, was es war, was ich aber noch bis heute liebe und allzeit lieben werde, meine ich fast, daß ich den Trust und die große Bedeutung der Kunst in diese Worte zusammenfassen kann:
Sie erhebt den Menschen von der Erde, sie tritt auf Keinen. In befreitem Glück besiegt sie eines Tages die Gegner, indem sie dieselben zu einer höheren und schöneren Geisteswelt emporhebt.
Herrosé & Ziemsen, G. m. b, H.,
Wittenberg.
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