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Auf der Festung

Aber ich habe euch gewiß noch nichts Näheres von der Stadt erzählt?

Ja, eigentlich ist wohl nicht viel von ihr zu erzählen, denn sie war klein und bescheiden. Aber sie hatte eine Festung, und die gab ihr gewissermaßen ein feierliches Gepräge.

Die Stadt fing eigentlich unten bei der Eisenbahnstation, beim Strom und der Brücke an; hier sausten die Lokomotiven mit ihren großen leuchtenden Feueraugen heran und davon. Wo kamen sie her, und wo gingen sie hin? Was hatten sie alles gesehen, und wie vieles würden sie zu erzählen gehabt haben, wenn sie hätten reden können!

Aber das konnten sie nicht, hatten auch keine Zeit dazu. Einige kurze Pfiffe, ein ungeduldiges Schnauben des Dampfes, der im Dunkel leuchtete und glühte – weiter, weiter – und sie schossen unter der Brücke dahin, den Strom entlang, machten allerlei Windungen und verschwanden im Dunkel. Ich stand und lauschte so lange, bis der letzte schwache Ton in der Ferne erstarb. Zur »Stadt« – nach Christiana ging es. Ob ich wohl je dahin kommen würde?

Über den Fluß mit seiner schäumenden Strömung, auf der die Baumstämme für die Sägemühlen dahintanzten, führte eine Brücke. Ich überwand niemals völlig die Scheu, um hinüberzugehen; die Brücke mit ihren mächtigen Steinpfeilern und Bogen kam mir wie ein ganz besonders großartiges Bauwerk vor.

Und das kochende, tiefe, schwarze Wasser, das stets mit perlenden weißen Schaumkämmen dahinbrauste – o, das hatte einen lockenden Reiz! Ich mußte immer etwas stehen bleiben und Hinunterschauen. Mutter hatte mir das allerdings streng verboten, denn es konnte ja passieren, daß man schwindlig wurde und hineinfiel. Mutter hatte gerade im »Anzeiger« gelesen, daß ein kleines Mädchen ins Wasser gefallen und ertrunken war. Übrigens hatte Mutter immer so sehr viel Schreckliches im »Anzeiger« gelesen, und das wurde bei unsrer Erziehung stets als Warnung angewandt. – ich fühlte, wie es mich heiß und kalt überlief – es war am besten, schnell über die Brücke und auf den Weg zu kommen, der den langen Hügel zur Stadt hinaufführte. Zuerst stieg der Weg nur allmählich empor, bis man an dem Gefängnis vorüber war, wo wir zur Weihnachtszeit stets den »Nikolaus« machten und so reichlich bewirtet wurden. Dann kam die Biegung und noch ein Hügel, der etwas steiler war und bis zum Markt hinaufführte, wo die Kirche und unser Haus lagen; dann wieder eine Anhöhe an Emmas Hause vorbei; dann ging's hinauf zum »Jungfer Bakke Hügel«, und schließlich kam eine gewaltige schroffe Höhe, der Festungshügel, bis zur Festung hinauf, die majestätisch oben auf dem Gipfel desselben lag mit einer wunderbaren Aussicht weit ins Land hinein.

Es war also nicht hügelauf und hügelab hier, nein, die ganze Stadt war ein einziger langer Bergeshang bis zur Festung hinan.

Waren wir aber erst bis dahin gekommen, o, dann bereuten wir die Mühe nicht, denn dort oben war es – ja, es war fast zu schön.

So still und liebevoll wie die Natur dort oben vor unsern Blicken lag! Nicht wie hier im Norden, nein, so ganz anders! Sie nahm alle Sehnsucht des Menschen gleichsam in sich auf und verbarg sie tief innen an ihrem friedvollen Herzen.

Hier im Norden werden Sehnsucht und Unruhe immer wieder von neuem geweckt – dort in der weitgedehnten, großen Ostmark durften sie sich zur Ruhe legen und fanden eine Heimat.

Mir ist, als müßte ich noch jetzt meine Arme nach allem ausstrecken! Nach dem Walde, dem Strome, der Stille und dem Ernste!

Wenn ich daran denke, scheint es mir fast, als könnte ich nicht davon erzählen, denn ich glaube, es ist unmöglich, daß ein anderer verstehen kann, was das alles für mich bedeutete. Nach Norden war ein Wall, den ich in meinen Gedanken den Sehnsuchtswall nannte. Aber ich durfte natürlich zu niemand darüber reden, denn dann hätte man mich vielleicht nur ausgelacht und gesagt, daß es gar kein Sehnsuchtswall sei. Aber das war er doch. Mein Sehnsuchtswall war er. Er fesselte mich wie mit Zaubermacht.

Lichtgrün und fein zog sich der Kleinwald den Berghang hinab bis zum Tale, wo der Fluß breit und mächtig dahinschoß und der Hochwald anfing. Über die schleierzarten, feinen Baumwipfel tanzten die Elfen in der Sommernacht, wenn der Nebel vom Flusse sich taufrisch über sie legte; aber weiter fort in dem dichten, dunklen Hochwalde, da wohnte die Waldfee, die den Nix in der Tiefe des Stromes liebte.

Ich träumte mich hinein in den Wald, der sich längs des Stromes hinzog, träumte mich immer weiter fort, bis dahin, wo die Wolken über den Baumwipfeln feurig erglühten und alles ein lichtes Meer von Schönheit war. Dort wollte ich wohnen.

Jeden Baumwipfel, jeden Wolkenschatten, der darauf fiel, jede Stromwindung, jedes Rauschen des Windes, das wie ein Seufzen durch die Abendstille darüber hinfuhr, liebte ich wie mein eigenes, den andern unbekanntes Königreich. Bald glaubte ich selbst die Waldfee zu sein, die so wundersam froh im Walde sang und lockte und sich wie ein großer Vogel auf den Baumwipfeln wiegte. Und der Nix kam aus dem Strom herauf und sah mich mit großen traurigen Augen an. Denn er hatte ja ein kaltes Fischherz und kein warmes Menschenherz! Aber das sollte er bekommen, ich wollte dem Nix ein warmes Menschenherz geben, und er würde aus seiner kalten Tiefe emporsteigen, und wir würden tief innen im Walde zusammenwohnen da, wo die Wolken in der Sommernacht wie in Glut getaucht waren.

Doch niemand, niemand in der ganzen Welt durfte wissen, daß ich die Waldfee sein wollte, und daß ich den Nix heiraten und im Elfenreich des Waldes wohnen wollte. Denn das würde ja keiner begreifen können. Die Menschen verstehen so etwas nicht.

Wie ein kleines Mädchen mit ihrer Schönheitsfreude und ihren: Zärtlichkeitsdrang doch so ganz für sich leben kann!

Die Leute lachen darüber und halten es für albern und geziert, ob man klein oder groß ist. Und doch ist es das Stärkste in uns. Dasjenige, was Bestand hat: die Vaterlandsliebe und die Freude am Schönen, die mit unserm innersten Wesen zusammenschmelzen. Die Kindheitserinnerungen, die niemand uns nehmen kann.

Ja, du herrlicher Wald und du schönes Tal, du reißender Strom mit Traumspiel und Sehnsucht nach dem Nix, dankbar gesegnet sollst du sein für alles, was du mir an Glück und Frieden gegeben hast!

* * *

Es war etwas Imponierendes an der kleinen Festung dort oben auf der Höhe, die ernst dalag und spähend über das fruchtbare Flachland hinausschaute, durch welches der Fluß sich wie ein breites Silberband im Tale dahinschlängelte. Nach Norden erstreckten sich mächtige Wälder – tief und ernst, aber nach Süden lag der Vingersee mit all seinen Herrensitzen und erglänzte freundlich im Sonnenschein. Dort lag Nästeby, Onkel Andreas' großes schönes Gut, wo wir so oft zum Besuch waren; dort lag der Pfarrhof mit seinen großen Ländereien und Nor und der Schanzenhof und Skinnarböl wie ein kleines Schloß in der Ferne. Aber ehe ich von denen erzähle, die auf der Festung wohnten, muß ich wohl vom Festungsgarten berichten, denn das war der herrlichste Garten, den ich je gesehen habe. Dort hatte die Phantasie freien Spielraum.

Der Hügel bis zur Festung hinauf war mit vielen prächtigen schattigen Ahornbäumen bewachsen; hier und da stand eine Bank zwischen den Bäumen, denn der Weg nach oben war mühsam und steil in der Sommerwärme. Im Winter gab's hier die herrlichste Schlittenbahn; da sie aber so scharfe Biegungen hatte und voller Bäume war, so war sie wegen der Schwierigkeit, darin zu steuern, geradezu berüchtigt.

Die »Festungsknaben« waren jedoch nicht bange, die verstanden zu steuern, wenn die Biegung auch noch so scharf war; die wurden frühzeitig kühn auf ihren Skis und Schlitten.

Wenn wir den Hügel hinaufkamen, hatten wir rechts den großen Festungsgarten.

Ach, ein solcher Garten! Wie manche Phantasiespiele habe ich unter seinen schattigen Bäumen gespielt, wie viele Luftschlösser in seinen traulichen Gängen gebaut! Er war der herrlichste Ort der Welt, für mich war er geradezu wie der Garten des Paradieses. Aber es war keine Schlange darin, und die Bäume waren lauter herrliche Bäume, und wir durften von allen essen. Und das war das Schönste von allem. Traubenkirschbäume, Nuß- und Apfelbäume, Johannis- und Stachelbeersträucher, Erdbeeren und Himbeeren – und die Erlaubnis, von allem pflücken zu dürfen. Nie hörte ich irgendein Verbot, unten im Garten nichts anzurühren, im Gegenteil – »seht nun zu, daß ihr das und das findet, so sollt ihr Zucker und Sahne bekommen, wenn ihr heraufkommt«.

War das nicht ein Paradies für Kinder?

Der Hügel, der zum Garten hinabführte, war so steil, daß es beinahe gefährlich war, ihn hinunter zu laufen, und da der ganze Weg wie ein weicher Rasenplatz war, so legten wir uns am liebsten oben auf den Hügel und trollten herunter, bis wir an einer Erdbeerrabatte anhielten, wo wir liegen blieben – zunächst wenigstens. Dann ging's in die Kirschenallee. O, diese Masse Traubenkirschen, die Erik und Andreas uns herunterholten, und die wir dann mit Zucker und Salz bestreuten und verzehrten. Wir aßen so lange, bis unser Mund sich ganz zusammenzog und wir keinen Geschmack mehr hatten!

Mitten im Garten standen einige prachtvolle, gelbe, große sammetartige Kaiserkronen. Wenn ich in ihre Nähe kam, wurde ich immer sehr feierlich gestimmt. Kaiserkronen! Ach, wie hübsch, wenn es irgendwo in der Welt einen Kaiser gäbe, der eine Krone trüge!

Ja, die mußte natürlich von Gold sein. Und dieser Kaiser hatte natürlich auch eine Kaiserin, und sie mußte ganz gewiß diesen Blumen gleichen und ein ebenso glänzendes gelbes Sammetkleid haben. Und ich verneigte mich tief vor den Kaiserkronen und hatte Audienz, und sie nickten mir mit ihren großen goldenen Kronen zu, und der Wind wehte den Goldstaub auf die Blätter herab. Ja, das war mein Kaiserhof, und ich glaube kaum, daß irgendein Kaiserhof, wenn ich mal einen zu sehen bekäme, was mir aber gewiß nicht zuteil werden wird, einen herrlicheren Eindruck auf mich machen würde. Ich zweifle daran, ob er mir so imponieren würde, wie der Kaiserhof im Festungsgarten in seiner goldenen Pracht.

Unten in einer Ecke des Gartens war ein Häuschen – ein kleiner Pavillon in altem Stil, hier hatten wir Tee- und Schokoladegesellschaften, besonders wenn die beiden niedlichen Cousinen aus der Küstenstadt im Sommer zum Besuch kamen.

Dann wurde ich immer zu einer Sommergesellschaft eingeladen. Wir waren eine ganze Menge kleiner Mädchen, die auf dem großen Burghof spielten und herumsprangen und wie große bunte Schmetterlinge um den Wall und den Platz herumflogen.

Einmal war ich allein zur Schokolade im Pavillon eingeladen, als die Cousinen da waren. Er war überall mit Laub und Blumen geschmückt, und ein hübscher Tisch stand gedeckt und darauf zwei große Schalen voll der köstlichsten Heidelbeeren, die ersten, welche die Knaben gepflückt hatten. Das sollte unser Dessert sein. Aber als wir uns davon nehmen sollten und den Löffel in die Heidelbeeren hineinstachen, ertönte lautes Jubelgeschrei. Die eine Schale war voll großer Gartenerdbeeren und die andre mit goldenen Berghimbeeren gefüllt. Es war Erik, der es sich ausgedacht hatte, daß sie unter den Heidelbeeren versteckt werden sollten. Er stand in der Tür, lachte uns vergnügt an und freute sich darüber, daß seine Überraschung so gut gelungen war.

Ich meinte, der Garten nähme kein Ende. Er erstreckte sich bis weit zum Wald hinunter, wo er von den Bäumen der Wildnis begrenzt wurde. Eschen und Erlen, Vogelbeer- und Traubenkirschbäume standen hier höchst vertraulich auf einem grünen, weichen Teppich mit Millionen Anemonen zusammen, die auf ihren schlanken Stengeln nickten und ihre Köpfchen über den eigenen Liebreiz, den sie am liebsten vor aller Augen verbergen wollten, errötend senkten.

Deshalb liebe ich die Anemonen von allen Frühlingsblumen am meisten, weil es immer aussieht, als träumten sie einen lichten, entzückenden Elfentraum ganz allein für sich, während sie auf ihrem feinen rötlichen Stil mit den graziösen dunkelgrünen Blättern hin und her gewiegt werden. Wenn wir uns den steilen Hügel dann wieder hinaufgekrabbelt hatten, zu dem der Weg in kleinen Schlangenwindungen hinaufführte, kamen wir zum Gänseteich, der gerade unter dem großen Walle lag. Von dem Teich ging die Sage, daß derjenige, der darin ertränke, nie wiedergefunden würde, und der Teich war so tief, so tief, daß man niemals beim Loten auf Grund gestoßen war. Er ging vielleicht quer durch die Erde, hatte einer der Aufseherjungens gesagt; aber daran zweifelte ich doch ein wenig, denn ich meinte, dann müßte das Wasser ja auf der andern Seite herauslaufen, so daß nur ein großes Loch quer durch die Erde übrig bliebe. Und dann könnten auch weder Enten noch Gänse darauf schwimmen, wie es jetzt geschah, wo sie in der Sonne auf dem Wasser lagen, mit ihren glänzenden blauen und braunen Federn weithin leuchteten und von uns allen gefüttert wurden.

Gleich oberhalb des Gartens war auch die Öffnung zu einem unterirdischen, langen, dunklen Gange, der mit einem tiefen Brunnen endete.

O, ich war so schrecklich bange da unten, aber riesig lustig war's natürlich doch, hineinzugehen, und ich war nie auf der Festung, ohne ein paarmal in dem unterirdischen Gange gewesen zu sein. Ich wagte nie als erste zu gehen, nein, das mußte einer der Knaben tun. Wir gingen einer hinter dem andern her und tasteten uns an den kalten feuchten Mauerwänden vorwärts. O, wie dunkel es hier war, nicht den kleinsten Lichtschimmer konnte man sehen! Plötzlich blieben wir stehen, »hier ist der Brunnen,« rief einer der Knaben, und wir fühlten einen kalten Luftzug und hörten etwas in der Nähe rieseln – das dunkle, schwarze Wasser – noch ein Schritt, und wir wären verloren gewesen. Es geht mir noch kalt durch, wenn ich an das leise Seufzen der Quelle dort unter der Erde denke. Ach, niemals das Licht zu sehen, nie etwas von dem herrlichen Blau des Himmels widerspiegeln zu dürfen, o, das war ein gräßlicher Gedanke! Wir beeilten uns, wieder ans Tageslicht und in den Sonnenschein hinauf zu kommen. Das war wie ein Luftbad; wir stürmten jubelnd durch die hohen Gewölbe, die wie große Pforten quer durch die Mauer gingen, und dann bis ganz auf den großen schönen Platz oben auf die Festung hinauf.

Rings um diesen herum lagen sämtliche Gebäude. Zuerst die Wohnung des Kommandanten rechts, wenn wir heraufkamen, und unmittelbar daneben der Glockenturm. Dann große, hohe Arsenale, Magazine, die Wohnungen der Aufseher, und weiter unten das große Viehhaus, Stallungen und Scheunen; rings um das Ganze erstreckte sich der abschüssige, steile Wall, schwindelnd hoch, wenn man hinunterblickte.

Hier war es natürlich wundervoll zum Spielen. Hier bauten Nanna und ich eine hübsche kleine Küche aus Steinen, in der wir kochten und brieten. Es war fast, als schwebte man zwischen Himmel und Erde draußen auf dem Walle, von wo aus man sehen konnte, wie der Wind sausend über die Baumwipfel unter uns dahinfuhr, während diese je nach dem launenhaften Spiel des Windes bald hellbeleuchtet waren, bald im Schalten lagen. Ich meinte, es könnte nichts Schöneres geben, als dahinzufliegen und wie ein großer Vogel über die Baumwipfel hinweg zu tanzen. Wenn ich Nanna bisweilen so etwas vorschlug, sah sie mich mit großen erschrockenen Augen an. »Bist du von Sinnen, du würdest ja tot fallen!«

Gibt es wohl etwas Herrlicheres, als auf einer Höhe zu stehen und über ein Meer von weichen Baumwipfeln, die sich im Sommerwind neigen und wiegen, hinauszuschauen, während die Blätter säuseln und miteinander flüstern, wie schön es ist, ein frisches lebendes Blatt zu sein!

War es aber unten im Festungsgarten abenteuerlich und draußen auf dem Walle hinreißend schön, so war es in der kleinen, niedrigen weißen Kommandantenwohnung, wo Erik und Hanna wohnten, nicht weniger poetisch.

Ihr Vater war nämlich Kommandant der Festung und hatte Hauptmannsrang. Er war ein großer stattlicher Mann von militärischem Aussehen und hatte einen großen grauen Knebelbart. Aber trotz dieses martialischen Äußeren strahlte sein Gesicht von lauter Wilde und Güte, und in seinen lieben Augen unter den dicken buschigen Augenbrauen war stets ein eigenartiges schelmisches Aufleuchten.

Wenn Nanna und ich zusammenspielten, kam er oft mit den Händen auf dem Rücken anmarschiert und konnte dann lange Zeit bei uns stehen und uns zuschauen und hatte stets einen Scherz bereit.

Nannas Mutter war nicht weniger anziehend. Sie war eine kleine, feine Dame, sehr sanft und still, und ein milder wehmütiger Ausdruck, lag über ihrer ganzen Persönlichkeit. Ich meinte immer, es schwebe etwas Feines um sie her wie ein Schleier. Sie sprach nie laut und heftig, sondern gedämpft und weich – da hört man auch am besten. Sie wirkte wie eine sanfte Melodie, die in der Ferne erklingt.

Das waren Eriks und Nannas Eltern.

Nanna war meine beste Freundin. Alle Freundinnen sind übrigens einmal »beste« Freundin, und das ist wunderschön, denn das erlebt man nie wieder.

Nanna war die einzige Tochter; sie hatte ganz helles Haar, das wie Silber glänzte, und helle blaue Augen mit einem ernst fragenden Ausdruck. Nanna war wie Mondschein und paßte vortrefflich zum Burgfräulein.

Wie viele Brüder hatte sie eigentlich? Ich glaube, es waren ihrer sechs; ihr könnt also begreifen, daß sie wie eine kleine Prinzessin betrachtet wurde.

Wie hießen die Brüder noch alle? Zuerst kam wohl Andreas, dann Fredrik, Julius, Erik und Nilsmännchen. Aber das sind ja erst fünf. Ja, dann waren es auch nur fünf. Sechs mit Nanna, das stimmt.

Es war etwas Besonderes mit dem Heim und den Menschen da oben, sie waren nicht wie andre, sie lebten und dachten anders.

Nanna war eine etwas verschlossene, schüchterne Natur, sprach wenig, dachte aber um so mehr. Die Knaben führten ein herrliches freies Leben da oben. Es war fast, als hätten sie ein Stück Natur mit in die Kommandantenwohnung hineingetragen.

Was hatten sie für merkwürdige Lachen! Und was sammelten sie alles! Steine und Moos und seltene Blumen, kleine weiße Mäuse, Eichhörnchen und eine Menge Vögel fanden sich im Zimmer der Knaben vor.

Wenn ich jetzt daran denke, meine ich, es war genau so, wie Henrik Wergeland es in seiner »Bude« hatte, als er jung war. Die »Festungsknaben«, wie sie immer genannt wurden, hatten diese starke Liebe zu allem Leben in der Natur, womit sie auch ihr Heim anfüllten und demselben ein so eigenartiges Gepräge gaben. Denn nichts drückt einer Häuslichkeit so schnell einen gewissen Stempel auf, als wenn diejenigen, die darin leben, die Natur lieben. Einer der Knaben wurde dann auch ein sehr hervorragender Landwirt – das war Fredrik.

Unten im Vorraum zum Eßzimmer befand sich ein Wandschrank; Nanna und ich hielten uns meist hier auf, kochten Puddings, streiften Traubenkirschen ab und taten uns an allem gütlich, was Nannas Mutter uns mit milder Hand gab.

Dann kam wohl einer der Knaben aus seinem Zimmer heraus, blieb bei uns stehen und schaute uns eine Weile zu, neckte uns natürlich und gab uns gute Ratschläge. Solche Mädchenspiele wollten sie selbstredend nicht mitspielen. Oder Erik kam mit einem Kragenmuster zu uns, um das wir ihn gebeten hatten, er möge es uns aufzeichnen.

Damals waren nämlich kleine, weiße, klare Kragen, die vorn in einer Spitze über den Halskragen fielen, äußerst modern, und keiner konnte so hübsche Muster mit feinen Verschlingungen und Blumen zeichnen, wie Erik.

Ich habe es oft bedauert, daß ich sie nicht aufbewahrte; es könnte recht hübsch sein, wenn ich die Kragenmuster, die Erik zeichnete, jetzt hätte.

Unmittelbar vor dem Eßzimmer auf dem Wall lag ein schöner kleiner Garten, wie ich mir einbildete, im Rokokostil, mit wunderbar geschwungenen Beeten, die mit großen, hellroten Muscheln eingefaßt waren. Hier hatte Nannas Mutter eine Auswahl der schönsten Blumen. Oben auf dem Wall war ein Gartenhäuschen mit einer großartigen Aussicht nach Süden hin über die Stadt und den Jaren, den Vingersee und die Höhen in der Ferne. Hinter dem Gartenhäuschen war eine kleine Pforte, die gerade auf den Glockenturm zuführte; wir paßten immer auf, um zur Hand zu sein, wenn der Wächter um 5 und um 8 Uhr läuten sollte – wie um die ganze Stadt zu wecken.

Vom Vorzimmer kamen wir in einen großen Saal, dessen Fenster auf der einen Seite nach dem Wall hin, auf der andern nach dem Burghof hinausgingen. Hier pflegten wir im Winter zu tanzen. Auf jeder Seite des Saales war ein kleines Kabinett, von denen jedes in seiner Weise meine Phantasie sehr beschäftigte. In dem einen, welches nach dem Festungsplatz zu lag, stand nämlich eine weiße Marmorvase, die etwas vom Schönsten war, was ich je gesehen habe. Auf ihrem obersten Rande, der wie eine Schale gebildet war, saßen drei Tauben mit gesenkten Flügeln. Diese Vase gab mir den ersten Begriff von der Bildhauerkunst und machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich. Sie wurde mir gleichsam ein Symbol für das Höchste, was ich mir denken konnte.

Die Vase mit ihren Tauben versinnbildlichte vielleicht die heilige Taufe, bei der ja auch eine Taube vorkam. Oder die Tauben konnten auch drei schöne Engel vorstellen, die zur Erde herabgestiegen und zu Tauben geworden waren, und die drei Engel würden Glaube, Liebe, Hoffnung heißen. Und hieran zu denken, war gerade so schön für mich wie in der Kirche zu sein und dort die Tauben zu sehen. Aber Nanna erzählte, daß die Vase einmal auf dem Tisch gestanden hätte, als der König und die Königin zum Mittagessen auf der Festung gewesen waren, und damals wäre sie ganz voller Rosen gewesen!

Ich sah sofort den ganzen Tisch mit der Königin im weißen Seidenkleide und der Goldkrone auf dem Haupte vor mir. Sie streckte ihre feine Hand aus, nahm eine rote Rose und befestigte sie an ihrer Brust, während sie ganz leise über die Flügel der Taube hinstrich. Und plötzlich bekam die Taube Leben, flog auf und setzte sich auf die Schulter der Königin, und ich streichelte die Tauben im stillen und dachte, wie schön es sein müßte, wenn sie plötzlich aufflögen.

Aber einmal, als ich davor stand und mich über die herrliche Vase freute, lachte jemand und fragte, ob ich mich spiegelte! O, wie beschämt ich wurde!

Die Vase stand nämlich vor einem großen vergoldeten Spiegel mit eleganter Marmorkonsole. Aber mich zu spiegeln – nein – daran hatte ich wirklich nicht gedacht. Ich wurde nur all zu oft damit geneckt, daß ich so hoch aufgeschossen und mager und häßlich sei, und dann mit einer solchen Nase mit dem Faden drum – nein, das war doch wirklich nichts, was mich zu sehen gelüsten konnte. Seitdem wagte ich die Vase mit den Tauben und der Taufe und der Königin nur aus der Entfernung anzubeten.

Aber auf der andern Seite des großen Saales der Kommandantenwohnung lag ein kleines Zimmer mit altmodischen, wunderbaren, grünen Tapeten, auf denen Hirten und Hirtinnen, Kühe und Schafe abgebildet waren, die vor einem entzückenden Schlosse lagen und sich ausruhten.

Dies Zimmer war wie das Allerheiligste der ganzen Festung, denn hier bewahrte Erik alle seine fertigen Zeichnungen in großen Mappen auf und hier herein zu kommen und sie zu besehen, war das Schönste, was wir wußten.

Denn Erik, das war ein Junge, der zeichnen konnte! Das kann ich euch sagen! Und er zeichnete nicht bloß Kragenmuster! O, nein!

Seine Mappen enthielten eine ganze Zauberwelt von Leben und Kunst. Diese Pferde und Kühe – und diese Menschen! Gerade so, als sähe man sie leibhaftig vor sich – nur waren sie für uns noch viel amüsanter. Erik war wohl zu jener Zeit ungefähr fünfzehn Jahre alt. Er war lang und schmal, hatte eine helle Gesichtsfarbe und helles Haar, war etwas verschlossen, hatte aber einen klugen Ausdruck in seinen hellblauen Augen. Es war als ob diese Augen immer an einem vorbei schauten, wie in weite Fernen hinaus und als ob sie dort nach etwas suchten. Ich glaube so ganz anwesend bei dem, womit wir andern uns in Gedanken beschäftigten, war er nie. Jedenfalls nicht mit den Augen. Es geht einigen Menschen so. Sie denken, fühlen und leben wie in ihrer eigenen Welt, von der kein anderer eine Ahnung hat, sie sprechen nie selbst davon, nur ihre Augen verraten es.

Aber die Zeichnungen, die sprachen von Eriks Welt.

Oh, diese Freude, wenn er sich an den Tisch in die Ecke des Kabinetts setzte und alle seine Zeichnungen ausbreitete! Er war nicht immer dazu geneigt, sie uns zu zeigen, aber wenn wir ihn recht schön darum baten, so erlaubte er es uns endlich, sie zu sehen, und dann zeigte und erklärte er sie uns stets ganz genau. Dann kam auch wohl der Hauptmann herein, spazierte eine Weile auf und ab mit den Händen auf dem Rücken, blieb bei uns stehen und sah zu. Sein freundliches Gesicht glänzte von väterlicher Freude und Stolz, während Eriks heller Zopf sich über die Mappen beugte und immer wieder etwas Neues herausfand.

»Du willst wohl Maler werden, Erik, du zeichnest ja so gut?« sagte ich einmal.

Doch da lachte er nur in seiner stillen, etwas versonnenen Weise und legte seine Zeichnungen fort.

Aber der Hauptmann lächelte und klopfte mir auf die Schulter.

»Ja, ja, du, wer weiß, wer weiß? Aber jetzt müßt ihr kleinen Mädels hinaus und das Fohlen besuchen.«

Das Fohlen war ein schöner, junger, brauner Hengst, unser aller Liebling. Er wurde immer mit Brot und Zucker draußen vor der Flurtreppe gefüttert.

Eines schönen Tages, als gerade niemand da war, spazierte das Fohlen direkt auf den Flur und machte einen so schrecklichen Lärm, daß das ganze Haus zusammenlief, um zu sehen, was los war. Da stand das Fohlen und wieherte ganz vergnügt zum größten Amüsement aller Anwesenden.

Einmal war Erik und einige andre Knaben zum Besuch auf dem Jaren gewesen. Als wir abends nach Hause fuhren, kamen wir an einer kleinen Hütte vorüber, die dicht am Wege lag. Ich sehe sie noch; sie war so ärmlich und verfallen, mit einer kleinen Birke auf dem Dach und ein wenig Kleinwald ringsherum.

Da sagte Erik: »Könnte ich die Hütte da genau so malen, wie sie da steht, verstehst du, so würde ich ein berühmter Maler werden.«

»Ja, aber du könntest wohl etwas Schöneres malen,« sagte ich.

»Darauf kommt es nicht an,« meinte Erik, und wieder blickte er gleichsam vorbei und weiter fort in die Ferne. Damals verstand ich das ja nicht, aber jetzt verstehe ich's.

Dieser sein Blick auf die Natur, seine treue Wiedergabe derselben und seine Liebe zu ihr haben ihn zu dem gemacht, der er ist. Denn er heißt Erik Werenskiold und ist jetzt einer unsrer größten Maler.

Nie habe ich einen solchen Zauber vor den Gemälden eines anderen Malers empfunden wie vor Eriks.

In ihnen liegt das, was wir alle lieben, was unser aller innerstes Heiligtum ist – Liebe zur Heimat, zur Natur – mit unendlicher Treue und tiefstem Gefühl wiedergegeben. Es ist ihm Herzenssache – und ohne die wird man nie etwas wirklich Großes in der Welt.

Vor einigen Jahren war ich einmal im Frühling in Christiania. Pfui, es war so staubig und maikühl, so unruhig und geräuschvoll dort, daß man ganz wirr im Kopf davon wurde. Die Menschen liefen durcheinander, als ob die Welt Pfingsten untergehen sollte. Ich ging in eine Gemäldeausstellung hinein. Dort war es still und friedlich, fast keine Menschen, nur Kunst.

Da hing ein Gemälde von Erik.

Ich sah nur dies eine und konnte mich nicht davon losreißen; wie mit einem Zauberschlage wurde ich von dem Lärm und dem Staub und den Menschen weit hinweggetragen, dorthin, wo ich als Kind gespielt hatte.

Es war ein entzückendes Bild in all seiner Einfachheit. Wie es hieß, entsinne ich mich nicht, es war gewiß »Morgenstille«, oder etwas derartiges. Jedenfalls wirkte es wie ein Morgen, so frisch und unberührt. Zwei Pferde gingen weidend an einem kleinen Wasser, im Hintergrund ein waldbedeckter Bergrücken mit dämmerndem Morgenlicht dahinter. Welch eine Stille, welch ein Frieden lag darüber!

Die Pferde gingen so zufrieden in dem hohen Grase, es war, als ob man den frischen Wiesenduft, der über dem Ganzen lag, fühlen und sehen konnte.

Wie mich dies an alles oben auf der Festung erinnerte, wo Erik als Knabe gespielt hatte. Da verstand ich sofort, wie seine Kunst durch die ihn dort umgebende Natur ihre Weihe erhalten hatte, und wie er den Erinnerungen seiner Kindertage treu geblieben war.

Mir traten die Tränen in die Augen, als ich da saß und das Bild betrachtete und mich in die Kindheit zurückträumte; denn so ist es mit aller großen Kunst: sie verleiht den Menschen gleichsam Schwingen, die uns weit über den Staub und die Mühen des Alltagslebens hinwegtragen. Ja, Erik wurde ein großer Künstler, eine Ehre für sein Land, dessen Natur und Volksleben er wie kein anderer wiedergegeben hat.

Und nichts konnte wohl geeigneter sein, einen großen Künstler zu erziehen als sein Heim, wo Bildung, Liebe und feines Verständnis einem jedesmal, wenn man die Schwelle der Kommandantenwohnung der Festung Kongsvinger überschritt, wie ein Hauch von einer höheren Welt anwehten. Ja, so stehen die Erinnerungen an Eriks und Nannas schönes, glückliches Kindheitsheim, wo ich so manche frohe Stunde verlebte und mit dem meine glücklichsten Kindheitserinnerungen verknüpft sind, vor meiner Seele.

Wie ein schöner Traum, den man gern wieder aufleben läßt, wird dies Heim immer vor mir stehen, bekränzt von dem heiligen Frieden der Natur dort oben – den blauenden Bergen, dem Strom und der großen Waldesstille, die mich auf den Traumesflügeln des Kindes hinwegtrugen – wie ich es alles eines Tages in Erik Werenskiolds schöner Kunst verklärt wiederfand.

* * *


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