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Bei Jungfer Bakke gingen drei kleine Mädchen zur Schule, mit denen ich viel zusammen war, und die ich schrecklich gern leiden mochte. Das waren Emma, Nanna und Arna. Sie waren wirklich ganz reizend und sehr artig, und das herrlichste, was es für mich gab, war, wenn ich sie besuchen durfte. Oft wurde ich auch eingeladen, über Nacht dazubleiben und »bei uns zu schlafen«. Das war ein Leben! Ich glaube, wir tanzten die halbe Nacht herum – von schlafen war kaum die Rede. Wir nahmen die Matratzen, Decken und Kissen wohl zwanzigmal aus dem Bett heraus und legten sie auf den Fußboden, um das Bett nochmals zu machen und uns »ordentlich« hinzulegen. Und dann endete es doch damit, daß wir eine schöne Veranda, eine Kalesche oder eine ganze Villa mit verschiedenen Zimmern im Bett bauten, oder wir machten eine kleine Bergwanderung »ohne sehen«. Diese bestand darin, daß wir sämtliche Möbel mitten ins Zimmer hineinrückten und sie in der Weise aufstellten, daß sie soviel wie möglich Bergspitzen glichen, und mit verbundenen Augen und in einem sehr leichten Alpenkostüme unternahmen wir dann Bergbesteigungen. Wenn wir losgelassen wurden, mußten wir raten, wo wir waren. Ich erinnere mich, daß Nannas Mutter eines Nachts den Kopf durch die Tür steckte und fragte, ob wir nicht bald ins Bett gehen wollten. Da stand ich gerade im Hemde mitten auf der Kommode – das heißt auf dem Galdhöppigen. Berg in Norwegen. Das war ein wundervolles nächtliches Spiel für uns, aber es war weniger angenehm für diejenigen, die lieber schlafen wollten.
* * *
Auf der Anhöhe, etwas oberhalb unsres Hofes wohnte Emma, ebenfalls in einem großen gelben Käsehause.
Es lag nur ein kleiner freier Platz zwischen uns, und wenn wir morgens mit reinen Schürzen und einem kleinen straff geflochtenen Rattenschwänzchen im Nacken herauskamen, konnten wir in der Haustür stehen und uns zurufen: »Hin–keln! Er–ster! Komm!« Und dann trafen wir uns auf der Anhöhe und hüpften und flogen umher wie zwei Elstern. Es gab fünf »Paradiese« auf dem Wege zu Jungfer Bakke, eins im Torweg, zwei auf dem Hügel, eins vor Bäcker Gundersen, wo wir manchmal ein Kuchenteilchen bekamen, und endlich eins an dem »Jungfer Bakke Hügel«, ehe wir in das Haus hereingingen.
»'s Freilein hat nach euch gefragt,« sagte Thea häufig.
»Wo seid ihr gewesen?« fragte Jungfer Bakke, die am Eckschrank stand, wenn wir hereinkamen.
»Nirgends!«
»Ja, dann muß die Uhr verkehrt gehen,« meinte Jungfer Bakke, »sie ist gleich zehn.«
Ja, das konnte wohl sein, aber wir wußten nichts davon. Emma war wohl meine aller – allerbeste Freundin! Sie war so reizend und so lustig. Und dann hatte sie eine gebogene Nase und braune Augen. Das war für mich damals das Allerhübscheste – besonders im Sommer, wenn sie einige kleine Sommersprossen auf der Nase hatte – das fand ich so romantisch.
Ich hatte leider gar keine gebogene Nase, sondern nur ein Stumpfnäschen, und da sie doch einmal so häßlich war, meinte ich, es bedeute gar nichts, wenn sie auch noch etwas häßlicher würde. Ich ging deshalb beständig mit einem so fest wie möglich um die Nase gebundenen schwarzseidenen Faden umher, zum großen Amüsement für alle, denen wir auf der Straße begegneten, und nicht am wenigsten pläsierlich für Emma und mich. Ja, es ist wunderbar! Man will so gern Eindruck machen, wenn es auch nur durch einen schwarzseidenen Faden um die Nase ist! Und da diese nun doch einmal so häßlich war, konnte ich ebensogut eine Kartoffelnase bekommen. Und das glückte mir auch wirklich.
Emma hatte ein herrliches Leben.
Sie hatte zwei Brüder und drei Schwestern und im Winter einen Ball. Ich weiß beinahe nicht, was hiervon am schönsten war.
Die Schwestern hießen Klara, Stassa und Fia. Klara war die Hübscheste. Sie hatte eine noch gebogenere Nase und noch braunere Augen als Emma, und dann trug sie ein gelbes Satinkleid und saß oft auf einem roten Sessel im Saale und stickte. Wenn sie so von der Sonne beschienen auf dem Sessel am Fenster saß, meinte ich, sie passe für einen Roman. Ja, Klara war wirklich hübsch!
Emma hatte unter der Treppe eine Puppenstube mit hellblauen Tapeten, einem Fenster und einer kleiner Kommode, sowie Tisch und kleinen Stühlen. Hier spielten wir schrecklich gern Mutter und Kind, was wir natürlich selbst waren. Unten im Garten pflückten wir unreife Stachelbeeren und holten uns einige Möhren, die wir in der Küche zubereiteten. Emma hatte aber auch oben eine Puppenstube, und zwar in einem alten Piedestal. Hier spielten wir am liebsten mit den Puppen, denn Emma hatte deren eine ganze Menge, große und kleine.
Eine Puppe hieß Funda. Nie hat eine Puppe eine so große Rolle in meiner Phantasie gespielt, wie diese. Emmas alte Tante hatte sie nämlich »hinter dem Schloß in Christiania« gefunden und war dann so vernünftig gewesen, die Puppe mit nach Hause zu nehmen und sie Emma zu schenken, als diese im Sommer zum Besuch kam. Denkt euch hinter dem Schloß in Christiania! O, was diese Worte für Gedanken in uns erweckten! Hinter dem Schloß gelegen zu haben, in der Nähe des Königs und der Königin! Ja, die Puppe hatte vielleicht den König und die Königin gesehen, wenn sie morgens auf den Schloßhof hinaustraten. Es konnte schon sein, daß die Königin sie angeschaut hatte; denkt nur, wenn sie sie angefaßt, aber wieder weggeworfen hätte, weil sie meinte, die Puppe wäre für die Prinzessinnen doch nicht fein genug! Wenn ich Funda ab und zu halten und mit ihr spielen durfte, wagte ich kaum, sie anzufassen. Es wurde mir geradezu andächtig zu Sinn, und es schien mir fast, als wäre ich ein wenig mit dem Könige und allen auf dem Schlosse verwandt. Und das war doch auch kein so unbilliger Gedanke, da Funda hinter dem Schlosse gelegen hatte – das konnte ja natürlich gar nicht weit davon gewesen sein, nein, nein, nur ein ganz klein wenig! Für mich war es jedenfalls das schönste Traumspiel der Welt, ganz still mit Funda im Schoß dazusitzen.
Bei Emma gab es immer Grütze abends. Wir hatten stets Milch und Brot, und deshalb zog ich die Grütze selbstredend vor und wollte gern abends bei Emma bleiben. Aber bei Emma mochte niemand Grütze, und jeder wollte den Teller haben, auf dem am wenigsten war.
Wenn alle Grützenteller der Reihe nach auf dem Tische standen, ertönte der Kommandoruf: »Kinder, kommt zum essen!« Dann stürzten alle herein und blieben mitten im Zimmer einen Augenblick stehen, um den Dampf der Grütze einzuatmen, der von jedem Teller aufstieg. Mit einem kurzen blitzschnellen Überblick hatte jeder entdeckt, auf welchem Teller die wenigste Grütze war, und mit dem Schrei: »Das ist meiner!« stürzten sich alle über diesen Teller her. Wer zuerst den Teller mit beiden Händen anfassen oder noch besser, wer etwas daran lecken konnte, der hatte gesiegt, denn dann wollte ihn ja kein andrer mehr haben. Darauf stürzten alle auf einen neuen Teller los, auf welchem am nächst wenigsten war, usw. Während diese höchst originelle Grützenwahl unter endlosem Jubel vor sich ging, stand plötzlich Emmas Mutter in der Tür: »Aber Kinder! Was geht denn hier vor?«
Zwei Teller und vier Kinder lagen dann meistens auf der Erde. »Wir wählen nur Teller, das is so'n riesiger Spaß,« sagte Harald, Emmas jüngster Bruder; ein schöner, braunäugiger Junge. Jeden Winter hatte Emma Ball. Dann gab es kein Tellerauswählen! Ich hatte leider nie einen Ball. Mutter kehrte sich an so etwas nicht. Ich war immer zu klein, obgleich ich die Älteste war. Im ganzen genommen, ist es ein mäßiges Vergnügen die Älteste von einer Geschwisterschar zu sein. Dann soll man in allen möglichen und unmöglichen Tugenden als Vorbild dienen, und man soll beständig auf die Kleinen aufpassen. Ich hielt deshalb das Erstgeburtsrecht immer nur für ein sehr bescheidenes Recht. Nicht einmal einen Ball durfte ich haben!
Zu jener Zeit bekam man keine gedruckte Einladung zu den Bällen. Nein, der »Listenmann« ging herum und lud ein. Die Namen der eingeladenen Personen wurden auf eine Liste geschrieben, und dann ging der Mann von Haus zu Haus und zeigte sie den Eingeladenen vor; darauf schrieb man neben seinen eigenen Namen: »Ja, danke, werde das Vergnügen haben, werde die Ehre haben«. Auf diese Weise sah man gleichzeitig, wer alles eingeladen war.
Wenn der Mann mit der Liste herumging, war man natürlich in großer Spannung, ob er vorbeigehen oder hereinkommen würde. Eines Tages, als großer Ball auf dem Schanzenhof sein sollte, sah ich den Listenmann bei uns vorbei- und zu Emma hereingehen. Also stand ich nicht auf der Liste. O, wie alles mit einem Male so traurig aussah, ich meinte, die ganze Welt sollte begraben werden, als ich nicht auf der Liste stand. Und ein Begräbnis war das Traurigste, was ich mir denken konnte. Ich hatte einmal eins gesehen, als der Propst gestorben war; alle Leute in der ganzen Stadt waren schwarz angezogen, in dem Leichenzug, der sich durch die Straßen bewegte, gingen nur stille Menschen, alle waren so ernst, man hatte Tannenzweige gestreut, die Kirchenglocken läuteten, und der Schnee fiel so leise und wehmütig herab. O, wie traurig das war! Aber doch nicht trauriger, als daß ich nicht auf der Liste stand, und jetzt konnten sie mich auch nur begraben. Während ich noch so im Torweg stand und wünschte, begraben zu werden, hörte ich plötzlich, wie jemand mit lauter Stimme mir vom Hügel her etwas zurief. »Er ist hier gewesen! Du standest auf der Liste!« Es war Emma, die angelaufen kam, um mir alles zu erzählen und zu berichten, wer alles auf der Liste gestanden hatte.
»Er mußte erst nach der Festung hinauf, ehe es dunkel wird, dann kommt er auf dem Rückwege zu euch.«
Und er kam! In sehr gehobener Stimmung! Da er natürlich überall ein sehr gern gesehener Gast war, so wurde er selbstverständlich reichlich traktiert, und dann konnte es etwas zu viel werden, wenn er in zwanzig, dreißig Häuser gehen mußte und in jedem gut bewirtet wurde.
Ich sage euch, das war eine Freude, als Emma kam, und als der Listenmann nachmittags mit hochrotem Gesicht und seligem Lächeln und etwas unsicher auf den Beinen bei uns erschien. O, jetzt wollte ich um alles in der Welt nicht mehr begraben werden! »Du mußt ihm etwas anbieten, Mutter,« flüsterte ich überglücklich.
»Ich fürchte, er hat schon mehr wie genug,« meinte Mutter, indem sie die Portweinflasche hervorholte und sie auf ein kleines rotlakiertes Tablett setzte.
Aber, wenn Emma Ball haben sollte, dann war ich nicht bange davor, daß ich nicht auf der Liste stände. Dann erfuhr ich natürlich schon lange vorher, daß ich eingeladen werden würde, ferner, was wir bekommen würden, wer sonst noch eingeladen werden sollte, und was für Kleider wir anziehen würden. Alles mögliche, was besprochen werden kann, wenn man zu Ball gehen will, wurde eifrigst verhandelt. Diesmal sollte ich ein weißes Kleid mit roten Streifen, die wie Seide aussahen, tragen und auf den Schultern Schleifen aus richtigen Seidenband. Das war etwas Neues, was Mutter sich ausgedacht hatte, und was von Emma mit kritischer Miene und von mir mit Angst und Beben aufgenommen wurde. Es war das Schlimmste, was es für mich gab, wenn Mutter sich etwas Neues und Ungewöhnliches ausdachte, was ich tragen sollte, und was kein anderer hatte. Mutter tat das so häufig. Dann sahen mich alle an, und ich genierte mich derartig, daß ich nicht wußte, wohin ich mich wenden sollte.
Es ist ganz schrecklich, so etwas Ungewöhnliches zu tragen, was alle begucken und vielleicht belachen. Einmal mußte ich mit einem Kleide gehen, das unten blaue Zacken hatte. Ich fand es gräßlich und unbarmherzig. Aber Mutter hielt meinen Anzug für schön und eigenartig. Ja, danke schön, aber eigenartig wollte ich gerade am allerwenigsten sein.
Glücklicherweise erregten die Schulterschleifen gar kein Aufsehen auf Emmas Ball; niemand bemerkte sie, so daß meine Festfreude nicht durch sie beeinträchtigt wurde.
Schlimmer war es einmal mit einem Sommerhut, den Mutter mit einigen wunderlichen buschigen Federn garniert hatte. Die Knaben fanden bald heraus, daß sie wie Eichhörnchenschwänze aussahen, und wenn ich mich nur auf der Straße blicken ließ, riefen sie: »Eichhörnchenschwanz, Eichhörnchenschwanz!« Das konnte ich nicht ertragen! Ganz heimlich fing ich an die Federn fortzuzupfen, jeden Tag etwas, und eines schönen Tages verschwanden sie ganz und gar – im Brunnen. Lieber mein ganzes Leben lang keine Federn auf dem Hut tragen als Eichhörnchenschwanz genannt werden.
Aber jetzt komme ich ja ganz von Emmas Ball ab. Er fand in dem Saale statt, wo die roten Sessel und das rote Sofa standen und der Kronleuchter von der Decke herabhing. Alle Knaben standen in einer Gruppe an der Tür zusammen und waren so schüchtern, daß sie nicht hereinzugehen wagten. Wir kleinen Mädchen befanden uns im Wohnzimmer, wo der Teetisch gedeckt stand. Ihr könnt glauben, man hörte es, wenn wir uns näherten.
Jetzt ist es ja fein und modern, daß die Röcke von Seide rauschen, wenn man sich bewegt. Damals mußte es von gesteiften Röcken rauschen, das war das Feinste. Und daß wir rauschten, das kann ich euch versichern! Man hörte uns weithin, wenn zwei oder drei von uns, jeder mit drei, vier stocksteifen Röcken die Treppe heraufkamen, und wenn wir uns setzten, knackte es, als wenn wir uns mitten in eine große Cakesdose hineingesetzt hätten; aber das war gerade fein, und deshalb war es auch entzückend. Alle mochten das gern. Und zwischen all den großen und kleinen tanzenden Steifröcken schwebten die Dienstmädchen umher und trugen große Tabletts, auf denen roter und gelber »Bischof« in zierlichen kleinen Henkelgläsern angeboten wurde. O, wie schmeckte dieser Bischof, der zwischen den Tänzen herumgereicht wurde, so köstlich erfrischend!
Zum Abendessen bekamen wir dann belegte Butterbrote mit Anschovis und Ei, sowie Fischpudding und Kalbsbraten, dann Schokolade mit Milch, und zum Dessert rote Grütze mit Sahne und Backwerk, sowie Äpfel und Nüsse, gerade was am besten für Kindermagen paßte.
Wenn jemand damals auf den Kinderbällen Zigaretten und starke Getränke verabreicht hätte, so würde kein Kind Erlaubnis bekommen haben, auf einen Ball zu gehen – denn, Herrgott! wer die Kinder mit so etwas vergiften wollte, der mußte entweder krank oder verrückt sein. Vielleicht beides!
* * *
Arna war wie eine kleine Prinzessin, Fein und schlank wie eine Erle.
Denkt euch nur, sie hatte ein eigenes Zimmer und ein goldenes Kreuz! Ich konnte mir kaum etwas Großartigeres denken. Es lag geradezu etwas Erhabenes darin, was andern sterblichen nicht beschieden sein konnte.
Ich sehe sie noch immer in einem weißen Kleide, hellblauer Schärpe und mit dem goldenen Kreuz an einem schmalen Samtbande um den Hals vor mir.
Arna wohnte auf dem Lande auf einem prächtigen Herrenhof; sie war die einzige Tochter, hatte aber eine Menge Brüder und war natürlich der Augapfel ihrer Eltern. Ihr Heim war sehr fein und schön und hatte eine entzückende Lage – große Wälder ringsumher und eine wundervolle Aussicht auf den Strom und die Stadt.
Das Haus enthielt viele schöne Zimmer, aber das Gartenzimmer mit der großen Veranda und der in den Garten hinabführenden Treppe war doch das allerschönste. Im Garten befand sich eine große Grotte, die ganz eigentümlich und romantisch aussah, aber nichts war doch so romantisch wie Arnas Zimmer. Es lag im zweiten Stock, hatte eine herrliche Aussicht und war riesig fein eingerichtet. Dort war ein Sofa und eine Kommode mit einer Masse entzückender Nippessachen drauf – ja, ich weiß nicht genau, ob nicht auch ein Schreibtisch da war. O, wie ich mich beim Anblick all dieser Herrlichkeiten freute, ich war ja so entzückt von allem Schönen!
Arnas Mama war außerordentlich gut – ich erinnere mich noch, daß ich damals dachte, sie wäre bestimmt die allerbeste Mama in der ganzen Welt. Arna bekam gewiß alles, worum sie bat und noch etwas dazu.
In den Weihnachtsferien wurden eine ganze Menge kleiner Mädchen und auch viele Erwachsene von Arna eingeladen. Das war eine Freude und ein Spaß! Wir fuhren dann in vielen großen Schlitten hinaus und blieben stets einige Tage dort.
Nie vergesse ich die Schlittenfahrten durch den Wald, wo die mit glitzerndem Schnee bedeckten Bäume im Mondschein standen. Es war, als ob Tausende von Schneeelfen zwischen den Baumstämmen schwebten, die Pferde flogen dahin, und der Schatten des Schlitten und seiner Insassen tanzte über die mondscheinblauen, hellen Schneeflächen. Erinnert ihr euch des kleinen hübschen Verses von Jörgen Moe:
»Eines Abends zur fröhlichen Weihnachtszeit
Hinaus wir sollten fahren.
Am Himmel stand der Mond so klar,
So voll und blank und gelb er war,
Das war ein herrliches Fahren!«
Der Vers begleitete mich stets auf jenen Fahrten, und ich meinte, ich hätte ihn selbst erlebt.
Wenn wir dann unter klingendem Schellengeläut und Lachen näher kamen, lag Arnas Heim festlich erleuchtet und strahlend vor uns.
Gibt es wohl etwas Einladenderes und Lockenderes als so einen großen norwegischen Herrenhof, der an einem Winterabend gastfrei über die Schneefelder leuchtet und seine Tore weit öffnet? Eine Wärmewoge strömt aus den offnen Türen heraus, und in diesen erscheinen frohe, lächelnde Gesichter, welche die eingemummten Gäste empfangen. Die Pferde wiehern, das Schellengeläut klingt in den Winterabend hinaus, die Knechte vom Hofe laufen hin und zurück, und die Gäste gehen gruppenweise in die warme helle Vorhalle, um gleich darauf »oben« in den hellblau und gelb angestrichenen Fremdenzimmern zu verschwinden. Dort gibt es so hohe Daunenbetten, daß man in ihnen ertrinken kann. Auf den Gängen und Treppen duftet es weihnachtlich nach gebratener Schweinsrippe, saurem Kohl und Geflügel – köstlich! Wir werden schon keine Not leiden, wenn wir endlich fertig angezogen sind und wieder herunterkommen.
Oben in den Fremdenzimmern lag alles bunt durcheinander. Hutschachteln, Kleider, Schuhe, seidene Bänder und weiße gestärkte Unterröcke, die ausgeschlagen und über die Betten gebreitet wurden. Die Steife war glücklicherweise nicht »herausgegangen«, wie irgend jemand gefürchtet hatte, nein, sie rauschten genug, man würde es schon hören können, wenn wir die Treppe hinuntergingen und uns setzten.
Wir sollten natürlich nicht gleich am ersten Abend unser Bestes anhaben, nein bewahre, aber unser Nächstbestes. Ich sollte mein Schottisches mit dem weißen Grund anziehen, dazu rote Schleifen im Haar. Am nächsten Tage, an dem der Ball stattfinden würde, sollte ich mein Weißes mit den roten Streifen tragen, die aussahen wie Seide, und die feinen Lackschuhe, mit denen ich aber vor allen Dingen nicht in den Schnee hinausgehen sollte. Zwei Dienstmädchen in weißen Schürzen und Häubchen halfen uns kleinen Mädchen, flochten uns das Haar und hakten uns die Kleider zu. Ich war ganz wirr im Kopf vor lauter Freude und hatte mich kaum im Fremdenzimmer umschauen können, das wohl des Besehens wert war.
Ich hatte nie etwas Feineres gesehen. Denkt euch, wir schliefen unter richtigen seidenen Decken, nicht bloß solchen, die nur so aussahen, Gott bewahre! Und dann war auch ein Toilettentisch da mit weißen Gardinen und seidenen Schleifen und vergoldeten Leuchtern mit Prismen dran, und Eau de Cologneflaschen und ein hellblaues Toilettenkissen mit weißer Stickerei obendrauf und eine Marmorplatte auf dem Waschtisch und kleine entzückende, altmodische Stühle. Ich konnte mich kaum davon losreißen und hinuntergehen; aber wir mußten uns jetzt beeilen, denn der Tisch war gedeckt.
Arna stand in der Tür und sagte, wir müßten jetzt kommen. Die Dienstmädchen könnten das Aufräumen besorgen, das brauchten wir nicht. Und Mutter hatte es mir noch so gesagt – aber jetzt hatte ich wirklich keine Zeit dazu – wir hüpften schnell die teppichbelegten Treppen hinunter und in das große festlich erleuchtete Zimmer hinein, das voller Gäste war. Lachen und ohrenbetäubendes Gesumme schallte uns entgegen. Zu Tisch! In zwei Zimmern war gedeckt. O diese Menge Speisen! Ja, ich sage nicht zu viel, aber es gab wenigstens sechs verschiedene Sorten Eingemachtes, daran könnt ihr's schon merken! Und Speisen und Kuchen gab's im Überfluß; die Küchenschüsseln wollten kein Ende nehmen.
An jenem Abend spielten wir allerlei Gesellschaftsspiele, und es wurde musiziert. Die Herren spielten Karten. Die Damen saßen rings um den Sofatisch und waren äußerst fein und hübsch gekleidet. Dann kam der Kaffee herein, aber wir kleinen Mädchen waren natürlich nur mit dem Ball beschäftigt, der am nächsten Tage stattfinden sollte – was wir anziehen wollten, und wer sonst noch kommen würde.
Arna hatte viele Brüder, die alle ausgezeichnete Tänzer waren; wir brauchten also nicht fürchten, Mauerblümchen zu werden.
Am nächsten Vormittag machten wir eine entzückende Schlittenpartie, ein ganzer Zug großer und kleiner Schlitten. Wir kamen zum Mittag wieder heim, und gleich nach dem Essen mußten wir nach oben stürzen und daran denken, uns für den Ball in Ordnung zu machen. Ihr könnt euch wohl vorstellen, was das für ein Leben und ein Spaß ist, wenn sechs, acht kleine Mädchen sich zusammen zum Ball ankleiden sollen. Weiße gestärkte Unterröcke, Strümpfe, Schuhe, Strumpfbänder, Haarbänder und Halsbänder – die Tische, Stühle, Kommoden und Betten konnten kaum alles fassen, und dazwischen wateten wir in mehr oder weniger leichten Kostümen umher, bis endlich eine der Damen hereinblickte und fragte ob wir bald fertig wären. Die Gäste begännen schon zu kommen!
Ach ja, ach ja! Von draußen erklang Schlittengeläut. Jeder von uns fiel über seinen Stuhl her und sammelte seine Schätze zusammen. Die Beinchen kamen in Strümpfe und die Strümpfe in Schuhe; Strümpfe, Schuhe und Beinchen kamen in Höschen, darauf in die feinsten gesteiften Unterröcke mit gestickten Borten, und endlich kamen wir und das ganze in das Kleid hinein, das mit großer Vorsicht über den Kopf geworfen wurde, während wir mit steif emporgestreckten Armen dastanden, damit die Locken nicht in Unordnung kamen und wir nichts zerknitterten!
Der eine Schlitten nach dem andern fuhr jetzt vor der Haustür vor. Ein Gesurr von Stimmen klang von der Vorhalle zu uns herauf, leichte Schritte ertönten auf den Treppen, und Damen und junge Mädchen verschwanden in den andern Fremdenzimmern, um Toilette zu machen. Endlich waren wir fertig, um zusammen hinunterzugehen, nachdem wir vorher noch lange überlegt hatten, wer von uns zuerst hineingehen sollte.
Licht und Lampen in den Gängen und auf den Treppen, alle Türen nach den andern Zimmern und dem Saal geöffnet, wo Kronleuchter und Lampetts im Lichterglanz erstrahlten. Und im Korridor standen die Knaben, in ihren feinen schwarzen Anzügen, einige von ihnen hatten sogar Handschuhe an! Die andern kleinen Mädchen waren schon hinuntergegangen, nur ich stand noch allein oben auf dem kleinen Treppenabsatz; es war so amüsant, ganz allein dort zu stehen und auf die andern herabzuschauen, ohne doch selbst gesehen zu werden.
Thomas war auch da! Der nette Thomas, mit dem ich einmal in der Tanzstunde getanzt hatte – der eine goldene Uhr hatte und so hübsch war.
Jetzt gingen alle hinein, und ich konnte mich unbemerkt in das kleine Kabinett schleichen, wo große seidene Kissen mit Ballschleifen und Orden für den Kotillon lagen.
Ich hatte mir einen Orden mit einem kleinen Engel ausgewählt, der einen Vergißmeinnichtkranz um sich trug. Den wollte ich Thomas geben, denn der war, wie ein richtiger Kavalier sein sollte – fein und artig – auch verbeugte er sich so schön, war keine Spur schüchtern oder unbeholfen, und dann hatte er ja eine goldene Uhr und braune Augen – und braunen Augen konnte ich nicht widerstehen – da schmolz mein Herz sofort.
Während ich in dem kleinen Kabinett mit der Mondscheinlampe stand und von alledem träumte, hörte ich plötzlich eine Stimme: »Aber, Ågot, willst du keinen Tee haben?«
Arnas Mama stand in der Tür, sie nahm mich bei der Hand und führte mich in das Wohnzimmer zum Teetisch, der von strahlenden Silbersachen und feinstem Damast glänzte.
Im Saal hatte man jetzt gerade angefangen sich zur Polonaise aufzustellen! Ich wurde denn auch glücklicherweise aufgefordert und tanzte auch mit Thomas – bekam viele Kotillonschleifen, und Thomas bekam meinen Orden mit dem Engel und dem Vergißmeinnichtkranz. Aber in der Nacht träumte ich, daß ich selbst der Engel mit den Vergißmeinnicht war, und daß ich Thomas' goldene Uhr bekommen hatte, die ich deutlich in seiner Westentasche zu fühlen glaubte, als wir miteinander tanzten.
* * *
Bisweilen fuhren Vater und Mutter im Winter übers Eis zu einem großen Hof, der »Gjösehof« hieß. Er lag in der Nähe eines Sees, eine halbe Meile von der Stadt entfernt; und obgleich es dort weder kleine Mädchen noch kleine Knaben, weder Gesellschaft noch Ball gab, war es für mich doch ebenso hübsch, mit dorthin fahren zu dürfen.
O, das war ein alter, köstlicher Hof! Er war gerade wie ein Stück aus Dickens' Romanen inmitten der Wirklichkeit. Und dann alle die alten Tanten und Onkel, die es dort gab!
Ich habe nie so viele alte Tanten und Onkel zusammen gesehen, weder früher noch später.
Es war der Amtmann, der dort wohnte.
Er war ein großer, stattlicher Mann mit langer, silberbeschlagener Meerschaumpfeife, karierter Weste und einem herzgewinnenden, sonnigen Lächeln; seine Frau dagegen war ganz klein, trug eine Haube und graue Hängelocken und hatte ein paar kluge, klare Augen, mit denen sie mir, wie ich glaubte, bis ins innerste Herz müßte hineinsehen können. Dann war Onkel Arild da, groß und schön, mit schneeweißem Haar, und Onkel Jens, klein und dick, ebenfalls mit schneeweißem Haar und Onkel Tom und Onkel Fredrik, die nicht so alt waren. Und dann Tante Anine und Tante Hansine – klein und sanft – sie häkelten immer und trugen schwarzseidene Schürzen; ein eigentümlicher Duft, wie von im Ofen getrockneter Rosen folgte ihnen stets. Ja, ich glaube, es waren ihrer noch mehrere da, aber ich erinnere mich ihrer Namen augenblicklich nicht.
Eine prächtige Allee führte zum Hof hinauf. Vor dem Hause lag ein großer Garten. Der Hofraum war wie ein großer Marktplatz und ringsum von großen rot und weiß angestrichenen Nebengebäuden umgeben, unter denen sich sogar ein schöner Glockenturm mit einem Hahn auf der Spitze befand. In diesem Glockenturm durften wir an dem Strick ziehen helfen, wenn die Leute vom Hofe zur Vesper herbeigeläutet werden sollten. Das Hauptgebäude selbst war niedrig und hatte kleine Fenster, und wenn wir in die große Vorhalle eintraten, wo das Sofa mit dem grünkarierten, selbstgewebten Überzug stand und eine Menge wunderlicher alter Pulverhörner, Schießwaffen und ausgestopfter Vögel an den Wänden hingen, war es uns, als würden wir mit einem Schlage von all diesen liebenswürdigen Alten umarmt und in einen Zauberkreis von lauter Güte hineingezogen.
Auf dem Gjösehof war stets alles so fertig, so abgeschlossen, gleichsam als erwarte man dort nichts mehr. Keine Unruhe, kein Hasten, alles ging in ruhigem Tempo auf den in den Treppen und Korridoren liegenden selbstgewebten Läufern. Die Onkel rauchten und lasen, die Tanten saßen auf ihrem erhöhten Fensterplatz und strickten oder nähten, oder sie gingen etwas in die Küche hinaus und halfen dort mit. Es war ganz wie eine Welt für sich.
Der Schlitten hielt noch kaum vor der Tür, und wir waren aus unsern Fußsäcken, Pelzen und Decken noch nicht einmal völlig heraus, so stand der Amtmann mit seiner langen Pfeife schon in der Tür und hieß uns willkommen. Hinter ihm lugte seine kleine sanfte Frau hervor, und sobald wir hereingekommen waren, kamen die Tanten und Onkel nacheinander aus den Türen heraus und von den Treppen herunter, leise und still und redeten mit gedämpfter Stimme und freundlichem Lächeln. Es gab viele Zimmer im Hause, aber sie waren alle niedrig, klein und behaglich, mit Efeu, Balsaminen und Teerosen vor den Fenstern.
Dann wurde der Teetisch gedeckt und die Lampen angezündet. Die Türen wurden leise auf- und zugemacht. Bald kam das Tablett mit dem Toddy herein, und dann wurden die Befehle für das Abendessen ganz leise erteilt. Eine Tante nach der andern kam herein und setzte sich mit ihrem Strickzeug an den Teetisch, und die Unterhaltung floß angenehm und ruhig dahin. Sie enthielt weder geistreiche Gespräche, noch war sie witzig auf Kosten Anderer, aber man hatte das wohltuende Gefühl, daß alles in der besten Meinung gesagt und aufgenommen wurde. Sobald ich konnte, nahm ich jedoch die Gelegenheit wahr und schlüpfte in die Küche, denn die war beinahe das Allerschönste am ganzen Gjösehof! Eine große prächtige Leuteküche mit einem eingemauerten und einem offenen Herd und einer Menge großen wunderschönen Kupfergeschirres an den Wänden, das in dem flammenden Schein des Herdfeuers rot erglänzte. Diese Küche war wie in zwei Teile geteilt – einen oberen und einen unteren Teil – und dann befand sich mitten an der Längswand eine eingebaute Treppe, die nach oben führte. In einer Ecke stand eine große Schlaguhr. Ganz hinten in der Küche saßen die Leute an einem langen Tische und aßen; große, starke Männer, prächtige, brave Knechte, die zum Hof gehörten, und kräftige junge Mägde. Die Unterhaltung bestand meist aus kurzen, treffenden Bemerkungen – viele Worte wurden nicht gemacht. Heute abend war die Rede vom Wolf. In den umliegenden Wäldern hatten sich wieder welche gezeigt. Ja, Ola erzählte, er hätte schon drei Stück oben im Berge gesehen, und ihr Geheul könnte man jetzt, wenn es dunkel wurde, sehr oft hören.
Hu, wie es mich überrieselte vor Schrecken und Abenteuerlust!
Der untere Teil der Küche war am amüsantesten, und dort blieb ich immer.
Ob wir vielleicht den Wolf auf der Fahrt hierher gesehen hätten? Ja, wir sollten nur nicht zu sicher auf der Heimreise sein – übers Eis wäre es immer am gefährlichsten, dort war es jetzt ja so hell im Mondschein; aber der Wolf setzte nur hinter Pferden her, wenn er richtig ausgehungert war. Schlimmer wäre es, wenn wir einen Hund mit hatten. Doch das hatten wir nun glücklicherweise nicht.
Aber kleine Mädchen möchte er auch wohl, meinte der Knecht – Jessas, das Beste war eben gut genug!
Ich sah mich schon in den Klauen des Wolfes und wurde übers Eis weggeschleppt, und Vater konnte »Mazurka« nicht anhalten, sie galoppierte davon, und Mutter schrie, und der Wolf lief mit mir fort. Ich fühlte, wie ich vor Angst erstarrte.
»Komm, Ågot, du darfst mit mir hinauf gehen und Kuchen herunterholen« – das war Tante Anines Stimme aus dem oberen Teil der Küche, wo es hell und wo keine Spur vom Wolfe zu sehen war.
Dort stand Tante Anine, klein und hell, mit der seidenen Schürze, dem Schlüsselbund und einem großen Tablett, auf welches wir die Kuchen legen sollten.
Wir klommen darauf die schmale Treppe hinauf und kamen nach oben. Obgleich es so viele Tanten und Onkel auf dem Gjösehof gab, so war doch noch viel Platz vorhanden, denn sie hatten ein großes Zimmer allein für Kuchen! Ja, es ist wirklich wahr – das ganze Zimmer stand voll von großen alten, fellüberzogenen Koffern, die voll der schönsten Kuchen waren.
Wir sagten wahrlich nicht nein zu einem Besuch im Kuchenzimmer mit Tante Anine. Meistens wurden wir so vollgepfropft mit allerlei Kuchen und Backwerk und Süßigkeiten, daß gar kein Platz für das Abendbrot übrig blieb.
»Hier ist Onkel Arilds Zimmer,« sagte Tante Anine und schloß eine Tür auf.
Entzückender Tabaksgeruch und große, alte Lehnstühle, in denen man wohnen konnte.
Wir gingen weiter durch Gänge und Winkel.
»Hier ist mein Zimmer.« Wir sahen hinein. Das Mondlicht fiel durch die kleinen Fenster mit den weißen, karierten Gardinen und glitt zu dem Bett hinüber mit der weißen, gehäkelten Bettdecke. Ein alter Schrank stand in der Ecke. Alles war wie unberührt. Hierher hatte sich Tante Anine zurückgezogen, als sie mit dem eignen Leben fertig war. Jetzt lebte sie nur dasjenige der Andern. Ich sehe sie noch dort in der Tür stehen mit dem Tablett und dem Schlüsselbund und mich lächelnd betrachten. Damals verstand ich nicht, warum es mich immer so wehmütig ergriff, wenn ich sie und alle diese lieben alten Tanten sah – jetzt weiß ich es – sie waren verwelkt – vor der Zeit.
Beim Abendessen kam auch die Rede auf den Wolf. Es war wohl etwas Wahres daran, daß man hier und da Wölfe gesehen hatte, aber es war natürlich gar keine Gefahr dabei, übers Eis zu fahren.
Die Stimmung wurde jetzt lebhafter, und die eine Geschichte von Jagd und Holzfuhren und Pferden löste die andere ab. Plötzlich fing der Kuckuck in der großen, alten Uhr an zu rufen – Kuk-kuck. Er rief zehnmal, dann schloß sich oben das Türchen zu dem kleinen mit Rosen umgebenen Kuckuckshäuschen wieder.
Dieser Kuckuck gehörte auch zu dem, was ich am Gjösehof so sehr liebte. Wenn er herauskam und rief, meinte ich, es wäre plötzlich Sommer geworden, und ich säße unter den Büschen und pflückte Anemonen und könnte mir all das herrliche wünschen, von dem ich nicht wußte, was es war, was es aber irgendwo weit, weit fort geben mußte. Und ich setzte mich stets ganz nah an die Uhr und wartete, bis der Kuckuck wieder herauskam. Wünschen konnte ich mir doch ebensogut etwas unter der Uhr wie unter den Büschen am Johannisabend, das schadete ja nichts.
Noch etwas andres Wunderbares gab's dort, was die Gedanken anregte.
Drüben an der Tür in dem alten Schränkchen mit all den wunderlichen Fächern und Schubladen befand sich ein entzückendes Spielzeug. Es waren Schwäne, die ein kleines Boot über den Tisch ziehen konnten. Einer der Onkel hatte dies Spielzeug gewiß einmal von einer Reise im Ausland mit heimgebracht, glaube ich. Zu jener Zeit wurde es als eine große Merkwürdigkeit angesehen. Meistens war es das Letzte, was wir sehen durften, ehe wir wieder nach Hause fuhren. Während sie drinnen im Nebenzimmer den letzten Robber im Whist spielten, und wir uns an Kirschlikör, eingemachten Früchten und Kuchen im Wohnzimmer erlabten, wo der Tabaksrauch wie blaue Wolken sich in den Ecken lagerte, kam meistens einer der Onkel, der gerade für die Zeit nicht mitspielte, mit seiner Pfeife und dem Toddyglase herein und setzte sich zu uns.
»Sollen wir die Schwäne hervorholen?« – Und dann wurden sie aus dem geheimnisvollen dunklen Fach des Schränkchens herausgenommen und mit einem kleinen Schlüssel aufgezogen, und dann glitten sie mit ihren schlanken Hälsen und blendendweißen Flügeln über den Tisch hin. Mir war's, als kämen sie aus dem Lande des Schönen aus weiter, weiter Ferne, wohin ich selbst auch einmal kommen würde. Und dorthin kam ich ja auch wirklich einmal! Aber wie herrlich das auch war, ich glaube doch nicht, daß es herrlicher war, als den Schwänen auf dem Gjösehof zuzusehen und mit ihnen in die unendliche, blaue Traumwelt meiner Kindheitsphantasien hineinzusegeln. Denn dem kommt doch nichts gleich. Das war wirkliches Traumleben.
Deshalb war ich innerlich auch so betrübt, als wir uns abends angezogen hatten und nach Hause fahren sollten. Ich hatte gar keine Lust zum Fortgehen. Meine einzige Hoffnung war, daß wir bald wiederkommen sollten, wie die alte Frau sagte, indem sie mir den Schal unter den Armen fest zusammenknotete. Aber das konnte wohl noch lange dauern, vielleicht wurde nicht eher was daraus als zum Sommer, und auf dem Gjösehof paßte eigentlich alles besser im Winter.
In sausendem Trab flog »Mazurka« die Allee herunter. Ich saß zwischen Vater und Mutter im Schlitten, sah den letzten Lichtschimmer aus der Vorhalle und hörte die letzten Stimmen rufen: »Kommt gut nach Hause!«, dann tanzte »Mazurka« und der Schlitten und wir in die Zauberwelt des Mondlichts hinein. Es leuchtete und glitzerte und blaute vom Eise und all den tausend Schneesternchen rings umher, die von den Bäumen auf uns niederfielen, und als wir auf das spiegelblanke Eis kamen, war es, als hätten wir keinen Boden unter den Füßen, als befänden wir uns nicht mehr auf der Erde, sondern in einer blauen Welt, die hoch über uns und tief unter uns war, und wir fuhren nicht mehr, nein, wir flogen durch die Luft. Unter den leichten Hufen des Pferdes sprühten Funken hervor, und Vater hatte Mühe, das Tier zurückzuhalten; es legte die Ohren nach hinten, schnaubte einige Male – die Wölfe! Es war augenscheinlich vor etwas bange. Mutter drückte mich fest an sich.
»Da ist etwas Schwarzes, das sich nach dem Lande zu bewegt,« flüsterte Mutter.
»Hat keine Gefahr; wir haben guten Vorsprung,« sagte Vater ruhig.
Aber »Mazurka« war bange und gehorchte den Zügeln nicht mehr. Die Eisstücke flogen um uns her und glitzerten im Mondschein.
Endlich waren wir über das Eis hinüber und auf der Landstraße, aber erst als wir uns der Stadt näherten, bekam Vater wieder Macht über das Tier, das noch immer zitterte und mit Schaum bedeckt war. Als wir in unsern Hof hereinfuhren, sagte Vater lachend: »Ja, das haben wir gut gemacht, denn die Wölfe waren uns auf den Fersen; aber ich wollte euch nicht erschrecken. Doch jetzt sind wir wohlbehalten zu Hause, und nun soll Gulbrand erst »Mazurka« gut versorgen, das hat sie verdient, denn heute abend würde sie den ersten Preis gewonnen haben.«
Und der goldige, liebe, gute Herzensvater gab mir alle meine Schmeichelnamen – ich hatte deren eine ganze Reihe – ehe er mich ins Haus trug und mir Gutenacht sagte.
Nach dieser Fahrt erschien mir Vater geradezu wie ein Held in der Sage, denn er hatte uns aus den Klauen des Wolfes errettet.
Und das hatte er auch wirklich getan. Er hatte die Kräfte eines Helden, aber das zärtliche, warme Herz eines Kindes.
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Aber an eins habe ich in diesen Tagen gedacht, als ich euch vom Gjösehof und all den alten Tanten und Onkeln dort erzählte.
Es gibt drei Wunderländer in der Welt. Das ist das Wunderland der Kunst, das Wunderland der Liebe und das Wunderland der Arbeit.
Es ist am glücklichsten, wenn man zuerst durch die beiden ersten Länder reisen darf und dann in das dritte hineinkommt.
Alle diese Alten auf dem Gjösehof jedoch fingen von der entgegengesetzten Seite an, sie kamen zuerst in das Land der Arbeit, und dann kamen sie nicht weiter. Dort blieben sie. Und das ist das Wehmütige. Zu dem, was der Arbeit den Strahlenglanz verleiht, gelangten sie nimmer. Und ich glaube, so ergeht es gewiß vielen Tanten und Onkeln.
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